Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Fünfzehntes Kapitel

Eilwagen.

Wir haben schon oft gedacht, wir möchten wohl wissen, wie viele Monate unausgesetzter Reise in einer Postchaise dazu gehörten, einen Menschen umzubringen, und, diesem analog, wären wir wohl nicht weniger neugierig, zu erfahren, wie viele Monate ein solch' unglückliches Menschenkind, das zu einer anhaltenden Reise mit den verschiedenen Eilwägen verdammt wäre, es wohl aushalten könnte. Einen Menschen mit Einem Rade lebendig zu rädern, ist Nichts gegen den Mord seiner Ruhe, seines Friedens, seines Herzens – auf vier Rädern, und die Strafe Ixion's (des Einzigen, im Vorbeigehen gesagt, welcher das Geheimniß des Perpetuum mobile praktisch erfunden hat) würde im Gegensatze zu dem, was wir eben angedeutet haben, zu einem wahren Kinderspiele herabsinken. Wären wir in jenen guten alten Zeiten, wo man Blut wie Wasser vergoß und die Menschen gleich dem Grase hinmähte – Alles der geheiligten Sache der Religion zu Ehren – ein mächtiges Kirchenoberhaupt gewesen, so würden wir ganz ruhig gewartet haben, bis wir einmal so einen recht hartgesottenen Ketzer erwischt hätten, der sich schlechterdings nicht zu unserem Glauben bekehren lassen wollte. Diesen hätten wir dann in eine enge Kutsche gesteckt, die Tag und Nacht fährt, und dafür gesorgt, daß die übrigen Plätze von starken, wohlbeleibten Männern mit einiger Anlage zum Husten und Spucken besetzt worden wären, und so hätten wir ihn dann hinausgestoßen und seine Reise antreten lassen, ihn ohne Gnad' und Barmherzigkeit all' den Torturen überantwortend, welche Kellner, Wirthe, Kutscher, Conducteure, Zimmermägde, Hausknechte und andere dergleichen hinreichend bekannte Quälgeister des Reisenden über ihn zu verhängen für gut gefunden haben würden.

Wer hat wohl nicht schon die Widerwärtigkeiten erprobt, die mit einer unerwartet schnell nothwendig gewordenen Reise verbunden sind? Du erhältst eine Nachricht von einem Orte, mit dem du in Geschäftsverbindung stehst – ohne Rücksicht auf seine Entfernung oder deine Person – so daß du die Stadt ohne Verzug verlassen mußt. Das ganze Haus kommt in Aufruhr, es wird sogleich ein Expresser nach der Waschfrau geschickt; Alles hat die Hände voll zu thun; Keines weiß mehr, wo ihm der Kopf steht; im Gefühle deiner Würde und Wichtigkeit, welche du doch nicht ganz verbergen kannst, eilst du selbst sofort auf das Postbureau, um dir einen Platz zu bestellen. Zum ersten Male überkommt dich hier das schmähliche Bewußtsein deiner eigenen Unbedeutsamkeit; die Leute sind so gleichgültig und ruhig, als ob kein Mensch die Stadt verlassen wollte, und als ob eine Reise von etwa hundert Meilen gar nichts wäre.

