Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Zweites Kapitel

Der Abend in den Straßen.

Aber die Straßen von London müssen, um sie in ihrem eigentlichen Glanzpunkte zu sehen, an einem dunklen, trüben, düstern Winterabende besucht werden, wenn sich gerade genug Duft auf den Boden senkt, um das Pflaster schlüpfrig zu machen, ohne es von irgend einer seiner Unreinigkeiten zu säubern, und wenn der schwere, träge Nebel, der auf jedem Gegenstand liegt, das Licht der Gaslampen und die brillante Beleuchtung der Kaufläden durch den Contrast gegen die ringsum herrschende Dunkelheit stärker hervorhebt.

Wer an einem solchen Abende zu Hause ist, scheint geneigt, es sich so bequem und behaglich als möglich zu machen, und diejenigen, welche auf der Straße sind, haben triftige Gründe, die Glücklichen zu beneiden, welche vor ihrem Kamine sitzen.

In den breiteren und besseren Straßen sind die Fenster der Speisezimmer dicht verhängt, das Feuer in der Küche lodert hell empor, und schmackhafte Dünste warmer Speisen kitzeln die Nasenlöcher des Hungrigen, der draußen steht und müde sich an das Geländer der Haustreppe lehnt. In den Vorstädten schellt der Semmeljunge die kleine Straße hinab, indem er weit langsamer geht, als er sonst gewohnt ist; denn Frau Macklin in Nummer 4 hat nicht sobald ihre Hausthüre geöffnet und mit aller Macht »Semmeln!« gerufen, als Frau Walker in Nummer 5 ihren Kopf aus dem Fenster ihres Wohnzimmers steckt und ebenfalls »Semmeln« ruft; und Frau Walker hat kaum das Wort über ihre Lippen springen lassen, als Frau Peplow auf der andern Seite der Straße Master Peplow losläßt, welcher mit einer Eile, zu der nur die Aussicht auf Buttersemmeln begeistern kann, die Straße herabschießt und den Jungen gewaltsam mit sich fortreißt, worauf Frau Macklin und Frau Walker, um dem Jungen eine Mühe zu ersparen und zugleich mit Frau Peplow einige freundnachbarliche Worte zu wechseln, über die Straße rennen und ihre Semmeln an Frau Peplows Hausthüre kaufen, wobei es sich aus der freiwilligen Aeußerung der Frau Walker ergibt, daß gerade ihr Kessel siedet und Tassen und Teller bereit sind, und daß sie sich, weil es draußen so unangenehm sei, entschlossen habe, ihren Nachbarinnen mit einem Täßchen comfortablen Thee's aufzuwarten – ein Schluß, zu welchem, vermöge des sonderbarsten Zusammentreffens der Umstände, zugleich auch die beiden andern Damen gekommen waren.

Nach einer kurzen Unterhaltung über die Schlechtigkeit des Wetters und die Verdienste des Thee's mit einer vergleichenden Abschweifung auf die Ungeschliffenheit der Knaben als Regel, und die Liebenswürdigkeit Master Peplows als Ausnahme, sieht Frau Walker ihren Gemahl die Straße herabkommen, und da der arme Mann nach seinem schmutzigen Weg von der Werfte gleichfalls seinen Thee nöthig hat, so eilt sie augenblicklich, mit ihren Semmeln in der Hand, davon, und Frau Macklin thut dasselbe, und nach wenigen Worten an Frau Walker, schlüpfen alle in ihre kleinen Wohnungen und schließen ihre kleinen Hausthüren zu, welche den ganzen Abend über Niemand mehr geöffnet werden, als dem »Neunuhrbierjungen,« der mit einer Trage, vor welcher eine Laterne hängt, herumgeht, und, während er Frau Walker das gestrige Wochenblatt einhändigt, die Meinung äußert, er wolle verdammt sein, wenn er den Krug noch halten könne oder das Papier in seinen Händen spüre, denn es sei eine der schneidendsten Nächte, die er je empfunden, mit Ausnahme derjenigen, wo der Mann auf dem Brickfield erfroren sei.

