Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Achtzehntes Kapitel

Eine parlamentarische Skizze.

Unsere Leser werden sich hoffentlich durch die ominöse Ueberschrift nicht beunruhigen lassen. Wir haben ganz gewiß nicht im Sinn, uns auf Politik einzulassen, auch eben so wenig die leiseste Absicht, langweiliger, als sonst, zu sein, wenn wir es vermeiden können.

Es ist uns nur der Gedanke gekommen, daß eine kleine Skizze von der Totalansicht des »Hauses« und von der Menge, welche sich an dem Abende einer wichtigen Verhandlung dort zusammendrängt, etwas zur Unterhaltung beitragen könnte, und da wir zu seiner Zeit dem Hause einige Besuche abgestattet haben, – und bei weitem oft genug für unsern Zweck, bei weitem zu oft aber für unsern eigenen Frieden und unser Behagen dort gewesen sind, – so haben wir uns entschlossen, eine Beschreibung davon zu versuchen. Wir verbannen deßhalb alle Furcht, welche durch unbestimmte Vorstellungen von Privilegienverletzungen, Stabträgern, widerwärtigen Drohungen und noch widerwärtigeren Sporteln erregt werden könnten, treten auf einmal hinein und gehen auf unsern Gegenstand los.

Es ist halb fünf Uhr – und um Fünf wird der Antragsteller »auf den Beinen« sein, wie die Zeitungen zuweilen als große Neuigkeit verkünden, als ob manchmal die Redner auch auf den Köpfen zu stehen pflegten. Die Mitglieder strömen in Menge, eines nach dem andern hinein; die wenigen Zuschauer, welche in dem Gang Platz zum Stehen bekommen können, betrachten sie im Vorübergehen mit dem größten Interesse, und wer hie und da ein Mitglied bei Namen nennen kann, wird eine Person von großer Wichtigkeit. Alle Augenblicke hört man ein eifriges Geflüster: »Das ist Sir John Thomson.« – »Welcher? der mit dem goldenen Orden um den Hals?« – »Nein, nein, das ist einer von den Botschaftern, – der Andere, mit den gelben Handschuhen, ist Sir John Thomson.« – »Dieser da ist Mr. Smith.« – »So!« – »Ja; wie geht es Ihnen, Sir? (Es ist unser neues Mitglied.) Wie geht es Ihnen, Sir?« Mr. Smith bleibt stehen, dreht sich mit ganz bezaubernder Artigkeit um (denn das Gerücht von einer bevorstehenden Auflösung hat sich diesen Morgen verbreitet), nimmt seinen glücklichen Konstituenten bei den Händen, grüßt ihn mit enthusiastischer Herzlichkeit und entfaltet dann durch die Eile, mit welcher er in das Vorzimmer stürzt, seinen außerordentlichen Eifer für das öffentliche Wohl, – was einen sehr günstigen Eindruck auf seinen »Mitbürger« macht.

Es kommen immer mehr Neugierige, und Hitze und Lärm nehmen in sehr unlustigem Verhältnisse zu. Die Livreebedienten formiren eine vollständige Gasse auf jeder Seite des Ganges und ihr drückt euch in den möglichst kleinen Raum zusammen, um nicht Gefahr zu laufen, daß man euch hinauswirft. Seht ihr den großen trotzigen Mann, mit der heiseren Stimme, im blauen Rocke, seltsam aufgestutztem, breitrandigem Hute, weißen Corduroybeinkleidern und hohen Stiefeln? Seit einer halben Stunde schwatzt er unaufhörlich fort und seine Wichtigmacherei gibt den Schaulustigen nicht wenig zu lachen. Es ist der große Friedenserhalter von Westminster. Ihr habt sicher bemerkt, wie huldvoll er den edlen Lord, welcher eben vorüberging, gegrüßt hat, oder was er sich für ein außerordentliches Air gibt, wenn er die Leute zurechtweist. Er ist in ganz schlechter Laune über das höchst unehrerbietige Betragen zweier jungen Bursche hinter ihm, welche, seit sie da sind, nichts thun, als lachen.

»Glauben Sie, Herr –, daß es heute Abend zur Abstimmung kommt?« fragte furchtsam ein kleines, dürres Männchen aus dem Haufen, in der Hoffnung, sich bei dem Beamten zu insinuiren.