Du betrittst ein dumpfes Zimmer, worin große Posttabellen und Karten hängen; der größere Theil ist durch einen ungeheuren rohen Schreibtisch abgeschlossen, worauf Alles wie Kraut und Rüben untereinander liegt, und in Verschläge abgetheilt, gleich den Käfigen, in welchen die kleineren Thiere bei herumziehenden Menagerien außerhalb der Schranken eingesperrt sind. Ungefähr ein halbes Dutzend Personen beschäftigen sich damit, Packpapierpackete zu »buchen«, die einer der Schreiber in vorbesagte Verschläge mit einer Gleichgültigkeit hineinschleudert, die dich bei Erinnerung an die neue Reisetasche, welche du dir diesen Morgen gekauft hast, bedeutend ärgert. Packer, welche wie Atlasse aussehen, gehen mit großen Packen auf den Schultern aus und ein, und während du dich da aufhältst, um deine nöthigen Fragen vorzubringen, kommt dir der Gedanke, was wohl um's Himmels willen alle die Postamtsschreiber gewesen sein mögen, ehe sie Postamtsschreiber wurden. Einer von ihnen, die Feder hinter dem Ohre und die Hände auf dem Rücken, steht gleich einem Napoleon in Lebensgröße vor dem Kamine; der Andere, der den Hut nur halb auf dem Kopfe sitzen hat, trägt die Namen der Passagiere in ein Buch ein und sieht dabei so herausfordernd aus, daß es nicht zum sagen ist; ja, der Schlingel pfeift – pfeift wahrhaftig – während ihn ein Herr fragt, was es auf der Außenseite des Wagens nach Holyhead kostet! – Und dazu noch so frostiges Wetter! Augenscheinlich sind diese Leute eine ganz besondere Race, die mit den Gefühlen des übrigen Menschengeschlechtes offenbar nichts gemein hat. Endlich kommst du an die Reihe, und nachdem du die Taxe bezahlt hast, fragst du schüchtern: – »um welche Zeit werde ich wohl morgen früh da sein müssen?« – »Sechs Uhr,« erwiedert der Pfeifer und wirft sorglos den Souverain, den du ihm so eben gegeben hast, in eine hölzerne Lade an dem Schreibtische. »Eher früher, als später,« fügt der Mann mit den halbgerösteten Unaussprechlichen eben so ruhig und gleichgültig hinzu, als ob die ganze Welt um fünf Uhr aufstände. Im Nachhausegehen denkst du darüber nach, in welch' hohem Grade doch die Menschen durch die Macht der Gewohnheit bis zur Grausamkeit abgestumpft werden können.

Gibt es irgend etwas Widerwärtiges auf der Welt, so ist es unstreitig das, wenn man bei Lichte aufstehen muß. Bist du je noch darüber im Zweifel, so wirst du am Morgen deiner Abreise schrecklich enttäuscht werden. Vor dem Schlafengehen hast du den gemessenen Befehl gegeben, daß man dich um halb fünf Uhr wecken solle, hast dann die ganze Nacht nie länger anhaltend geschlummert, als höchstens fünf Minuten, denn du bist stets wieder aus einem fürchterlichen Traume erwacht, in dem du nichts gesehen hast, als die große Tafel einer Kirchenuhr, auf welcher der Zeiger mit erstaunlicher Schnelligkeit von Zahl zu Zahl forthüpfte. Endlich fällst du, vollständig erschöpft, allmälig in einen erfrischenden Schlaf; deine Gedanken verwirren sich, die Kutschen, die vor deinen Augen die ganze Nacht »weggegangen« sind, zeigen sich dir weniger und weniger bestimmt, bis sie endlich ganz weg sind; in dem einen Augenblick kutschirst du mit der Geschicklichkeit und Eile eines erfahrenen Postillons; auf einmal machst du Kunststücke à la Ducrow (bei Astley's); dann sitzest du wieder drinnen in der Kutsche, fest eingehüllt, und hast so eben in der Person des Conducteurs einen alten Schulkameraden erkannt, dessen Leichenbegängnisse du, wie dir sogar im Traume erinnerlich ist, schon vor achtzehn Jahren beigewohnt hast. Zuletzt fällst du in einen Zustand vollständiger Bewußtlosigkeit, aus dem du wieder durch eine ganz sonderbare Täuschung gleichsam in ein neues Dasein versetzt wirst – du bist bei einem Sattler in der Lehre, wie, oder wo, oder wann, oder weßhalb frägst du nicht; du machst aber gerade das Futter in den Deckel eines Mantelsackes. Der Henker soll den andern Lehrjungen holen, was der hinten in der Werkstätte hämmert! – Rap – rap – rap – was das für ein fleißiger Bursche sein muß! Du hast ihn schon seit einer halben Stunde arbeiten hören, und er hat die ganze Zeit über unaufhörlich d'rauf losgehämmert. Abermals rap, rap, rap, jetzt sagt er etwas – was hat er gesagt? Fünf Uhr! Du fährst heftig in die Höhe und richtest dich im Bette auf. Auf einmal ist das Traumgesicht verschwunden; die Sattlerswerkstätte ist dein eigenes Schlafzimmer und der andere Lehrjunge ist dein Diener, der sich schon seit einer Viertelstunde, auf die augenscheinliche Gefahr hin, entweder seine Knöchel oder die Thür entzwei zu schlagen, vergebens bemüht hat, dich zu erwecken.