Nach einer kurzen prophetischen Unterhaltung mit dem Polizeidiener an der Straßenecke, welche von der Wahrscheinlichkeit einer Wetterveränderung und des Eintritts einer großen Kälte handelt, kehrt der Neunuhrbierjunge zu seinem Herrn zurück und bringt den Rest des Abends mit dem Geschäfte zu, unaufhörlich das Feuer in der Wirthsstube anzuschüren und ehrerbietig an dem Gespräche der um dasselbe versammelten Großen Theil zu nehmen.

Die Straßen in der Nähe des Marschthores und Victoriatheaters haben in einer solchen Nacht ein schmutziges und widerliches Aussehen, zu dessen Milderung die Gruppen, welche dort herumlungern, wenig beitragen. Sogar der kleine Blockzinntempel, der den gebratenen Kartoffeln geweiht ist und unter einem glänzenden Farbenspiel bunter Lampen steht, sieht nicht so lustig aus, als gewöhnlich; und was den Nierenpastetenstand betrifft, so ist seine Glorie ganz dahin. Das Licht in der Transparentlampe, einem Fabrikat aus mit Charakteren dekorirtem Oelpapier, ist schon fünfzigmal ausgeblasen worden; der Nierenpastetenverkäufer, der es endlich müde ist, in die benachbarten Weingewölbe zu laufen, um wieder anzünden zu können, hat in der Verzweiflung bereits den Gedanken an Beleuchtung aufgegeben, und die einzigen Zeichen seines »Hierherums« sind die hellen Funken, welche jedesmal, wenn er seinen tragbaren Backofen öffnet, um einem Kunden eine warme Nierenpastete einzuhändigen, in einem langen unordentlichen Zuge die Straße hinabwirbeln.

Die Verkäufer von Plattfischen, Austern und Obst schmachten hoffnungslos hinter der Gosse, vergeblich bemüht Käufer anzulocken; und die zerlumpten Jungen, welche sich gewöhnlich auf den Straßen herumtreiben, kauern sich in einem vorspringenden Thorwege, oder unter dem zwilchenen Vorhang der Käsebude zusammen, wo große flackernde Gaslichter, unbeschattet von einem Glase, hohe Beugen hellrother und blaßgelber Käselaibe, untermengt mit kleinen Stücken schwarzbraunen Specks zu fünf Pencen, verschiedenen Tonnen Wochen-Dorseter und düstere Rollen »vom Besten« beleuchten.

Hier belustigen sie sich mit theatralischen Vorstellungen, die sie ihrem Besuche der Victoriagallerie ums halbe Geld verdanken, bewundern den fürchterlichen Kampf, welcher allnächtlich wiederholt wird, und preisen die unerreichbare Vortrefflichkeit, mit der Bill Thompson den »Doppelaffen« macht oder die geheimnißvollen Involutionen des Matrosenhornpipe durchführt.

Es ist nahe an eilf Uhr, und der kalte feine Regen, welcher so lange nebelartig niedergesunken ist, beginnt nun in vollem Ernste herabzuströmen. Der Verkäufer der gebratenen Kartoffeln hat sich entfernt – der Nierenpastetenmann ist so eben mit seinem Waarenhause auf dem Arm weggegangen – der Käsekrämer hat seinen Vorhang zugezogen und die Knaben haben sich zerstreut. Das beständige Klappern von Ueberschuhen auf dem schlüpfrigen und unebenen Pflaster und das Rauschen von Regenschirmen, wenn der Wind gegen die Ladenfenster stößt, verräth die unangenehme Nacht; und der Polizeidiener mit dem wachstaffetenen Kragen, den er fest umgebunden hat, hält seinen Hut auf dem Kopf, macht eine Wendung, um dem Andrange des Windes und Regens, der an der Straßenecke wider ihn stößt, auszuweichen, und gibt durch diese Manipulationen zu erkennen, daß er weit entfernt ist, sich zur Aussicht, die er vor sich hat, Glück zu wünschen.

