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Zwanzigstes Kapitel.

Stolz auf das ihr bewiesene Vertrauen und voll Selbstgefühl über die Wichtigkeit ihrer Sendung, hätten Alle im Hause ihr dieselbe ansehen können, wenn seine Bewohner Spaliere vor ihr gebildet hätten; da aber Dolly als Kind oft und vielmals in den öden Räumen und Fluren gespielt hatte und seitdem immer eine Freundin von Miß Haredale, ihrer Milchschwester, gewesen war, so war sie mit dem Gebäude so bekannt, wie die junge Dame selbst. Ohne sich daher einer größeren Vorsicht zu bedienen, als daß sie den Athem anhielt und an der Thüre des Bibliothekzimmers auf den Zehen vorbeischlüpfte, ging sie geradenwegs als ein privilegirter Besuch auf Emma's Zimmer zu.

Es war das angenehmste Gemach im ganzen Hause – zwar eben so düster als die übrigen, aber die Gegenwart von Jugend und Schönheit, wenn sie nicht etwa unglücklicherweise durch die Gefangenschaft hinwelkt, könnte sogar einen Kerker heiter machen und selbst dem düstersten Schauplatze Einiges von ihrem Zauber leihen. Vögel, Blumen, Bücher, Zeichnungen, Musikalien und hundert solche anmuthige Merkmale weiblicher Liebhabereien und Beschäftigungen füllten es mit mehr Leben und Sympathie, als das ganze übrige Gebäude bergen zu können schien. Es war Herz in dem Gemache, und wer, der ein Herz hat, erkennt nicht schnell die stumme Sprache eines Andern!

Dolly konnte sich unstreitig eines Herzens rühmen, und noch obendrein keines zähen, obgleich es etwas von Coquetterie umnebelt war, wie dieß zuweilen in der Morgensonne des Lebens der Fall ist, deren heiterer Glanz dadurch ein wenig getrübt wird. Als daher Emma aufstand, um sie zu begrüßen, ihr einen zärtlichen Kuß auf die Wange drückte und ihr in ihrer ruhigen Weise mittheilte, daß sie sehr unglücklich gewesen sey – da fühlte Dolly Thränen in ihren Augen und sie wurde über die Maßen betrübt; aber im nächsten Augenblicke schlug sie dieselben zufällig zu dem Spiegel auf, und dort fand sie denn wirklich etwas so ungemein Erfreuliches, daß sie unter ihrem Seufzen lächelte und sich ausnehmend getröstet fühlte.

»Ich habe davon gehört, Fräulein,« sagte Dolly, »und es ist gewiß sehr traurig; wenn aber eine Sache auf's Aeußerste kömmt, findet sich zuverlässig am ehesten Abhülfe.«

»Aber weißt du auch gewiß, daß es auf's Aeußerste gekommen ist?« fragte Emma mit einem Lächeln.

»Je nun, ich sehe in der That nicht, wie es sich möglicherweise noch schlimmer gestalten könnte,« antwortete Dolly. »Ich bringe aber etwas, womit sich anfangen läßt.«

»Doch nicht von Edward?«

Dolly nickte lächelnd und fühlte in ihren Taschen nach (man hatte damals noch Taschen), indem sie dabei that, als könne sie nicht finden, was sie suchte, was natürlich ihre Wichtigkeit noch sehr erhöhte, und endlich brachte sie den Brief zum Vorschein. Emma erbrach hastig das Siegel und vertiefte sich in den Inhalt, während inzwischen Dolly's Augen vermöge eines jener sonderbaren Zufälle, von denen man keine Rechenschaft geben kann, wieder nach dem Spiegel wanderten. Es nahm sie dabei nicht Wunder, daß der Kutschenmacher wohl recht viel zu leiden habe, und sie bedauerte recht eigentlich den armen Mann.

Es war ein langer – ein sehr langer Brief, denn der Bogen war auf allen vier Seiten voll und dann über's Kreuz geschrieben; aber er enthielt keine tröstliche Mittheilung, denn Emma hielt oft im Lesen inne und brachte von Zeit zu Zeit ihr Tuch an die Augen. Dolly war ungemein erstaunt, ihre Freundin so bekümmert zu sehen, denn sie meinte, eine Liebesangelegenheit sey der allerschönste Spaß und die schlaueste, lustigste Sache, die es im Leben geben könne. Sie kam jedoch bald zu dem Schlusse, daß all' dieß nur von Miß Haredale's Beständigkeit herrühre, und wenn sie es nur einmal mit einem andern jungen Gentleman versuchen wollte – gerade in der möglichst unschuldigen Weise, um dem ersten Liebhaber die Sache nicht ganz zu verleiden – so würde sie unaussprechlichen Trost daraus erholen.