Du springst aus dem Bette und kleidest dich so schnell als möglich an. Das flackernde Talglicht mit der großen Schnuppe gibt gerade Helle genug, um zu sehen, daß Alles, was du haben willst, nicht da ist, wo es hingehört, und es entsteht abermals ein dummer Verzug, denn du merkst jetzt erst, daß du in deiner Zerstreuung und Sorgfalt gestern Abend einen deiner Stiefeln sorgfältig mit eingepackt hast. Nichts desto weniger wirst du aber doch mit deiner Toilette bald fertig, denn bei solchen Gelegenheiten nimmt man es nicht so genau, und rasirt hast du dich ja gestern Abend. Nun ziehst du deinen Petershamrock und den grünen Reiseshawl an, nimmst deinen Reisesack in die rechte Hand und schleichst sachte die Treppe hinab, um Niemand von der Familie aufzuwecken. Nachdem du dich in dem Speisezimmer nur noch so lange verweilt hast, um eine Tasse Kaffee zu trinken (das Zimmer ist in merkwürdiger Ordnung, und sieht sehr einladend aus, denn da liegt Alles drunter und drüber, und die Ueberbleibsel des Nachtessens stehen noch überall herum), öffnest du Kette und Riegel der Hausthüre und bist nun endlich glücklich auf der Straße.

Es thaut – das ist eine schöne Geschichte! Die Kälte ist gebrochen und völliges Thauwetter eingetreten. Du siehst die lange Oxfordstraße hinab; die Gasbeleuchtung wirft ihr trauriges Licht auf das nasse Pflaster, und es läßt sich auch nicht das Geringste in der ganzen Straße entdecken, was zu der Hoffnung berechtigte, ein Cabriolet oder eine Miethkutsche anzutreffen; alle Kutscher haben sich in der Verzweiflung nach Hause gemacht. Regen und Schnee in lieblicher Verbindung rieseln so angenehm regelmäßig herab, daß sich wenigstens ein Anhalten von vierundzwanzig Stunden daraus schließen läßt; dichter Nebel liegt auf den Dächern und Laternenpfosten, und hängt sich gleich einem unsichtbaren Mantel an dich an. Der Boden ist überschwemmt, die Wasserleitungen sind geborsten, alle Wasserbehälter laufen über – die Rinnen sind nicht mehr groß genug, den Zufluß zu fassen, die Handgriffe der Pumpen fallen auf eigene Faust herab, die Pferde an den Marktkarren stürzen hin, und Niemand ist da, ihnen wieder auf die Beine zu helfen; Polizeidiener sehen aus, als ob man sie mit gestoßenem Glas bestreut hätte; hie und da schleicht ein Milchweib über die Straße, um jeden Fuß ein Stück Sahlband gewickelt, damit sie nicht ausgleite; Lehrjungen, »die nicht im Hause schlafen,« aber auch außer dem Hause nicht viel schlafen dürfen, können trotz alles Donnerns gegen die Ladenthüre ihre Herren nicht erwecken und jammern vor Kälte; ein Gemengsel von Eis, Schnee und Wasser liegt ein paar Zolle hoch auf dem Pflaster; Niemand wagt es, rasch zu gehen, um sich warm zu machen; es könnte sich aber auch Niemand warm erhalten.