Der kleine Kramladen mit der zerbrochenen Schelle hinter der Thüre, deren melancholisches Geklingel durch jede Kundenansprache um einen Vierling Zucker oder ein Loth Kaffee comandirt wird, ist nun geschlossen. Die Menschenmenge, welche den ganzen Tag hindurch ab und zuströmte, vermindert sich mit reißender Schnelligkeit, und das lärmende Geschrei, welches aus den Wirthshäusern dringt, ist beinahe der einzige Laut, der die melancholische Stille der Nacht unterbricht.

Doch nein, man hörte noch einen andern, aber er ist jetzt verstummt. Das unglückliche Weib mit dem Kind auf den Armen, dessen abgezehrte Gestalt sie mit den Enden ihres eigenen, knappen Halstuches sorgfältig umhüllt, hat den Versuch gemacht, eine Volksballade zu singen, in der Hoffnung, dem mitleidigen Vorübergehenden einige Pence zu entlocken. Ein fühlloses Gelächter über ihre schwache Stimme ist alles, was sie ersungen hat. Große Thränen strömen über ihr blasses Gesicht, das Kind friert und hungert und sein leises, halbunterdrücktes Gewimmer erhöht das Elend seiner unglücklichen Mutter; sie schluchzt laut und sinkt verzweiflungsvoll auf eine kalte nasse Thürschwelle nieder.

Singen! Wie wenige von denjenigen, welche an einem solchen bedaurungswürdigen Geschöpfe vorübergehen, denken an die Angst des Herzens und die Gedrücktheit der Seele und des Geistes, welche eine solche Anstrengung zum Singen hervorruft. Bitterer Spott! Krankheit, Verwahrlosung und Hunger murmeln die Worte des fröhlichen Liedes, welches, Gott weiß wie oft, eure Stunden beim Schmauß und Gelage belebt hat! Es ist kein Gegenstand zum scherzen. Die schwache zitternde Stimme erzählt eine furchtbare Geschichte von Mangel und Hunger; und die kranke Sängerin eures Zechliedes wendet sich weg, um vor Frost und Hunger zu sterben.

Ein Uhr. Gruppen, welche aus den verschiedenen Theatern kommen, waten durch die kothigen Straßen; Kabriolete, Miethkutschen, Wagen und Theateromnibusse rollen schnell vorbei; Wassermänner mit trüben, schmutzigen Laternen in der Hand und große Messingplatten auf der Brust, welche während der zwei letzten Stunden mit lautem Rufen hin und her gerannt sind, ziehen sich nach ihren Wasserstuben zurück, um sich mit ihren Lieblingen, der Pfeife und dem Wermuthbier, zu trösten; die Theaterbesucher, welche um's halbe Geld auf's Parterre und in die Logen gehen, drängen sich nach den verschiedenen Restaurationshäusern; und unter einer geräuschvollen Verwirrung von Rauchen, Rennen, Messerklappern und Kellnerplappern, das völlig unbeschreiblich ist, werden zahllose Rostrippchen, Nieren, Kaninchen, Austern, Doppelbier, Cigarren und »Budeln« herumgereicht.

Der musikalischere Theil der Schauspielbesucher begibt sich in eine Harmoniegesellschaft. Aus Neugierde wollen wir sie für einige Augenblicke dorthin begleiten.

In einem hohen, geräumigen Saale sitzen achtzig bis hundert Gäste und klopfen mit zinnernen Trinkkrügchen kleine Melodieen auf den Tisch, oder hämmern mit den Messerheften, als wären sie eben so viele Faßbinder. Sie applaudiren einem lustigen Lied, welches so eben von den drei »Vorständen« am oberen Ende der im Mittelpunkt stehenden Tafel gesungen worden ist. Einer dieser Vorstände nimmt den Präsidentenstuhl ein – es ist der kleine, pompöse Mann mit dem Kahlkopfe, der gerade noch aus dem Kragen seines grünen Rockes hervorragt; ihm zur Rechten und zur Linken sitzen die beiden anderen – der starke Mann mit der schwachen Stimme und der finstere Mann mit dem hageren Gesichte in schwarzem Anzug. Der kleine Mann im Präsidentenstuhl ist eine höchst amüsante Personage – eine solche Herablassung bei einer solchen Größe, und eine solche Stimme!