»Gewiß und wahrhaftig, so würde ich's an ihrer Stelle halten,« dachte Dolly. – Es reicht zu und ist auch ganz recht, einen Liebhaber elend zu machen, aber selbst darüber unglücklich zu werden, ist doch ein Bischen zu viel!«

Es wollte jedoch nicht gehen, diese Ansicht auszusprechen, und deßhalb sah sie eben schweigend zu. Sie brauchte jedoch hiezu einen hübschen Geduldsvorrath, denn als der lange Brief einmal durchgelesen worden war, wurde wieder von vorn angefangen, und – auch dieß schien noch nicht zuzureichen, da auch zum dritten Mal wieder begonnen wurde. Während dieser langweiligen Beschäftigung suchte Dolly die Zeit auf die beste Weise, die sich ihr darbot, zu tödten, indem sie ihr Haar um die Finger kräuselte und es unter Beihülfe des vorerwähnten Spiegels in eigentlich mörderische Locken drehte.

Doch Alles nimmt endlich ein Ende, und auch verliebte junge Damen können nicht unablässig Briefe lesen. Im Laufe der Zeit wurde der Bogen wieder zusammengelegt, und es blieb jetzt nur noch übrig, eine Antwort zu schreiben.

Da dieß indeß eine eben so langweilige Arbeit zu werden schien, so sagte Emma, sie wolle dieselbe bis nach dem Essen verschieben, indem sie zu gleicher Zeit Dolly einlud, an ihrem Mahle Theil zu nehmen. Dolly hatte sich dieß bereits schon in den Kopf gesetzt, und so war nicht viel Drängens erforderlich; sobald demnach dieser Punkt im Reinen war, gingen sie in den Garten spazieren.

Sie schlenderten in den Terrassengängen hin und her, ohne Unterlaß plaudernd – wenigstens ging es bei Dolly in einem Zuge fort – und machten diesen Theil des trübseligen und traurigen Wohnortes ungemein lebhaft. Nicht, daß sie laut sprachen oder viel lachten, aber sie waren Beide so schön, und es war ein so luftiger Tag, und die leichten Gewänder und dunkeln Locken flatterten so frei und fröhlich in dieser Einsamkeit, und Emma war so wunderhübsch und Dolly so rosig, und Emma war so zart gebaut und Dolly so artig untersetzt, und – mit einem Worte, es gibt in keinem Garten Blumen, wie diese, was auch die Gärtner dagegen sagen mögen, und sowohl Haus und Garten schienen dieß zu wissen und sich darüber merklich aufzuheitern.

Dann kam das Essen und das Briefschreiben, dann noch einiges Geplauder, in dessen Verlauf Miß Haredale der Gelegenheit wahrnahm, Dolly wegen gewisser coquettirenden und flatterhaften Neigungen Verweise zu ertheilen – Anschuldigungen, die Letztere für eigentliche Komplimente zu nehmen schien, indem sie sich gewaltig darüber amüsirte. Als Emma fand, daß sie in dieser Beziehung ganz unverbesserlich sey, ließ sie ihren Gast ziehen, aber nicht ohne ihr zuvor jene wichtige, nicht sorgfältig genug zu verwahrende Antwort anvertraut und ein kleines Andenken, bestehend in einem hübschen Armband, beigefügt zu haben. Sie legte es ihr selbst an, empfahl ihr noch einmal, halb im Scherz, halb im Ernst, sich ihr schelmisches Wesen abzugewöhnen, denn sie wisse wohl, daß Joe ihr Herz besitze (was jedoch Dolly unter vielen stolzen Betheuerungen, daß sie hoffentlich noch Andere haben könne und dergleichen, hartnäckig in Abrede zog), und sagte ihr Lebewohl. Die wirkliche Entlassung folgte aber erst, nachdem sie des Schlossers Töchterlein noch einmal zurückgerufen hatte, um ihr eine Masse ergänzender Aufträge an Edward zu ertheilen, die Jemand mit zehnmal mehr Ernst, als Dolly Varden vernünftigerweise zuzumuthen war, kaum hätte merken können.

