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Zweiundvierzigstes Kapitel.

Die königlichen Ostlondoner Freiwilligen gewährten an diesem Tage einen prachtvollen Anblick, als sie unter dem Klange der Trompete und dem Flattern der Fahnen ihre Reihen, Quarrées, Zirkel, Dreiecke und was nicht noch alles bildeten; 's war eine ungeheuere Anzahl der verwickeltsten Evolutionen, bei denen Sergeant Varden keine unbedeutende Rolle spielte. Nachdem sie ihre militärische Bravour in diesem kriegerischen Gepränge glänzend zur Schau gestellt hatten, marschirten sie in blanken Reihen nach dem Chelseaer Bunhouse, wo sie sich in den umliegenden Schenken letzten, bis es Dunkel wurde. Dann sammelten sie sich wieder unter Trommelschall und kehrten unter donnernden Vivats für Seine Majestät nach dem Orte zurück, von wo sie ausgerückt waren.

Bei dem Rückmarsche ging es etwas langsam – wegen des unsoldatischen Benehmens einiger Korporale, die, so gesetzte Herren sie auch in ihrem Privatleben waren, doch draußen in eine renommirende Stimmung verfielen, mit ihren Bajonnetten unterschiedliche Fenster zerschlugen und daher den commandirenden Offizier in die gebieterische Nothwendigkeit versetzten, sie einer starken Wache zu übergeben, mit welcher sie sich unterwegs balgten und zankten. Es wurde daher neun Uhr, bis der Schlosser zu Hause anlangte. Eine Miethkutsche stand harrend vor seiner Thüre, und als er an derselben vorbeikam, rief ihn Herr Haredale durch den Schlag heraus bei Namen.

»Euer Anblick könnte kranke Augen heilen, Sir,« sagte der Schlosser, auf ihn zugehend. »Ich hätte indeß gewünscht, Ihr wäret hinein gegangen, anstatt hier zu warten.«

»Ich habe Niemand zu Hause gefunden,« antwortete Herr Haredale. »Und außerdem wollte ich Euch nur so geheim als möglich besuchen.«

»Hum!« brummte der Schlosser, nach seinem Hause zurückschauend. »Also ohne Zweifel mit Simon Tappertit zu diesem köstlichen Filialzweig gegangen!«

Herr Haredale lud ihn ein, in den Wagen zu steigen, und, wenn er nicht müde sey oder nach Haus verlange, eine Strecke Weges mitzufahren, damit sie ein Bischen plaudern könnten. Gabriel willfahrte mit Freuden, worauf der Kutscher auf den Bock stieg und weiter fuhr.

»Varden,« sagte Herr Haredale nach einer kurzen Pause. »Ihr werdet staunen, wenn Ihr hört, was für ein Anliegen mich umhertreibt; es wird Euch gewaltig sonderbar vorkommen.«

»Ich zweifle nicht, daß es ein vernünftiges ist und seine Bedeutung hat, Sir,« versetzte der Schlosser, »sonst würdet Ihr Euch nicht damit abgeben. Seyd Ihr erst kürzlich in die Stadt gekommen, Sir?«

»Vor etwa einer halben Stunde.«

»Und bringt Ihr wohl Nachrichten von Barnaby oder seiner Mutter?« fragte der Schlosser zweifelnd. »Ah! Ihr braucht nicht den Kopf zu schütteln, Sir. 'S war eine wilde Gänsejagd. Ich fürchtete das gleich Anfangs. Ihr habt ja alle erdenklichen Mittel, sie nach ihrem Verschwinden wieder aufzufinden, erschöpft. Sie nach so langer Zeit wieder aufzunehmen, ist hoffnungslose Arbeit, Sir – ganz hoffnungslos.«

»Je nun, wo sind sie?« entgegnete er ungeduldig, »Wo können sie seyn? Doch noch auf der Erde?«

»Das weiß Gott,« erwiederte der Schlosser. »Viele von meinen Bekannten haben sich im Laufe dieser fünf Jahre unter dem Rasen gebettet. Auch hat die Erde einen weiten Raum. 'S ist ein hoffnungsloser Versuch, Sir, glaubt mir. Wir müssen die Lösung dieses Geheimnisses, wie so vieles andere, der Zeit, dem Zufall und der Schickung Gottes anheimgeben.«

»Varden, mein lieber Freund,« sagte Herr Haredale, »mein Verlangen, sie jetzt aufzufinden, hat einen weit tiefern Grund, als Ihr ahnen könnt. 'S ist keine bloße Grille – nicht ein zufälliges Wiederaufleben früherer Wünsche, sondern ich habe dabei einen ernsten und feierlichen Zweck im Auge. Alle meine Gedanken und Träume zielen darauf hin und halten ihn in meiner Seele fest. Er läßt mich weder bei Tag noch bei Nacht ruhen und rasten, und ohne Unterlaß spuckt es um mich her.«

Seine Stimme klang so ganz anders als sonst, und sein Benehmen bekundete eine solche Aufregung, daß Gabriel nur verwundert dasitzen, im Dunkeln nach ihm hinsehen und sich den Ausdruck seines Gesichts vorstellen konnte.

