Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Fünftes Kapitel

Seven Dials.Die sieben Sonnenuhren. Ein Platz, in dessen Mittelpunkt eine Säule mit sieben Sonnenuhren steht, deren jede nach einer der hier sich concentrirenden Straßen gerichtet ist.

Wir sind immer der Meinung gewesen, wenn Tom King und der Franzose Seven Dials nicht unsterblich gemacht hätte, so würde sich Seven Dials selbst unsterblich gemacht haben. Seven Dials! Die Gegend des Gesangs und der Dichtkunst – Erstlingsfrüchte und Schwanenlieder: geheiligt durch die Namen Catnac und Pitts – Namen, welche unmittelbar mit Obsthändlern und Drehorgeln zusammenhängen, wenn die Pfenningmagazine die Pfenningliederbögen verdrängt haben werden und die Todesstrafe nicht mehr sein wird!

Werft einen Blick auf die Gestaltung des Platzes. Der gordische Knoten war gewiß einzig in seiner Art: deßgleichen war es das Labyrinth von Hampton-Court: deßgleichen ist es das Labyrinth von Beulah-Spa: deßgleichen waren es die Zipfel der steifen weißen Halsbinden, bei denen die Schwierigkeit, sie zu knüpfen, nur mit der offenbaren Unmöglichkeit, sie wieder aufzulösen, verglichen werden konnte. Aber welche Verwicklungen können denen von Seven Dials an die Seite gesetzt werden? Wo gibt es noch ein solches Labyrinth von Straßen, Höfen, Gassen und Winkeln? Wo noch eine solche reine Mischung von Engländern und Irländern, als in diesem verwickelten Theile von London? Wir behaupten es frei, daß wir die Wahrhaftigkeit der Legende bezweifeln, auf die wir die Aufmerksamkeit gelenkt haben: wir können uns einen Mann denken, der vorschnell genug ist, in einem Hause mit Miethsleuten auf's Gerathewohl nach einem Herrn Thompson zu fragen, während er an Alles denkt, nur nicht an die Gewißheit, in einem Hause von mäßigem Umfang wenigstens zwei oder drei Thompson's zu finden; aber einen Franzosen – einen Franzosen in Seven Dials! Pah! Es war ein Irländer. Tom King's Erziehung war in seiner Kindheit vernachlässigt worden, und da er nicht die Hälfte von dem verstand, was der Mann sagte, so hielt er es für ausgemacht, der Mann spreche französisch.

Der Fremde, welcher sich zum erstenmale in Seven Dials befindet und gleich Belzoni am Eingange von sieben dunkeln Durchgängen steht, ohne zu wissen, welchen er zu wählen habe, sieht genug vor sich, um seine Neugierde und Aufmerksamkeit auf geraume Zeit wach zu halten. Aus dem unregelmäßigen Viereck, in das er getreten ist, laufen die Straßen und Höfe strahlenförmig nach allen Richtungen, bis sie sich in dem ungesunden Dunste verlieren, der auf den Häusern liegt und die dunkle Perspective mit schwankenden Umrissen begränzt; und in jeder Ecke stehen Individuen, deren Persönlichkeit und Wohnung jeden Menschen, außer einen eingefleischten Londoner, mit Entsetzen erfüllen würde, gruppenweise versammelt, als wären sie hieher gekommen, um einige Züge jener frischen Luft zu erschnappen, die ihren Weg so weit hin gefunden hat, aber bereits zu erschöpft ist, um sich noch in die schmalen Nebengäßchen hineinzuzwängen. Auf der einen Seite hat sich eine kleine Truppe um ein paar Damen versammelt, welche im Lauf des Morgens verschiedene »Budel« Wachholder und Bittern in sich gesogen, endlich lange über einen gewissen Punkt der Hausordnung uneins geworden und eben im Begriff sind, den Streit durch Berufung auf's Faustrecht satisfactorisch beizulegen, wobei sich andere Damen, die in demselben Hause und in anstoßenden Gemächern wohnen, sehr interessiren, indem sie sämmtlich die eine oder die andere Seite begünstigen.

»Warum steckst du ihr nicht eine, Sara?« ruft eine halbgekleidete Matrone aufmunternd. »Wenn mein Mann sie in der letzten Nacht mit einer Kanne bewirthet hätte, ohne mein Wissen, ich würde ihr die sauberen paar Augen aus dem Kopfe reißen – der Hexe!«

»Was ist los, Madame?« frägt ein anderes altes Weib, welches so eben auf den Kampfplatz gestürmt ist.