»Wie mögen Sie eine solche Frage thun, Sir?« erwiedert der Würdenträger und schreit unglaublich laut dazu, während er den dicken Stock in seiner Rechten mürrisch schüttelt. »Ich muß bitten, thun Sie das nicht mehr, Sir; ich muß mir das sehr ausbitten!«

Das kleine Männchen sieht ganz verdutzt aus, und der uneingeweihte Theil der Menge bricht in ein krampfhaftes Gelächter aus.

In dem Augenblicke erscheint ein unglückliches Individuum von ziemlich verdutztem Aussehen am Ende des Ganges. Es ist ihm gelungen, der Wachsamkeit des Constabels an der Treppe unten zu entgehen, und er wünscht sich offenbar Glück, daß er so weit gekommen ist.

»Zurück, Sir – Sie dürfen hier nicht herein,« ruft der Heisere, mit schrecklichem Nachdruck in Ton und Geberde, sobald er den Uebelthäter wahrnimmt.

Der Fremdling hält an.

»Hören Sie es, Sir? – Wollen Sie wohl hinausgehen?« – fährt der Würdeträger fort, und stößt den Eindringling höflich ein paar Ellen weit zurück.

»Nun, so stoßen Sie mich doch nicht, Sir,« versetzte dieser und dreht sich zornig um.

»Und doch, Sir.«

»Das werden Sie bleiben lassen, Sir!«

»Machen Sie, daß Sie fortkommen, Sir.«

»Fassen Sie mich nicht an, Sir.«

»Machen Sie, daß Sie aus dem Wege kommen, Sir!«

»Sie sind ein Hans Dampf!«

»Was bin ich?« schnaubt dieser.

»Ein Hans Dampf und noch dazu ein unverschämter Kerl!« wiederholt der Fremdling in völligem Zorn.

»Ich bitte, zwingen Sie mich nicht, Sie hinauszuführen, Sir,« entgegnet der andere, – »thun Sie es ja nicht! – Ich habe den Befehl, diesen Durchgang frei zu erhalten, – es ist der Befehl des Sprechers, Sir.«

»Den Sprecher mag der Henker holen,« schreit der ungebetene Gast.

»Heda, Wilson! Collins!« keuchte jetzt der Gerichtsdiener, förmlich wie vom Schlag gerührt über den beleidigenden Ausdruck, welcher bei ihm unmittelbar nach dem Hochverrath kommt; »führt diesen Menschen hinaus, führt ihn hinaus, sage ich! Wie können Sie sich so etwas unterstehen, Sir!« – Und hinab fliegt der Unglückliche, fünf Stufen auf einmal, sieht sich bei jedem Halt um, als ob er umkehren und bittere Rache an dem Gewalthaber und all' seinen Helfershelfern nehmen wollte. »Platz, meine Herren! – machen Sie doch Platz für die Herren Deputirten, – ich bitte Sie,« ruft nun der dienstfertige Beamte beim Zurückkommen, und führt einen ganzen Schwanz von liberalen und independenten Abgeordneten hinter sich drein.

Schaut dort jenen wildblickenden Mann, mit beinahe eben so vergelbter Gesichtsfarbe, als seine Wäsche, dem sein großer schwarzer Schnurrbart das Ansehen einer Figur hinter einem Friseurladen gäbe, wenn in seinem Gesicht so viel Geist läge, als jene mühsamen Carrikaturen des göttlichen Menschenantlitzes haben. Er ist Milizenoffizier und die unterhaltendste Person im ganzen Hause. Kann es irgend etwas auserlesen Absurderes geben, als die burleske Grandezza, welche in seinem ganzen Wesen liegt, wenn er auf den Vorsaal zuschreitet und die Augen verdreht, wie ein Türkenkopf an einer holländischen Schlaguhr? Man sieht ihn nie ohne ein Bündel schmutziger Papiere unter dem linken Arm, welche man allgemein für die mannigfaltigen Voranschläge von 1804 oder für andere gleichwichtige Aktenstücke hält. Er ist sehr pünktlich in seinem parlamentarischen Dienste und sein selbstzufriedenes »Hö-ört, Hö-ört!« gilt nicht selten als Signal zu einem allgemeinen Kichern.