»Verlangt keine nähere Erklärung von mir,« fuhr Herr Haredale fort. »Wollte ich mich weiter aussprechen, so würdet Ihr glauben, ich sey das Opfer irgend einer grassen Einbildung. Genug, daß es so ist, und daß ich mich nicht ruhig zu Bette legen kann – nein, ich kann's wahrlich nicht – ohne daß ich thue, was Euch unbegreiflich scheinen mag.«

»Seit wann hat sich denn dieses unruhige Gefühl Eurer bemächtigt, Sir?« fragte der Schlosser nach einer Pause.

Herr Haredale stockte eine Weile und erwiederte sodann:

»Seit jener Sturmnacht. Mit Einem Worte, seit dem letzten neunzehnten März.«

Als fürchtete er, Varden möchte seine Ueberraschung kund geben, oder mit Vernunftgründen angestiegen kommen, fuhr er hastig fort:

»Ich weiß, Ihr werdet denken, daß ich unter irgend einer Selbsttäuschung leide. Vielleicht ist's so – aber es ist nichts Krankhaftes dabei im Spiel, sondern es handelt sich um eine vollkommen gesunde Geistesthätigkeit, die sich auf wirkliche Vorfälle gründet. Ihr wißt, daß ich die Möbel in Frau Rudge's Hause stehen ließ, und daß das Haus selbst seit ihrem Entweichen verschlossen blieb; höchstens wird es die Woche einmal geöffnet, wenn ein alter Nachbar hinkömmt, um die Ratten zu verscheuchen. Ich bin eben auf dem Wege dahin.«

»In welcher Absicht?« fragte der Schlosser.

»Um dort zu übernachten,« versetzte er; »und nicht bloß heute, sondern noch oft. Ich vertraue Euch dieses Geheimniß, im Falle sich etwas Unverhofftes zutragen sollte. Nur die äußerste Noth muß Euch veranlassen, mich dort zu besuchen – ich werde von der Abenddämmerung an bis zum hellen Morgen dort seyn. Emma, Eure Tochter und die Uebrigen suchen mich nicht in London, wie ich denn auch erst seit einer Stunde mich hier aufhalte. Laßt sie auf dieser Meinung. Es gehört wesentlich zu meinem Zwecke. Ich weiß, daß ich Euch vertrauen kann, und baue darauf, daß Ihr vor der Hand keine weitere Fragen stellen werdet.«

Sofort schien er auf ein anderes Thema übergehen zu wollen, indem er den erstaunten Schlosser an den nächtlichen Wegelagerer bei Gelegenheit seiner Heimfahrt vom Maibaum, an Edward Chester's Beraubung, an das Wiederauftauchen dieses Mannes in Frau Rudge's Hause, und an alle die seltsamen Umstände erinnerte, die sich später zugetragen hatten. Er stellte auch gleichgültige Fragen über die Größe des Räubers, sein Gesicht, seine Gestalt, ob er Jemandem ähnlich wäre, den er schon gesehen – allenfalls Hugh, zum Beispiel, oder sonst Jemandem, den er vordem gekannt – und noch viele andere der gleichen Art, was indeß der Schlosser als einen bloßen Kunstgriff betrachtete, um seine Aufmerksamkeit abzulenken und einen Ausbruch seines Erstaunens zu verhindern, weßhalb er dieselbe auch nur auf Gerathewohl beantwortete.

Endlich langten sie an der Ecke der Straße an, in welcher das Haus stand. Herr Haredale stieg aus und entließ den Miethkutscher.

»Wenn Ihr zu sehen wünscht, wie ich mich einquartirt habe,« sagte er, sich mit einem düstern Lächeln an den Schlosser wendend, so bleibt Euch dieß unbenommen.«

Gabriel, dem alle frühern Wunder Nichts in Vergleichung mit diesem waren, folgte ihm schweigend über das schmale Trottoir. An der Thüre angelangt, öffnete sie Herr Haredale sachte mit dem Schlüssel, den er bei sich hatte, und schloß, sobald Varden eingetreten war, hinter sich ab.