»Was los ist?« erwiederte die erste Sprecherin, ohne sich von der Kämpferin, welche der Stein des Anstoßes gewesen, abzuwenden. »Hier ist die arme, liebe Frau Sulliwin, welche fünf lebendige Kinder hat und daher eines Nachmittags nicht in's Taglohn kann; aber was für Vetteln müssen das sein, die hergehen und ihr ihren Mann abspannen, nachdem sie zwölf Jahre verheirathet ist – nächsten Ostermontag jährt sich's, ich sah das Certificat erst letzten Dienstag, als ich eine Schale Thee mit ihr trank. Ich sage so unter Anderem, ›Frau Sulliwin‹ sage ich – –«

»Was wollen Sie mit den Vetteln?« unterbricht sie eine Schildträgerin der andern Partie, welche eine starke Neigung an den Tag gelegt hat, auf eigene Rechnung einen Nebenkampf zu eröffnen.

»Holla,« ruft ein Laufbube episodisch, »schlag' ihr den Schlüssel in den Kopf, Marie!«

»Was wollen Sie mit den ›Vetteln‹?« wiederholte die Schildträgerin.

»Nichts,« erwiederte die Gegnerin mit Nachdruck. »Nichts; gehen Sie heim, und wenn Sie wieder nüchtern sind, so stopfen Sie Ihre Strümpfe.«

Diese gewissermaßen persönliche Anspielung, nicht nur auf die Neigung der Dame zur Unmäßigkeit, sondern auch auf ihre Garderobe, reizt ihren Zorn im höchsten Grade, und sie macht sich nach dem drängenden Aufruf der Umstehenden »los!« durch große Tätigkeit Luft. Das Handgemenge wird allgemein und schließt, um die Phraseologie der Comödienzettel in Anwendung zu bringen, mit »Auftreten der Polizei; das Innere des Amthauses und interessante Entwickelung

Außer den zahlreichen Gruppen, welche um die Schnappsbuden herumstehen und sich mitten auf der Straße streiten, hat jeder Pfosten auf dem offenen Raume seinen Eckensteher, welcher sich stundenlang regungslos daran lehnt. Es ist seltsam genug, daß eine gewisse Klasse von Menschen in London keinen andern Genuß zu haben scheint, als sich an einen Pfosten zu lehnen. Wir sahen noch nie einen gewöhnlichen Maurergesellen eine andere Erholung genießen, wir müßten denn das Balgen ausnehmen. Geht man an einem Wochentagabend durch St. Giles's, so stehen sie da in ihren mit Ziegelmehl und Tünche besprenkelten Barchentkleidern und lehnen sich an einen Pfosten. Geht man an einem Sonntagmorgen durch Seven Dials, so stehen sie da, in ihren Hosen von grobem Tuch oder leichtem Corduroy, ihren Blücherstiefeln, blauen Röcken und großen gelben Westen, und lehnen sich an einen Pfosten. Es ist etwas Seltsames, sich einen Mann in seinen besten Kleidern Tag für Tag an einen Pfosten gelehnt denken zu müssen.

Der eigenthümliche Charakter dieser Straßen und die auffallende Aehnlichkeit, welche die eine mit der andern hat, ist keineswegs dazu geeignet, das Erstaunen zu vermindern, in welches der Neuling gesetzt wird, der Seven Dials durchwandert. Er kommt durch schmutzige Straßen, an regellos zerstreuten Häusern und dann und wann an einem unerwarteten Hofe vorüber, der aus Gebäuden besteht, die eben so sehr allen Verhältnissen und Schönheitsregeln spotten, wie die halbnackten Kinder, die sich in den Gossen wälzen. Hie und da trifft er einen finstern Kramladen mit einer zerbrochenen Schelle hinter der Thüre, um den Eintritt eines Kunden anzukündigen oder die Anwesenheit eines jungen Gentleman zu verrathen, in welchem sich schon von Kindheit an eine Vorliebe für Ladenkassen entwickelt hat; dann wieder andere Häuschen, die sich, um nicht umzufallen, an ein schönes, hohes Gebäude lehnen, welches die Stelle eines niederen, rauchfarbenen Wirthshauses usurpirt; lange Reihen von zerbrochenen und geflickten Fenstern, hinter welchen Pflanzen, die zur Zeit der Erbauung von Seven Dials geblüht haben mögen, in Töpfen paradiren, die eben so schmutzig sind, als Seven Dials selbst; und Läden, in denen Lumpen, Knochen, alt Eisen und Kochhäfen verkauft werden, und die an Reinlichkeit mit den Vögel- und Kaninchenbuden wetteifern, die man für eben so viele Käfige halten könnte, wobei sich jedoch der Gedanke von selbst aufdrängen müßte, daß kein Vogel, dem es gestattet würde, sie zu verlassen, je wieder freiwillig zurückkehren würde. Trödlerbuden, welche aus der wohlwollenden Absicht errichtet worden zu sein scheinen, verlassenen Wanzen eine Zufluchtsstätte zu gewähren, untermengt mit Ankündigungen von Tagsschulen, Pfenningtheatern, Petitionschreibern, Mangen und Tanzmusiken, vollenden das »Stillleben« des Ortes; und schmutzige Krämer, schlumpige Weiber, schmierige Kinder, fliegende Federbälle, knarrende Thürklopfer, rauchende Pfeifen, faules Obst, stinkende Austern, scelettartige Katzen, ausgehungerte Hunde und abgemagertes Geflügel bilden die heiteren Nebenpartien des Gemäldes.