Er ist auch der Nämliche, welcher einmal in allem Ernste einen Gerichtsdiener auf die Fremdengallerie in dem alten Hause der Gemeinen geschickt hat, um sich nach dem Namen einer Person zu erkundigen, welche immer ein Fernglas gebrauchte, – damit er sich bei dem Sprecher beklagen konnte, jene Person verspotte ihn. Ein anderes Mal soll er in Bellamy's Küche – einem Erfrischungslokal, wo auch Leute, welche nicht Parlamentsglieder sind, tolerirt werden – gewesen sein; er sah dort zwei Herren, von denen er wußte, daß sie keine Mitglieder waren, also an diesem Orte sein Betragen nicht wohl ahnden durften, im Abendessen begriffen, und machte sich den Spaß, seine bestiefelten Beine auf den Tisch zu legen, woran jene speisten. Sonst ist er aber ganz harmlos und immer äußerst amüsant.

Durch Geduld und einen kleinen Einfluß auf unsern Freund, den Constabel, haben wir es nun so weit gebracht, bis in den Vorsaal zu dringen, und Ihr seid jetzt im Stande, einen gelegentlichen Blick in das Haus selbst zu werfen, wenn die Thüre zum Eintritt der Mitglieder geöffnet wird. Es ist bereits erträglich voll und kleine Gruppen von Abgeordneten stehen beisammen und besprechen die interessantesten Themas der Tagesordnung.

Der elegante Herr dort, im schwarzen Rock und mit Sammtaufschlägen, welcher seinen d'Orsay-Hut so »krakeelartig« auf dem Kopfe sitzen hat, ist »der ehrliche Tom«, ein Metropolitan-Abgeordneter, und der große Mann im Mantel, mit weißem Futter, – nicht der am Pfeiler, – der andere, mit dem blonden Haar, das ihm hinten über den Rockkragen hinabhängt, – ist sein College. Der ruhige, vornehm aussehende Herr im blauen Surtout, grauen Hosen, weißer Halsbinde und Handschuhen, dessen fest zugeknöpfter Rock seine stattliche Figur und breite Brust so vortheilhaft zeigt, ist eine sehr bekannte Person. Er hat zu seiner Zeit manche Schlacht ausgefochten und, gleich den Helden des Alterthums, mit keinen anderen Waffen, als denen, welche ihm die Götter gegeben haben, gestritten. Der Greis mit dem harten Gesicht, welcher neben ihm steht, ist wirklich ein herrliches Exemplar einer Rasse von Männern, welche jetzt auszugehen droht. Er ist ein Landabgeordneter und war dieß seit Menschengedenken. Betrachtet nur seinen bequemen, weiten, blauen Ueberrock, mit den großen Taschen auf beiden Seiten, seine kurzen Hosen und Stiefel, die unendlich lange Weste und die silberne Uhrkette, welche darunter hervor baumelt, den breitkrämpigen braunen Hut und das weiße Halstuch mit der großen Masche, dessen flatternde Zipfel über das gefältelte Hemd herabhängen. Ein solches Costüme sieht man heut zu Tage selten mehr und wenn die wenigen, die es noch tragen, ausgestorben sein werden, so verschwindet es ganz. Er kann Euch lange Geschichten erzählen von Pitt, Sheridan und Canning, und wie viel mehr Ordnung damals im Hause war, wo man gewöhnlich um acht oder neun Uhr fertig machte, außer an gewöhnlichen regelmäßigen Schlachttagen, wo aber dann Jedermann zuvor davon in Kenntniß gesetzt wurde. Er hegt große Verachtung gegen alle jungen Parlamentsmitglieder und hält es für rein unmöglich, daß irgend Einer etwas vorbringen könne, was des Anhörens werth sei, der nicht zuvor wenigstens fünfzehn Jahre in dem Hause gesessen, wenn er auch in dieser ganzen Zeit gar nichts gesprochen hat. Er ist der Meinung, »der junge Mac Auley« sei ein offenbarer Betrüger gewesen und gibt zwar zu, daß »aus Lord Stanley noch einmal etwas werden könne« – allein – »er ist noch zu jung, Sir, zu jung.« Auch ist er, was die Vergangenheit betrifft, eine herrliche Autorität, und wenn er, nach dem Weine, immer mehr in seine Geschichten hineinkommt, so wird er Euch erzählen, wie Sir der und der, als er »Beitreiber« für die Regierung war, einmal vier Abgeordnete aus den Betten holte, um die Majorität zu bekommen, – von denen drei auf dem Heimweg starben; – wie einmal das Haus über die Frage abstimmte, ob frische Lichter gebracht werden sollten, und wie man ein anderes Mal den Sprecher nach Beendigung der Geschäfte auf seinem Stuhle sitzen ließ, wo er drei Stunden allein im Hause warten mußte, bis endlich einige Mitglieder herausgepocht und zurückgebracht werden konnten, um die Vertagung zu beantragen, – und noch eine Masse Anekdoten ähnlichen Kalibers.