Dolly sagte ihr Lebewohl und huschte leicht die Treppe hinunter, bis sie an der gefürchteten Bibliothekzimmerthüre anlangte. Sie wollte eben wieder auf den Zehen vorbeischleichen, als diese aufging, und siehe! da stand Herr Haredale vor ihr. Nun hatte Dolly von Kindheit an stets die Idee von etwas Grimmigem und Gespenstigem mit diesem Herrn in Verbindung gebracht, und da sie außerdem in diesem Augenblick kein reines Gewissen besaß, so wurde sie über seinen Anblick so verwirrt, daß sie ihn weder zu grüßen noch wegzulaufen vermochte; sie that daher nur einen weiten Sprung und blieb dann zitternd und mit niedergeschlagenen Augen stehen.

»Komm her, Mädchen,« sagte Herr Haredale, indem er sie bei der Hand faßte. »Ich möchte etwas mit dir sprechen.«

»Entschuldigt mich, Sir, ich habe Eile,« stotterte Dolly, »und – und Ihr habt mich durch Euer plötzliches Herauskommen so erschreckt, Sir – ich möchte lieber gehen, Sir, wenn Ihr so gut sein wolltet, mir es zu erlauben.«

»Sogleich,« sagte Herr Haredale, der sie inzwischen in das Zimmer geführt und die Thüre geschlossen hatte. »Du sollst im Augenblick entlassen werden. Du kömmst eben von Emma?«

»Ja. Sir, in dieser Minute. – Der Vater wartet auf mich, Sir; wenn Ihr also die Güte haben wolltet – –«

»Ich weiß, ich weiß,« entgegnete Herr Haredale. »Aber beantworte mir zuvor eine Frage. Was hast du heute hieher gebracht?

»Hieher gebracht, Sir?« stotterte Dolly.

»Ich zweifle nicht, daß du mir die Wahrheit sagen wirst. Ja.«

Dolly zögerte eine Weile; endlich fühlte sie sich aber durch sein Benehmen ermuthigt und sagte:

»Wohlan denn, Sir, es war ein Brief.«

»Von Herrn Edward Chester, natürlich. Und du sollst auch die Antwort überbringen?«

Dolly stockte wieder, und da sie nicht wußte, wie sie sich anders aus der Sache ziehen könnte, brach sie in Thränen aus.

»Du beunruhigst dich ohne Grund,« sagte Herr Haredale. »Warum bist du so thöricht? Gewiß, du kannst mir doch antworten. Weißt du denn nicht, daß ich nur Emma zu fragen brauche, um die Wahrheit zu erfahren? Hast du die Antwort bei dir?«

Dolly hatte, wie man im gemeinen Leben zu sagen pflegt, ihr eigenes Köpfchen und machte, da sie sich jetzt so in der Klemme sah, den besten Gebrauch davon.

»Ja, Sir,« antwortete sie, vor Furcht zitternd. »Ja, Sir, ich habe sie. Aber Ihr sollt mich eher umbringen, Sir, als daß ich sie herausgebe. Es thut mir zwar leid – aber ich mag nicht. So, Sir.«

»Ich lobe deine Festigkeit und deine offene Sprache,« erwiederte Herr Haredale. »Beruhige dich übrigens, denn ich wünsche dir eben so wenig deinen Brief als dein Leben zu nehmen. Du bist ein sehr zuverlässiger Bote und ein gutes Mädchen.«

Nicht ganz überzeugt, wie sie nachher sagte, ob er nicht nach diesem Komplimente »über sie herfallen wolle,« hielt sich Dolly so fern als möglich, fing wieder an zu weinen, und entschloß sich, ihre Tasche, worin der Brief war, bis auf's Aeußerste zu vertheidigen,

»Ich habe im Sinne,« fuhr Herr Haredale nach einer kurzen Pause fort, während welcher sich, als er sie ansah, ein Lächeln durch das melancholische Düster kämpfte, das gewöhnlich sein Gesicht umlagerte, »meiner Nichte eine Gesellschafterin zu geben, denn sie führt hier ein so gar einsames Leben. Würde dir die Stelle gefallen? Du bist ihre älteste Freundin und am ehesten dazu berechtigt.«

»Ich weiß nicht, Sir,« antwortete Dolly, welche nicht ganz gewiß war, ob man sie nicht necke; »ich kann es nicht sagen. Ich weiß nicht, was man zu Hause davon halten würde, und kann daher keine eigene Meinung abgeben, Sir.«