Wenn das Aeußere der Häuser oder ein Blick auf ihre Bewohner nur wenig Anziehendes darbietet, so ist eine nähere Bekanntschaft mit diesen oder jenen nicht sehr darauf berechnet, den ersten Eindruck zu schwächen. Jedes Zimmer hat einen besonderen Miethsmann, und jeder Miethsmann ist durch dieselbe geheimnißvolle Fügung, welche einem Landgeistlichen den Spruch »seid fruchtbar und mehret euch« so angelegentlich an's Herz legt, gewöhnlich das Haupt einer zahlreichen Familie.

Der Mann im Laden ist vielleicht für Kost und Brennmaterial zu achtzehn Pencen täglich oder darüber abonnirt und wohnt nebst seiner Familie im Laden und im kleinen Hinterstübchen derselben. Dann ist hier ein irischer Taglöhner mit seiner Familie in der Hinterküche, und ein Hausirer, Kleiderausklopfer u. s. w., mit seiner Familie in der Vorderküche. Im Vorderzimmer des ersten Stocks wohnt ein weiterer Mann mit Frau und Familie, und im Hinterstübchen des ersten Stocks »ein junges Frauenzimmer, welches im Sticken und Kleidermachen Unterricht ertheilt«; sie spricht sehr viel von ihrem Freund und kann »durchaus keine Gemeinheit leiden«. Der zweite Stock und der übrige Theil der Miethsleute ist nur eine zweite Auflage des Erdgeschoßes, mit Ausnahme eines schäbig-gentilen Mannes im Hinterstübchen, der alle Tage ein halbes Nösel Kaffee aus dem anstoßenden Kaffeeladen holen läßt, wo man eine kleine Vorderhöhle mit dem prahlenden Namen Kaffeezimmer belegt, in welchen ob der Feuerstätte eine Inschrift zu lesen ist, die höflich bittet, »man möchte sogleich bezahlen, um allen Irrungen vorzubeugen.« Der schäbig-gentile Mann ist ein Gegenstand des Geheimnisses; aber da er in Abgeschiedenheit lebt, und man ihn außer seinem halben Nösel Kaffee, Pennylaiben und halben Schoppen Tinte nie etwas Anderes kaufen sah, als gelegentlich eine Feder, so ziehen seine Zimmernachbarn den Schluß daraus, es müsse ein Schriftsteller sein, und in den Dials sind Gerüchte im Umlauf, er schreibe Gedichte für Herrn Warren.

Wer an einem warmen Sommerabend durch die Dials wanderte und die verschiedenen im Hause wohnenden Weiber auf den Treppen miteinander plaudern sah, mußte beinahe auf den Gedanken kommen, sie lebten alle in der besten Eintracht, und ein partriarchalischeres Völkchen lasse sich gar nicht denken, als die Eingeborenen von Seven Dials. Aber ach! der Mann im Laden mißhandelt seine Familie; der Kleiderausklopfer dehnt seine gewerbliche Thätigkeit auch über sein Weib aus, das vordere Beletagezimmer hat eine tödtliche Fehde mit dem Vorderzimmer des zweiten Stocks, weil das Vorderzimmer des zweiten Stocks beharrlich über seinem (des Beletagezimmers) Kopfe tanzt, wenn sich die Bewohner desselben zur Ruhe gelegt haben. Das Hinterzimmer des zweiten Stocks kann die Kinder in der vorderen Küche nicht leiden. Der Irländer kommt alle andere Tage betrunken nach Haus und bindet mit Jedermann an; und die Bewohnerin des Beletagezimmers fängt bei jeder Kleinigkeit ein Geschrei an. Feindseligkeiten entspinnen sich zwischen Stockwerk und Stockwerk; sogar der Keller mischt sich darein. Frau A. bläut das Kind der Frau B., weil es »Gesichter schneidet.« Frau B. schüttet sofort Wasser über das Kind der Frau A., weil es »Schimpfnamen austheilt.« Die Männer kommen mit in's Spiel – der Streit wird allgemein – eine Schlägerei ist die Folge und ein Polizeidiener das Resultat.



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