Hier steht er, auf seinen Stock gestützt, schaut auf die Schaar der Auserwählten um ihn her mit größter Verachtung herab, und beschwört vor das Auge seines Geistes die Scenen herauf, welche sich in dem alten Hause vor längst vergangenen Tagen ereignet haben, als seine eigenen Empfindungen noch frischer und klarer waren und also auch, wie er sich einbildet, Witz, Talent und Patriotismus noch heller strahlten.

Ihr möchtet gern wissen, wer der junge Mann im groben Ueberrock ist, welcher noch jedes Mitglied, das in den Saal kam, angeredet hat. – Das ist kein Mitglied des Hauses, er ist nur ein »erblicher Leibeigener« oder mit anderen Worten, der Irische Correspondent einer irischen Zeitung, welcher eben sein zweiundvierzigstes Franko von einem Abgeordneten erwischt hat, den er in seinem Leben noch nie gesehen. Da geht er hin; – abermals eines! Glücklicher Mann, er hat bereits Hut und Taschen voll.

Wir wollen unser Glück auf der Fremdengallerie probiren, obgleich die Natur der heutigen Debatten uns nicht viel Hoffnung auf einen guten Erfolg verspricht. Was habt Ihr denn aber um des Himmels willen vor? Haltet Ihr ja Eure Karte empor, als ob sie ein Talisman wäre, vor dem die Thüre auffliegen müßte. – Possen! – Hebt sie nur als ein Autograph auf, wenn sie überhaupt des Aufhebens werth ist, und erscheint vor der Thüre, den Daumen und Zeigefinger bedeutungsvoll in die Westentasche gesenkt. Jener lange starke Mann in Schwarz ist der Thürhüter. »Ist noch Platz?« »Nicht ein Zoll; es warten schon zwei oder drei Dutzend Herren unten, bis allenfalls Jemand weggeht!« – Nun zieht Eure Börse heraus. »Sind Sie ganz sicher, daß es keinen Platz mehr gibt?« – »Ich will einmal nachsehen,« entgegnete der Thürhüter mit einem sehnsüchtigen Blick auf Euren Geldbeutel, »allein ich fürchte, es wird vergeblich sein.« Er kommt zurück und sagt euch, mit aufrichtigem Bedauern, »daß es nicht menschenmöglich sei, auf die Gallerie zu kommen.« – Zu warten braucht Ihr jetzt nicht mehr. Wer unter solchen Umständen nicht auf die Fremdengallerie des Hauses der Gemeinen kommt, kann mit der vollkommenen Beruhigung heim gehen, daß es in der That merkwürdig voll sein müsseDieser Aufsatz wurde geschrieben, ehe die schöne Gewohnheit aufgehört hatte, die Parlamentsmitglieder, gleich andern Merkwürdigkeiten, um das Lumpengeld von einer halben Krone sehen zu lassen..

Jetzt gehen wir durch den langen Gang zurück, die Treppe hinab, über den Hof und stehen vor einer kleinen Thüre neben dem Eingange des Königs in das Haus der Lords. Der Stabträger gestattet Euch den Eintritt auf die Gallerie der Nachschreiber, wo man das Haus ziemlich gut übersehen kann. Nehmt Euch auf der Treppe in Acht, sie ist keine von den besten; durch dieses Thürchen, hier. – Sobald sich Eure Augen ein wenig an die Dunkelheit des Ortes und die Helle der Kronleuchter unten gewöhnt haben, seht Ihr, daß irgend ein unbedeutendes Individuum von der ministeriellen Seite des Hauses (zu Eurer Rechten) im Sprechen begriffen ist und zwar unter einem Getöse und einem Wirrwarr von Stimmen, wie bei dem Thurmbau zu Babel, nur mit dem Unterschiede, daß hier Alles in einer Sprache geschieht.