Sie waren jetzt ganz im Dunkeln und tasteten sich nach dem Zimmer im Erdgeschoße fort. Hier schlug Herr Haredale ein Licht und zündete eine Kerze an, die er zu diesem Zwecke mitgebracht hatte. Im Scheine desselben sah der Schlosser zum erstenmal, wie blaß, hager, abgezehrt und wie ganz verändert sein Begleiter geworden war; sein ganzes Aussehen stand in vollkommenem Einklang mit den seltsamen Worten, die er während des Fahrens gesprochen hatte. Es war ein ganz natürlicher Impuls, daß Gabriel, nach dem, was er gehört, aufmerksam den Ausdruck seiner Augen beobachtete. Dieser war jedoch so vollkommen gefaßt und gelassen, daß sich der Schlosser seines augenblicklichen Verdachtes eigentlich schämte und, als Herr Haredale ihn ansah, seinen Blick sinken ließ, als fürchtete er, seine Augen möchten seine Gedanken verrathen.

»Wollen wir einen Gang durch das Haus machen?« fragte Herr Haredale mit einem Blicke nach dem Fenster, dessen gebrechliche Läden noch immer verschlossen und verriegelt waren. »Sprecht übrigens leise.«

Es lastete etwas Schauerliches auf dem Orte, so daß es schwer gewesen wäre, sich hier laut auszusprechen. Gabriel flüsterte ein »Ja« und folgte ihm die Treppe hinauf.

Alles war noch ganz so, wie sie es zum letztenmal gesehen hatten. Die eingesperrte Luft verbreitete ringsum ein dumpfes, schweres Düster, als habe die lange Hast sogar das Schweigen schwermüthig gemacht. Die ärmlichen Fenster und Bettvorhänge fingen an, niederzufallen; der Staub lag dick auf ihren mürben Falten, und der feuchte Moder hatte sich durch Decke, Wände und Fußboden Bahn gebrochen. Die Dielen knarrten unter ihrem Tritte, als zürnten sie über die ungewohnten Eindringlinge; die hurtigen Spinnen hemmten, gelähmt von dem Scheine des Lichtes, die Bewegung ihrer hundert Beine an den Wänden, oder fielen wie leblose Geschöpfe auf den Boden; die Todtenuhr pickte laut und die behenden Füße der Ratten und Mäuse rasselten hinter dem Getäfel.

Als sie sich nach dem Möbelwerk umsahen, fühlten sich Beide mit merkwürdiger Lebhaftigkeit an die früheren Bewohner, mit denen sie sonst so vertraut gewesen, erinnert. Greif schien noch auf dem hohlehnigen Stühle zu sitzen, Barnaby, in seinem alten Lieblingswinkel neben dem Feuer zu kauern und die Mutter ihn wie vordem von ihrem gewohnten Sitze aus zu beobachten. Selbst als sie sich dieser Phantasieen entschlagen hatten, konnten sie derselben nicht ganz los werden, denn es war ihnen, als lauerten die Gestalten in den Alkoven und hinter den Thüren, jeden Augenblick bereit, hervorzutreten und sie mit den wohlbekannten Tönen anzureden.

Sie begaben sich wieder die Treppe hinunter nach dem Zimmer, das sie eben verlassen hatten. Herr Haredale schnallte seinen Degen los und legte ihn nebst ein paar Taschenpistolen auf den Tisch; dann erbot er sich, dem Schlosser nach der Thüre zu leuchten,

»Aber das ist ein trübseliger Ort, Sir,« sagte Gabriel zögernd. »Kann Niemand Eure Wache theilen?«

Er schüttelte den Kopf und bekundete dadurch so entschieden seinen Wunsch, allein zu seyn, daß Gabriel nichts mehr sagen konnte. Im nächsten Augenblicke befand sich der Schlosser auf der Straße, von wo aus er sehen konnte, daß das Licht wieder die Treppe hinauf wanderte, aber bald wieder nach der unteren Stube zurückkehrte, wo es hell durch die Ritzen der Fensterläden schien.

Wenn je ein Mensch vollkommen verblüfft und verwirrt war, so war es diesen Abend der Schlosser. Selbst als er behaglich wieder an seinem eigenen Herde saß – Frau Varden in der Schlafmütze und Nachtjacke ihm gegenüber und Dolly im bezauberndsten Negligée an seiner Seite, wie sie eben die Haare wickelte und lächelte, als ob sie in ihrem ganzen Leben nie geweint hätte, oder auch nur zu weinen im Stande wäre – selbst dann, trotz des Toby's an seiner Seite, der Pfeife in seinem Munde und des Schläfchens der Jungfer Miggs im Hintergrunde (was indeß vielleicht nicht viel heißen wollte) konnte er sich seines Staunens und seiner Unruhe nicht ganz entschlagen. Deßgleichen auch in seinen Träumen – immer stand Herr Haredale vor ihm, hager und sorgenvoll, wie er in dem einsamen Hause auf jeden Laut, jede Bewegung horchte, während das Licht durch die Ritzen schien, bis es im Lichte des Tages erblaßte, und so seiner einsamen Wache ein Ziel gesteckt wurde.



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