Es schlägt ein Viertel nach Fünf, wie du dich mühsam über den Waterlooplatz auf deinem Wege nach dem Golden Cross arbeitest, und du bemerkst nun erst, daß du um eine ganze Stunde zu früh daran bist. Zum Wiederumkehren ist keine Zeit mehr; es ist nirgends offen, wo du hingehen könntest, und es bleibt dir deßhalb keine Wahl, als vorwärts zu gehen, was du auch thust, mit dir selbst sowohl als mit Allem um dich her merkwürdig zufrieden. Du kommst endlich an dem Postbureau an, und spähst sehnlich in dem Hofe nach dem Birminghamer High-Flier. Aber da scheint Alles ausgestorben; denn so viel du sehen oder vielmehr nicht sehen kannst, scheint er schon ausgeflogen zu sein, denn man sieht auch nicht die geringste Vorbereitung, welche auf die Abfahrt irgend eines Fuhrwerks, was einer Kutsche gliche, schließen ließe. Du gehst in die Schreibstube, deren Gasbeleuchtung und loderndes Feuer einen angenehmen Contrast gegen den Zustand auf der Straße bilden; es sieht hier ganz comfortable aus – das heißt, wenn es irgend einen Ort gibt, der an einem Wintermorgen um halb sechs Uhr überhaupt comfortable aussehen kann. Da steht derselbe Buchhalter noch in derselben Stellung, wie gestern, als ob er, seit du ihn das letzte Mal gesehen, kein Glied gerührt hätte. Nachdem er dir mitgetheilt, daß die Kutsche im Hofe stehe und in einer Viertelstunde vorfahren werde, lässest du deine Reisetasche da und begibst dich zur »Schenke« – nicht in der Meinung, dich zu wärmen, denn das wäre eine abgeschmackte und vergebliche Hoffnung, sondern in der Absicht, dir einigen warmen Grog zu verschaffen, was dir auch gelingt, sobald der Kessel siedet – ein Umstand, der aber erst eintritt, wann es gerade noch zwei und eine halbe Minute bis zu der Zeit hin ist, wo du an dem Wagen sein sollst.

Der erste Schlag von Sechs tönt vom Thurme der St. Martinskirche, just wie du die heiße Flüssigkeit an den Mund setzest. In zwei Sekunden befindest du dich im Postamte, und zur selben Zeit befindet sich der Kellner in der Schenke noch besser bei deinem heißen Grog. Der Wagen ist da, die Pferde auch; der Kondukteur und zwei oder drei Träger sind mit Aufpacken beschäftigt, und rennen in athemloser Schnelligkeit auf und ab. Der Platz, wenige Minuten vorher noch so still und ruhig, ist nun voller Lärm; die Verkäufer der Morgenblätter sind auch schon da, und du wirst von allen Seiten mit dem Geschrei angefallen: »Times, Gen'l'm'n, Times,« »hier ist Chron – Chron – Chron,« »Herald, Ma'am,« »sehr interessante Mordthat Gen'l'm'n,« »kuriose Geschichte eines zurückgegangenen Verlöbnisses, meine Damen,« etc. etc. Die Passagiere der Innenseite sind bereits eingepfercht und die der Außenseite suchen sich, mit Ausnahme deiner selbst, durch Auf- und Abgehen warm zu machen; es sind zwei junge Männer mit sehr langen Haaren, welchen Regen und Frost das Ansehen von krystallisirten Rattenschwänzen gegeben haben, ein schmächtiges, frostig und mürrisch aussehendes, junges Frauenzimmer, ein ditto alter Herr und ein Ding in Mantel und Mütze, was einen Officier vorstellen soll; alle haben sich ein großes steifes Halstuch um das Kinn gebunden, und Jeder sieht darin aus, als ob er ein Stück auf der Panspfeife blasen wollte.

»Das Spritzleder auf, Bob,« sagt der Kutscher, der sich nun zum ersten Mal in seinem großen, blauen Oberrock, an dem hinten die Knöpfe so weit auseinander stehen, daß du nicht im Stande bist, beide zu gleicher Zeit zu sehen, präsentirt. »Nun Gen'l'm'n,« ruft der Kondukteur, mit der Postliste in der Hand, »'s ist schon fünf Minuten über die Zeit.« Die Passagiere klettern hinauf – die beiden jungen Männer dampfen gleich Kalköfen und der alte Herr brummt sehr vernehmlich. Der jungen Dame wird durch vieles Schieben, Halten und Heben nicht ohne Anstrengung auf das Dach hinauf geholfen, wofür sie mit der feierlichen Erklärung dankt, daß sie nicht mehr im Stande sein werde, wieder herunterzukommen.

»Alles recht!« ruft der Kondukteur endlich, springt hinauf, so wie angefahren wird, und stößt gleich darauf in sein Horn, zum Zeichen, daß sein Blasbalg in gutem Stande ist. »Laß die Zügel gehen, Harry,« ruft der Kutscher, »laß fahren!« und davon geht's. Wir beginnen unsere Reise so frisch und lebhaft, als ob mit dem Morgen auch »Alles recht« wäre, wie mit dem Wagen, und sehnen uns eben so ängstlich nach dem Ziel unserer Reise, wie unsere Leser schon lange dem Schlusse unseres Aufsatzes entgegengesehen haben werden.



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