Das »Hört, hört,« welches das Gelächter erregt hat, kommt von unserem kriegerischen Freunde mit dem Schnurrbart her; er sitzt auf der letzten Bank an der Wand, hinter dem Mitglied, welches eben spricht, und sieht so grimmig und verständig wie immer aus. Werft noch einen Blick um Euch und macht dann, daß Ihr fortkommt; das Schiff des Hauses und die Seitengallerien sind voll von Mitgliedern, von denen einige ihre Beine auf der Rücklehne der vorderen Bank liegen haben, andere sie ihrer ganzen Länge nach auf dem Boden ausstrecken; diese kommen herein, jene gehen hinaus, alle schwatzen, lachen, lungern herum, husten, gähnen, fragen oder seufzen – das ganze Haus stellt ein so vollständiges Untereinander und ein solches Getöse dar, wie man es nicht leicht an einem andern Orte in der Welt trifft, sogar einen Markttag zu Smithfield oder einen Hahnenkampf in seiner höchsten Glorie nicht ausgenommen.

Aber Bellamy's Küche dürfen wir nicht vorbeigehen, – oder mit anderen Worten: das beiden Häusern des Parlaments gemeinschaftliche Restaurationslokal, wo Ministerielle und Oppositionsglieder, Whigs und Tories, Radikale, Pairs und Destruktive, Fremde von der Gallerie und die begünstigten Zuhörer unter den Schranken alle gleiche Freiheit des Eintritts genießen; wo verschiedene ehrenwerthe Mitglieder ihre vollständige Unabhängigkeit dadurch beweisen, daß sie während der ganzen Dauer einer lästigen Debatte sich mit leiblichem Labsal letzen, wo sie dann durch die Beitreiber zur Abstimmung geholt werden, um entweder ihr »gewissenhaftes Votum« auf eine Frage abzugeben, von welcher sie mit gutem Gewissen nicht im Stande sind, zu behaupten, daß sie irgend etwas davon wüßten, oder um ihrem, durch die Weingeister erregten Muthwillen in dem lärmenden Ruf »Abstimmung« Luft zu machen, mit gelegentlichen Variationen von entsetzlichem Geheul, Gebell und Geschrei oder andern Aufwallungen senatorischer Lustigkeit.

Wenn Ihr die schmale Treppe, welche in dem jetzigen Hause der Gemeinen zu dem Orte führt, den wir beschreiben, oben seid, so müßt Ihr Rechts ein paar Zimmer bemerken, worin Tische zum Mittagessen gedeckt sind. Keines von beiden ist die sogenannte Küche, obgleich sie demselben Dienste gewidmet sind, – diese ist weiter vorn links, ein halbes Dutzend Stufen höher. Ehe wir übrigens diese hinaufsteigen, muß ich Euch bitten, an dem kleinen Buffet mit den Schiebfenstern ein wenig Halt zu machen und Eure Aufmerksamkeit dem stattlichen alten Burschen in Schwarz, mit dem ehrlichen Gesicht, der allein darin sitzt, zuzuwenden. Niklas (wir nennen ohne Scheu den wirklichen Namen des alten Burschen, denn die Namen öffentlicher Personen sind öffentliches Eigenthum, und wenn Niklas nicht eine öffentliche Person ist, wer wäre es denn?) – Niklas ist der Kellner bei Bellamy's und hat schon, seit sich die ältesten Gäste erinnern können, diese Stelle inne, ist stets auf dieselbe Art gekleidet und sagt genau immer das nämliche, wie vor Jahren. Niklas ist ein vortrefflicher Aufwärter, sucht im Salatanmachen seines Gleichen – versteht Sodawasser und Limonade bewundernswürdig zu bereiten – weiß die Mischung vom kalten Grog und vom Punsch auf das Genaueste zu treffen – und ist vor Allem ein unübertrefflicher Kenner vom Käse. Wenn der alte Kerl irgend einen Hang zur Eitelkeit haben sollte, so kann er sicherlich darauf stolz sein; und wenn sich möglicherweise irgend etwas in der Welt denken läßt, was seine unerschütterliche Seelenruhe zu trüben vermöchte, so wären wir versucht zu glauben, daß dieß höchstens der Umstand sein könnte, wenn Jemand einen Zweifel über seine Kennerschaft in diesem Punkte zu äußern sich unterfinge.

