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Fünftes Kapitel.

Sobald das Geschäft des Tages vorüber war, machte sich der Schlosser allein auf den Weg, um den verwundeten Herrn zu besuchen und über die Fortschritte seiner Besserung Gewißheit einzuziehen. Das Haus, wo er ihn gelassen hatte, war in einer Nebengasse von Southwark, nicht weit von der London-Brücke, und dorthin eilte er nun, so schnell er konnte, da es ihm darum zu thun war, mit möglichst geringer Versäumniß zurückzukehren und zeitig in sein Bette zu kommen.

Der Abend war stürmisch – kaum besser, als die Nacht. Es wurde einem so stämmigen Mann, wie Gabriel, nicht so gar leicht, sich an den Straßenecken auf den Beinen zu erhalten, oder dem ungestümen Winde die Spitze zu bieten, der oft die Uebermacht über ihn gewann und ihn um einige Schritte zurücktrieb, oder ihn trotz aller seiner Kraftanstrengung zwang, unter einem Bogen oder einem Thorweg Schutz zu suchen, bis sich die Wuth des Stoßes erschöpft hatte. Hin und wieder kam ein Hut, oder eine Perücke, oder beides wie wahnsinnig wirbelnd und kreisend an ihm vorbei, und der noch ernstere Anblick von niederfallenden Ziegeln und Schieferstücken, oder von Mauermassen, Mörtel und dem Gesteine der Schornsteinkuppen, die da und dort splitternd auf das Pflaster niederprasselten, hoben das Vergnügen der Wanderung auf dem trübseligen Wege nicht sonderlich.

»Eine schlimme Nacht zum Ausgehen für einen Mann wie ich,« sagte der Schlosser, als er sachte an die Thüre der Wittwe klopfte. »Meiner Treu, ich wäre weit lieber in dem Kaminwinkel des alten John.«

»Wer ist da?« fragte eine weibliche Stimme von innen. Die Antwort darauf veranlaßte einen Bewillkommnungsgruß und die Thüre ging rasch auf.

Die Frau war ungefähr Vierzig – vielleicht zwei oder drei Jahre älter – freundlich anzusehen, und ihr Gesicht verrieth noch Spuren früherer Schönheit; aber auch Kummer und Sorge hatten ihre Furchen zurückgelassen, obgleich diese sich von lange her schreiben mußten, da die Zeit bereits wieder glättend eingewirkt hatte. Auch dem flüchtigsten Blicke hätte die Aehnlichkeit zwischen Barnaby und seiner Mutter auffallen müssen, obschon in dem Gesichte des Erstern eine ausdruckslose Wildheit lag, während sich in dem ihrigen die geduldige Fassung langer Kämpfe und ruhiger Ergebung nicht verkennen ließ.

Nur Etwas sprach aus diesem Gesichte befremdend und unheimlich an; selbst in seiner heitersten Stimmung konnte man es nicht ansehen, ohne zu fühlen, daß es eine außerordentliche Fähigkeit hatte, Schrecken auszudrücken. Es lag nicht auf der Oberfläche, nicht in irgend einem einzigen, bestimmten Zuge. Wenn man die Augen, den Mund oder die Linien der Augen betrachtete, so konnte man nicht sagen, wenn dieß oder jenes anders wäre, so würde es nicht so seyn. Und doch war stets etwas Leidendes da, nur undeutlich zu erkennen, aber doch war es da und verlor sich keinen Augenblick. Es war der schwächste, bleichste Schatten eines Blickes, wozu nur ein Moment des höchsten und unaussprechlichsten Entsetzens Anlaß gegeben haben konnte; aber trotz seiner Unbestimmtheit und Schattenhaftigkeit konnte man ahnen, was es für ein Blick gewesen seyn mußte, und das Ganze übte einen Eindruck auf den Geist, als hätte man es schon einmal im Traume geschaut.

Noch matter ausgedrückt und gleichsam der Kraft und Bedeutung ermangelnd wegen der hier stattfindenden Verstandesverwirrung, haftete der gleiche Stempel auch auf dem Antlitz des Sohnes. In einem Gemälde geschaut, hätte er eine Legende erzählen müssen, deren sich das Erinnerungsvermögen nicht so leicht würde entschlagen haben. Wer die Maibaumgeschichte kannte und sich noch vorstellen konnte, was die Wittwe war, ehe ihr Gatte und dessen Gebieter ermordet wurde, wußte es zu deuten. Er konnte sich noch vorstellen, wie dieser Wechsel gekommen war, und mußte noch wissen, daß der Sohn, der an demselben Tage geboren wurde, als man den Mord entdeckte, an dem Handgelenke ein Mal mit auf die Welt brachte, das wie ein halb ausgewaschener Blutleck aussah.