»Tief!« wie unser Nachbar, der junge Herr mit dem blauen Rock seinem Gefährten kräftig bemerkt, »tief! das will ich glauben. Er kann tiefer hinunter, als irgend Jemand; zuweilen so tief, daß Sie ihn nicht mehr hören können.« Und er thuts. Ihn so allmälig tiefer und tiefer hinunterbrummen zu hören, bis er nicht mehr zurück kann, das ist der größte Genuß auf der Welt, und es ist eine reine Unmöglichkeit, den ergreifenden Ton, mit dem er seine Seele in »mein Herz ist im Hochland«, oder »der brave alte Hoak« ausströmt, ohne Rührung zu hören. Der starke Mann neigt sich auch zur Sentimentalität hin und trillert »flieh, flieh aus der Welt Bettili mit mir«, oder irgend eine andere Arie, mit der süßen Stimme einer Dame und in den bezauberndsten Tönen, die man sich denken kann.

»Bestellen Sie jetzt, meine Herren, was sie wünschen – bestellen Sie« – sagt der rothhaarige Mann mit dem blassen Gesichte; und die Bestellungen von »Budeln« Wachholder, und »Nudeln« Branntwein und Pinten Doppelbier und Cigarren von besonderer Milde erschallen jetzt lärmend aus allen Theilen des Zimmers. Die »Vorstände« haben den Höhepunkt ihres Glanzes erreicht und beglücken die bekannteren Besucher des Saales mit der schmeichelhaftesten Gönnermiene, mit herablassenden Verbeugungen, oder sogar mit einem, ja mit zwei Worten dankbarer Anerkennung.

Der kleine Mann mit dem runden Gesichte und dem kurzen braunen Ueberrock, weißen Strümpfen und Schuhen, ist in seiner komischen Laune; die Miene der Selbstverläugnung, verbunden mit dem Bewußtsein seiner Würde, womit er seinen Beruf für das Präsidium anerkennt, ist besonders einnehmend. »Meine Herren,« sagt der kleine, pompöse Mann, diese Worte mit einem Schlage des Präsidentenhammers auf den Tisch begleitend – »meine Herren, erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. – Unser Freund, Herr Smuggins, will uns etwas zum Besten geben.« – »Bravo!« ruft die Gesellschaft. Und Smuggins hustet eine Symphonie und schnüffelt ein paar Mal auf eine höchst witzige Weise, was beides mit allgemeinem Beifall aufgenommen wird; dann singt er ein komisches Lied, mit einem »Vivallallerachor«, der weit länger ist, als der Vers selbst. Er erntet ein unmäßiges Beifallsgeschrei, und nachdem ein strebender Geist aus freien Stücken eine Recitation gegeben und erschreckliche Mißtöne hervorgebracht hat, schlägt der kleine, pompöse Mann abermals auf den Tisch und sagt, »meine Herren, ein Lustiges, wenn es Ihnen gefällig ist!« Diese Aufforderung ruft einen stürmischen Beifall hervor und die energischen Geister drücken ihre unbedingteste Zufriedenheit dadurch aus, daß sie ein oder zwei Biergläser auf ihren Beinen zerschlagen – ein humoristisches Sinnbild, das jedoch häufig zu einem kleinen Wortwechsel Anlaß gibt, wenn von Seiten des Kellners eine Anforderung wegen Entschädigung gestellt wird.

Dergleichen Scenen dauern bis drei oder vier Uhr Morgens fort; und sogar, wenn sie ausgespielt sind, so eröffnen sich für den wißbegierigen Neuling wieder neue. Doch da eine Schilderung aller, wenn sie auch noch so skizzenartig gegeben würde, einen ganzen Band einnähme, dessen Inhalt, wenn auch noch so belehrend, doch keineswegs gefällig sein dürfte, so machen wir unsere Verbeugung und lassen den Vorhang nieder.



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