»Wenn deine Verwandten nichts dagegen haben, würdest du wohl etwas einwenden?« fragte Herr Haredale. »Nun, das ist doch eine einfache Frage, auf welche dir die Antwort nicht schwer werden kann.«

»Ich habe nicht das Mindeste dagegen, Sir,« versetzte Dolly. »Natürlich würde es mich freuen, in Miß Emma's Nähe zu seyn, wie ich mich auch immer darauf freue, wenn ich sie besuchen darf.«

»Recht so,« sagte Herr Haredale. »Weiter will ich nicht von dir wissen. Du hast Eile – ich will dich nicht länger aufhalten.«

Dolly ließ sich dieß nicht zweimal sagen, denn die Worte waren kaum seinen Lippen entschlüpft, als sie sich schon aus dem Zimmer, aus dem Hause und wieder im Freien befand.

Das Erste, was nun geschah, als sie wieder zu sich kam und Ueberlegungen anstellte, was für eine Angst sie ausgestanden hatte, bestand darin, daß sie auf's Neue zu weinen anfing; und dann, als sie erwog, wie gut sie sich dabei benommen, fing sie an, herzlich zu lachen. Sobald die Thränen einmal verbannt waren, machten sie einem Lächeln Platz, und endlich lachte Dolly so aus Leibeskräften, daß sie sich an einen Baum lehnen mußte, um ihrem Jubel Luft machen zu können. Als sie vor Müdigkeit nicht länger konnte, setzte sie ihren Kopfputz zurecht, trocknete ihre Augen, sah sehr vergnügt und triumphirend nach dem Kaninchenhag zurück, dessen Schornsteine eben noch sichtbar waren, und nahm ihren Spaziergang wieder auf.

Es dämmerte bereits und wurde rasch dunkel; aber sie kannte den Weg aus früheren Zeiten so genau, daß sie kaum darauf achtete und jedenfalls keine Unruhe darüber empfand, daß sie allein war. Außerdem gab es ja eine Armspange zu bewundern, die sie, nachdem sie dieselbe tüchtig gerieben, auf Armslänge vor sich hinhielt, und dann glänzte und funkelte das Geschmeide so schön an ihrem Handgelenke, daß sie vollauf zu thun hatte, es von allen Richtungen und in jeder möglichen Schwenkung ihres Armes zu betrachten. Dann war auch der Brief da, und er sah so schlau und geheimnißvoll aus, als sie ihn aus ihrer Tasche nahm, und es stand, wie sie wußte, so viel drinnen, daß ihre Thätigkeit vollauf in Anspruch genommen wurde, indem sie ihn wieder und wieder umdrehte, Betrachtungen anstellte und sich mit Muthmaßungen trug, wie er wohl anfinge, wie er schlösse und was Alles darin gesagt sey. Sie hatte daher mit dem Armband und dem Brief gerade hinlänglich zu thun, um an nichts Anderes zu denken, und so ging sie denn heiter weiter, abwechselnd ihre Aufmerksamkeit bald dem einen, bald dem andern zuwendend.

Als sie an einem Orte, wo der mit Hecken und hin und wieder mit Bäumen gesäumte Pfad sich verengte, durch ein Pförtchen mußte, hörte sie dicht nebenan ein Rasseln, welches sie plötzlich  Halt machen ließ. Sie horchte. Alles war mäuschenstille, und sie ging weiter – nicht gerade scheu, aber doch schneller als vorhin, und vielleicht nicht ganz so unbekümmert, denn ein derartiges Begebniß ist doch immer etwas beunruhigend.

Sie war noch nicht weit gekommen, als sie denselben Ton wieder vernahm – ganz so, wie wenn Jemand verstohlen im Gebüsch und Unterholz weiter schleicht. Sie sah nach der Stelle, woher es zu kommen schien, und es war ihr fast, als könne sie eine geduckte Gestalt unterscheiden. Sie hielt wieder. Alles war so ruhig, wie zuvor. Sie fing abermals an, zu gehen – jetzt entschieden schneller – und versuchte es, leise vor sich hinzusingen. Es mußte wohl der Wind gewesen seyn.

Aber wie kam es, daß der Wind nur blies, wenn sie ging, und aufhörte, wenn sie stille stand? Während dieser Erwägung machte sie unwillkürlich Halt, und das Rauschen pausirte gleichermaßen. Jetzt wandelte sie wirklich eine Angst an, und sie überlegte eben, was sie thun sollte, als das Gebüsch rauschte und prasselte und ein Mann herausstürzte, der ihr geradezu in den Weg trat.



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