Wir brauchten Euch indeß all' dieß nicht zu sagen, denn wenn Ihr nur einen Funken von Beobachtungsgeist besitzt – ein einziger Blick auf seinen glatten Kopf und sein gescheidtes Gesicht – sein zierliches weißes Halstuch, mit dem hölzernen Knoten daran, wie er es schon regelmäßig seit zwanzig Jahren umzubinden pflegt, dessen Enden sich unmerklich in die in schmale Fältchen gelegte Busenkrause verlieren, und sein ganzes gemächliches Aussehen, wie er in seinem sorgfältig gebürsteten schwarzen Kleid steckt, worauf auch kein Stäubchen zu sehen, wird Euch einen besseren Begriff von seinem wirklichen Charakter geben, als die matte Beschreibung von einer ganzen Seite lang zu geben im Stande wäre.

Niklas ist aber nicht mehr in seinem rechten Elemente; er kann die Küche nicht mehr so übersehen, wie dieß in dem alten Hause der Fall war: dort ging ein Fenster seines Glaskastens nach dem Zimmer und da stand er oft manche Stunde, zum Nutzen und zur Erbauung der jüngeren Wißbegierigen, und beantwortete ihre unerschöpflichen Fragen über Sheridan, Percival, Castlereagh und der Himmel weiß, über wen sonst noch, mit offenbarer Lust, wobei er nie verfehlte, vor jeden Namen sein »Mister« zu setzen.

Gleich allen Leuten seines Alters und Standes hat auch Niklas die Ansicht, daß die Zeit um Vieles schlechter geworden sei. Selten äußert er sich über Politik, – allein, kurz ehe die Reformbill durchging, waren wir so glücklich, die Entdeckung zu machen, daß Niklas durch und durch Reformer war. Allein welches Erstaunen bemächtigte sich unserer, als wir kurz nach dem Zusammentritt des ersten reformirten Parlaments entdeckten, daß er der allereingefleischteste und entschiedenste Tory geworden! Die Sache war höchst seltsam: Mancher ändert seine Meinung aus Noth, Mancher aus Wohldienerei, Mancher aus Eingebung, – allein, daß Niklas sich in irgend einer Beziehung untreu werden sollte – dieß hatten wir nicht erwartet, hätten es auch für rein unmöglich gehalten. Dazu war sein hartes Urtheil über die Clausel, welche den Metropolitandistrikten das Recht gibt, Parlamentsglieder zu wählen, gänzlich unerklärbar.

Endlich entdeckte ich das Geheimniß: die Metropolitanabgeordneten aßen immer daheim. Die Lumpe! – Und daß man für Irland noch weitere Mitglieder bewilligte, war noch schlechter, – eine offenbare Verletzung der Constitution. Ja, Sir, so ein Irischer Abgeordneter kommt her und ißt mehr bei Tische als drei englische Mitglieder zusammen. Wo läßt sich so Einer Wein geben? Tafelbier trinkt er, bis zu einer halben Gallone, und dann geht er heim nach Manchester Buildings, Milbank-Street, oder in welchem Winkel er sonst wohnt, – zu seinem Whiskey und Wasser, – und was ist die Folge davon? – Was? – die Anstalt geht kaput – vollständig kaput, durch ihren Zuspruch!

Es ist ein schnurriger Patron, der Niklas, und ein so vollkommen integrirender Theil des Hauses, als die Theile des Gebäudes selbst. Wir wundern uns nur, daß er jemals das alte Lokal verlassen hat, und waren ganz darauf gefaßt, am Morgen nach der Feuersbrunst eine rührende Geschichte in den Blättern zu lesen, wie man einen sehr anständig aussehenden alten Herrn, als gerade die Flammen den höchsten Punkt erreicht hatten, an einem der oberen Fenster erblickt habe, welcher seine entschiedene Absicht deklarirte, mit dem Hause untergehen zu wollen. Er mußte mit Gewalt herausgebracht worden sein. Wie dem nun auch sei – er ist herausgekommen und nun wiederum hier, und sieht aus, wie sonst alle Tage, als ob er seit der letzten Sitzung in einer Putzschachtel gesessen hätte. Jeden Abend ist er auf seinem Posten, gerade so, wie wir ihn geschildert haben, und da solche Leute selten sind und treue Diener noch seltener, so wünschen wir: möge er noch lange da bleiben!