»Gott sey mit Euch, Nachbarin,« sagte der Schlosser, als er ihr mit der Zutraulichkeit eines alten Freundes in eine kleine Stube folgte, wo ein behagliches Feuer brannte.

»Und mit Euch,« antwortete sie lächelnd. »Euer gutes Herz hat Euch wieder hieher geführt. So weit ich Euch von Alters her kenne, kann Euch nichts zu Hause halten, wenn es gilt, irgend einem Freunde draußen einen Dienst zu leisten oder Trost zu bringen.«

»Bst! Bst!« versetzte der Schlosser, seine Hände reibend und sie über das Feuer haltend, »Ihr Weiber müßt doch immer plaudern. Wie geht's unserm Patienten, Nachbarin?«

»Er schläft jetzt. Gegen Morgen war er sehr unruhig und trieb sich einige Stunden ganz kläglich umher. Aber das Fieber hat ihn verlassen, und der Doctor sagt, es werde bald zum Bessern gehen. Vor morgen darf er aber nicht entfernt werden.«

»Er hat heute Besuch gehabt – hum?« fragte Gabriel schlau.

»Ja. Der alte Herr Chester ist immer da gewesen, seit wir nach ihm geschickt haben, und ging kaum erst vor einigen Minuten fort.«

»Kein Frauenzimmer?« fragte Gabriel weiter, indem er mit getäuschtem Blick die Augenbrauen in die Höhe zog.

»Ein Brief,« versetzte die Wittwe.

»Je nun, 's ist wenigstens etwas besser als gar nichts,« rief der Schlosser. »Wer brachte ihn?«

»Natürlich Barnaby.«

»Barnaby ist nicht mit Gold zu bezahlen,« sagte Herr Varden. »Er kommt und geht mit Leichtigkeit, wo wir, die wir uns um so viel weiser denken, eine ganz armselige Rolle spielen würden. Hoffentlich ist er doch nicht schon wieder auf der Wanderung?«

»Gott sey Dank, nein. Er ist in seinem Bette. Ihr wißt ja, daß er die ganze Nacht auf, und den ganzen Tag in Bewegung war, und da ist er denn jetzt ganz abgehetzt. Ah Nachbar, wenn ich ihn nur öfter so sehen könnte – wenn es mir nur möglich wäre, diese schreckliche Ruhelosigkeit zu bewältigen –«

»Es wird mit der Zeit gehen,« sagte der Schlosser freundlich; »es wird mit der Zeit gehen – nur nicht verzagt. Es kommt mir vor, als ob er mit jedem Tag verständiger würde.«

Die Wittwe schüttelte den Kopf. Und doch, obgleich sie wußte, daß der Schlosser nicht aus eigener Ueberzeugung, sondern nur ihr zu Gefallen so sprach, freute sie sich selbst über dieses Lob ihres armen verwirrten Sohnes.

»Er wird noch ein ganz gescheidter Mensch werden,« nahm der Schlosser wieder auf. »Gebt Acht, ob Barnaby uns nicht noch schamroth macht, wenn wir alt und kindisch werden – weiter sage ich nichts. Aber unser weiterer Freund« – fügte er bei, indem er unter dem Tisch und auf dem Boden umhersah – »der Schärfste und Schlauste unter allen Scharfen und Schlauen – wo ist er?«

»In Barnaby's Kammer,« entgegnete die Mutter mit einem matten Lächeln.

»Ach, er ist ein pfiffiger Kunde!« sagte Varden, den Kopf schüttelnd. »Ich möchte keine Geheimnisse vor ihm auskramen. O, er ist ein gründlicher Patron. Ich zweifle nicht, daß er lesen, schreiben und sogar rechnen könnte, wenn er nur wollte. Was war das? – klopft es an die Thüre?«

»Nein,« versetzte die Wittwe, »es kam, glaube ich, von der Straße. Horch! Ja, da ist's wieder! Es pocht Jemand leise an den Laden. Wer mag das seyn?«

Sie hatten nur flüsternd gesprochen, denn der Kranke lag über ihnen, und Wand und Diele waren so dünn und ärmlich gebaut, daß der Ton ihrer Stimme seinen Schlummer hätte stören können. Wer also auch vor dem Fensterladen stehen mochte, ein Mitanhören ihres Gesprächs wäre unmöglich gewesen; und da die außen befindliche Person das Licht durch die Ritzen scheinen sah und alles so ruhig fand, so konnte sie wohl glauben, daß nur ein einziger Mensch im Zimmer sey.