Habt Ihr nun in der Küche Platz genommen und das große Feuer und den Bratenwender an dem einen Ende des Zimmers, die Tafel zum Gläserspülen und Krügetrocknen an dem anderen, die Uhr über dem Fenster gegen die St. Margarethenkirche, die tannenen Tische und die Wachslichter, die damastenen Tafeltücher und den kahlen Boden, das Silber- und Porzellangeschirr auf den Tischen und den Bratrost am Feuer und einige andere, diesem Orte eigenthümliche Anomalien genau besichtiget, so wollen wir Euer Augenmerk auf zwei oder drei von den Anwesenden lenken, welche durch ihre Stellung und ihre Absurditäten der Aufmerksamkeit in hohem Grade werth sind.

Es ist halb ein Uhr, und da vor ein paar Stunden die Abstimmung noch nicht zu erwarten ist, so ziehen es etliche Mitglieder vor, lieber hier die Zeit zu verdämmern, als an den Schranken des Hauses zu stehen oder in einer Seitengallerie zu schlafen. Jener besonders plump und linkisch aussehende Mann, in dem bräunlich-weißen Hut, dessen schlotternde schwarze Hosen etwa halbwegs über die Stiefelschäfte hinabgehen, und der sich offenbar in dem Wahn, als denke er etwas, an den Speiseschrank lehnt, ist ein leuchtendes Exemplar von einem Mitglied des Hauses der Gemeinen, welches in seiner einzigen Person die Weisheit aller seiner Constituenten vereinigt. Betrachtet einmal seine Perücke – sie hat eine dunkle, aber schwer zu beschreibende Farbe, denn war sie ursprünglich braun, so hat sie während ihrer langen Dienstzeit einen schwarzen Anstrich bekommen, und ist sie von Natur schwarz gewesen, so hat sie aus demselben Grund einen rostbraunen Schimmer angenommen, – und seht einmal, wie trefflich seine großen Scheuleder von Brillen den Ausdruck seines ohnehin schon so verständigen Gesichts noch erhöhen. Ernsthaft gesprochen – habt Ihr je schon ein Gesicht gesehen, welches so entschieden das Gepräge der hoffnungslosesten Dummheit und Stumpfsinnigkeit trug, oder eine Gestalt, die so wunderlich zusammengesetzt gewesen wäre? Er ist kein großer Redner: allein wenn er einmal zu der Versammlung spricht, dann ist der Eindruck auch durchaus unwiderstehlich.

Der kleine Herr mit der spitzigen Nase, welcher ihn so eben gegrüßt hat, ist auch ein Parlamentsglied, Exalderman und eine Art von Feuerspritzendilettant. Ihn und den berühmten Spritzenhund hat man bei dem Brande des Parlamentshauses äußerst thätig gesehen – sie rannten auf und ab, hinein und heraus, kamen Jedermann zwischen die Beine und Jedermann in den Weg, in der vollkommensten Ueberzeugung, daß sie sich sehr nützlich machten, und lärmten gräulich. Der Hund ging ruhig mit der Spritze wieder in seinen Schuppen, aber der andere verführte noch einige Wochen lang nach dem Vorfall ein Geschrei, welches offenbar gegen alle »Kleiderordnung« war. Da indessen keine weiteren Parlamentsbrände entstanden und er keine Gelegenheit mehr hatte, an die Redaktionen zu schreiben, sie möchten in ihre Blätter setzen, wie er, um die Gemälde zu retten, diese aus ihren Rahmen geschnitten und dem Vaterland überhaupt sonstige große Dienste geleistet habe, so ist er allmälig wieder zu seiner alten Ruhe zurückgekehrt.

Das schwarze Frauenzimmer – nicht die, welcher der Sonntagsbill-Baronet so eben unter das Kinn gegriffen hat, sondern die kleinere – ist Jane, die Hebe von Bellamy's. Jane ist in ihrer Art nicht minder groß, als Niklas. Ihr ganzes Gesicht spricht vorzugsweise eine tiefe Verachtung gegen den größten Theil der Gäste aus, ihre vorherrschende Eigenschaft ist eine starke Vorliebe dafür, sich die Cour machen zu lassen, was einem nicht wohl entgehen kann, wenn man darauf Acht gibt, wie gerne sie auf das horcht, was ihr der junge Abgeordnete eben, etwas unverständlich, in das Ohr flüstert (aus einem oder dem andern Grunde spricht er etwas undeutlich), oder wie schäckerhaft sie ihn dagegen, gleichsam als Antwort, mit dem Gabelheft in den Arm sticht, mit dem er sie festhält.

Jane ist gleich mit spitzigen Antworten bei der Hand und zwar nicht sparsam damit, wobei sie einen hohen Grad von Unbefangenheit und nicht den geringsten Mangel an Zurückhaltung und Zwang entwickelt, oft zu nicht geringem Erstaunen solcher, die sie noch nicht kennen. Sie macht auch ihre Späße mit Niklas, sieht aber offenbar mit großer Ehrfurcht auf ihn, und die unerschütterliche Ruhe, mit welcher er jene Witze ausnimmt und wie er gewisse idyllische Luftsprünge und Tänze, die zuweilen auf dem Vorplatze statthaben (Jane's einzige Erholung), mit ansieht, ist nicht die wenigstunterhaltende Seite seines Charakters. Die zwei, welche an dem Tische in der Ecke, am hintersten Ende des Zimmers sitzen, waren seit langen Jahren beständige Gäste und einer davon hat mit den berühmtesten Personen einer glänzenden Zeit innerhalb dieser Wände getafelt. Er ist seither zu dem andern Hause emporgestiegen; der größere Theil seiner munteren Genossen hat Yoricks Schicksal getheilt und seine Besuche bei Bellamy's sind verhältnißmäßig selten geworden.

Wenn dieß in der That sein Abendessen ist, – wann kann er möglicherweise zu Mittag gespeist haben?! – Schon ein zweites ansehnliches Rückenstück ist verschwunden, und das erste hatte er in vier und dreiviertel Minuten, nach der Uhr über dem Fenster, aufgezehrt. Hat man je ein täuschenderes Abbild von Falstaff gesehen? Seht, mit welch' verliebten Augen er nach dem Stiltonkäse schielt, indem er die Serviette wegnimmt, welche er unter dem Kinn festgebunden hatte, um das überflüssige Fett des Bratens aufzufangen, und mit welchem Wohlbehagen er den Porter schlürft, den man ausdrücklich für ihn in dem Zinnkruge geholt hat. Hört einmal seine rauhe Stimme, – sie ist ganz so tief, wie bei den Leuten, die auf etwas Solides halten und gewohnt sind, ein gutes Tröpfchen zu trinken – und nun sagt uns, ob Ihr jemals ein treueres Bild eines ächten Gourmands gesehen habt und ob Ihr nicht rathet, daß dieses der Mann ist, welcher an Sheridan's vormaligen Parlamentskneipereien Theil genommen und freiwillig den Kutscher des Miethwagens gemacht hat, der jenen nach Hause brachte und sehr unfreiwillig die ganze Gesellschaft umwarf.

Welch' ein ergötzlicher Contrast zwischen seiner Stimme und seinem Aussehen im Gegensatz zu dem mageren, quäkenden, alten Knaben an dem nämlichen Tische, mit der dünnen, wie eine Kinderfidel krächzenden Fistelstimme, der jeden Satz mit Verwünschungen auf sich oder sonst Jemand anhebt. »Der Kapitän,« wie man ihn nennt, ist ein sehr alter Gast bei Bellamy's, sehr geneigt, sitzen zu bleiben, »wenn das Haus geschlossen ist« (in Jane's Augen ein unverzeihliches Verbrechen), und ein vollständiges wanderndes Branntwein- und Wasserreservoir.

Der alte Pair – oder vielmehr der alte Mann – denn seine Pairschaft ist vergleichungsweise von sehr neuem Datum – hat sich einen ungeheuren Humpen warmen Punsch bringen lassen, und der andere flucht und trinkt oder trinkt und flucht und raucht dazu. Jeden Augenblick kommen Mitglieder mit großem Lärm und berichten: »Der Kanzler der Schatzkammer ist dran!« und fordern ein Glas Branntwein und Wasser, um sich während der Abstimmung aufrecht zu erhalten; wer sein Abendessen bestellt hat, bestellt es ab und schickt sich an, hinunter zu gehen, denn plötzlich hört man mit furchtbarer Heftigkeit an der Glocke reißen und der Ruf »zur Ab-stim-mung« schallt durch den Gang herauf. Nun ist's Zeit – über Hals und Kopf stürzten die Mitglieder hinaus. In einem Augenblick ist das Zimmer leer, das Getöse erstickt allmälig, man hört den letzten Stiefel auf der letzten Stufe knarren und ihr seid mit dem Rückenstück-Leviathan allein.



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