»Irgend ein Dieb oder Jauner,« sagte der Schlosser. »Gebt mir das Licht.«

»Nein, nein,« entgegnete sie hastig, »Solche Besuche kommen nie in diese arme Wohnung. Bleibt hier. Im schlimmsten Fall hört Ihr mich ja rufen. Ich möchte lieber selbst und allein gehen.«

»Warum?« fragte der Schlosser, der nur ungern das Licht, das er vom Tische weggenommen hatte, wieder zurückstellte.

»Weil – ich weiß nicht warum – aber weil mich der Wunsch so plötzlich anwandelt,« antwortete sie. »Da, schon wieder – haltet mich nicht auf. – Ich bitte Euch.«

Gabriel blickte ihr nach, erstaunt, sie, die sonst so mild und ruhig war, jetzt über einen so geringen Anlaß so aufgeregt zu sehen. Sie verließ die Stube und zog die Thüre hinter sich zu. Einen Moment blieb sie zaudernd, die Hand auf die Klinke gelegt, stehen, und in diesem kurzen Augenblicke wiederholte sich das Pochen abermals, worauf eine Stimme dicht vor dem Fenster –eine Stimme, welcher sich der Schlosser zu erinnern und mit irgend einem unangenehmen Vorfall in Verbindung zu bringen schien – flüsterte: »Beeilt Euch!«

Die Worte wurden mit jener leisen, aber dennoch bestimmten Stimme gesprochen, welche ihren Weg so leicht in das Ohr der Schläfer findet und ein entsetztes Erwachen veranlaßt. Für einen Augenblick erschrak sogar der Schlosser, denn er fuhr unwillkürlich von dem Fenster zurück; dann horchte er.

Der in dem Schornstein heulende Wind machte es schwer, zu unterscheiden, was draußen vorging. Demungeachtet aber vernahm er, daß sich die Thüre öffnete und der Tritt eines Mannes über die Dielen knarrte. Dann ein augenblickliches Schweigen – unterbrochen durch einen dumpfen Ton, der weder ein Schrei, noch ein Stöhnen, noch ein Hülferuf war, und doch jedes von allen dreien seyn konnte; und endlich die Worte: »Mein Gott!« ausgesprochen in einem Tone, ob dem ihm das Herz in der Brust erstarrte!

Im Nu befand er sich außen. Da war endlich auf ihrem Antlitz jener entsetzliche Blick – derselbe, der ihm so bekannt zu seyn schien, und den er doch nie zuvor gesehen hatte. Da stand sie, wie an die Erde gewurzelt, mit hervorspringenden Augen, leichenfahlen Wangen, und jeden Zug starr und gespenstig auf den Mann heftend, der ihm im Dunkel der Nacht begegnet war. Seine Augen trafen auf die des Schlossers. Es war nur ein Blitz, ein Augenblick, ein Hauch auf polirtem Glase – und weg war er.

Der Schlosser stürzte ihm nach – er faßte fast den Saum seines fliegenden Gewandes, als er seinen Arm plötzlich dicht umfaßt fühlte, und die Wittwe sich vor ihm auf' die Erde warf.

»In diese Richtung – in diese Richtung« – rief sie. »Er ist in diese Richtung gegangen. Zurück – zurück!«

»Was, in diese Richtung! Ich sehe ihn ja noch!« entgegnete der Schlosser, auf den Flüchtigen deutend. »Dort – da – da gleitete sein Schatten an jenem Licht vorbei. Was – wer ist dieser Mensch? Laßt mich los!«

»Kommt zurück, kommt zurück!« rief das Weib, mit ihm ringend und sich an ihn klammernd. »Rührt ihn nicht an, so lieb Euch Euer Leben ist! Ich befehle Euch, kommt zurück! Er trägt noch Anderer Leben bei sich, außer seinem eigenen. Zurück!«

»Was soll das heißen?« rief der Schlosser.

»Kümmert Euch nicht darum, was es heißen soll. Fragt nicht, fragt nicht, denkt nicht daran. Er ist nicht der Mann, der sich verfolgen, fassen oder halten läßt. Kommt zurück!«

Der alte Mann schaute sie verwundernd an, wie sie mit ihm rang und sich an ihn heftete. Erschüttert durch ihre Leidenschaftlichkeit, ließ er sich von ihr nach dem Hause zurückschleppen. Erst als sie die Thüre doppelt verschlossen, jeden Riegel und Querbalken mit der Hast und der Wuth einer Wahnsinnigen vorgeschoben und ihn in das Zimmer zurückgezogen hatte, wandte sie ihm wieder jenen versteinernden Blick des Entsetzens zu, bedeckte, in einen Stuhl sinkend, ihr Gesicht, und schauderte, als ob die Hand des Todes auf ihr läge.



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