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Siebenzehntes Kapitel.

Es war eine frostige Nacht und das Feuer in der Wohnstube der Wittwe fast aufgebrannt. Ihr sonderbarer Begleiter setzte sich auf einen Stuhl, beugte sich gegen die halberloschenen Kohlen nieder, streifte sie zusammen und sachte sie mit seinem Hute an. Von Zeit zu Zeit schaute er über seine Schultern nach der Wittwe hin, als wollte er sich überzeugen, daß sie sich ruhig verhielt und keinen Fluchtversuch machte, worauf er sich wieder mit dem Feuer beschäftigte. Er nahm sich allerdings nicht ohne Grund diese Mühe, denn seine Kleider waren von Nässe getränkt, seine Zähne klapperten vor Kälte und er selbst schauderte am ganzen Leibe. Es hatte die ganze vorige Nacht und auch einige Stunden des Morgens stark geregnet, aber seit Mittag war es schön gewesen. Wo er sich auch in den Stunden der Dunkelheit aufgehalten haben mochte, sein Aeußeres bekundete hinreichend, daß er sie meistens unter freiem Himmel verbracht hatte. Mit Koth bespritzt, die nassen Kleider an den Gliedern klebend, der Bart ungeschoren, das Gesicht ungewaschen, die Wangen tief eingesunken – nicht leicht konnte es einen erbarmungswürdigeren Menschen geben, als dieser Mann, der sich jetzt vor dem Kamine der Wittwe niederkauerte und mit Blut unterronnenen Augen die kämpfende Flamme bewachte.

Die Wittwe hatte das Gesicht mit ihren Händen bedeckt, augenscheinlich, weil sie sich fürchtete, nach ihm hinzusehen. So verblieben sie eine kleine Weile in tiefem Schweigen. Endlich sah der Mann um und fragte:

»Ist dieß Euer Haus?«

»Ja; aber um Gotteswillen, warum müßt Ihr mir es verfinstern?«

»Gebt mir zu essen und zu trinken,« antwortete er verdrießlich, »oder ich bin so keck, noch mehr als dieß zu thun. Hunger und Nässe haben meine Knochen bis in's Mark erkältet, Ich brauche Wärme und Atzung, und will dieß hier haben.«

»Ihr wart der Räuber auf dem Chigwellwege?«

»Ja.«

»Demnach fast ein Mörder?«

»Am Willen hat's wenigstens nicht gefehlt. Es kam aber Einer über mich, der ein Mordiogeschrei erhob und mir dafür hätte büßen sollen, wäre er nicht so geschwind gewesen. Ich stieß nach ihm.«

»Ihr stießt mit dem Schwert nach ihm!« rief die Wittwe, gen Himmel blickend. »Gott, du hörst diesen Mann! Du hörst und sahst ihn!«

Er schaute ihr zu, wie sie mit zurückgeworfenem Haupte und flehentlich verklammerten Händen diese Worte gen Himmel sandte. Als sie sich dann wieder aufrichtete, stand auch er auf und trat ihr näher.

»Nehmt Euch in Acht!« rief sie mit unterdrückter Stimme und einer Festigkeit, die ihn mitten auf seinem Wege Halt machen ließ. »Wenn Ihr mich auch nur mit einem Finger anrührt, so seyd Ihr verloren – verloren an Leib und Seele.«

»Hört mich,« entgegnete er, indem er ihr mit der Hand drohte. »Ich, der ich in menschlicher Gestalt das Leben eines gehetzten Thieres führe, der ich ein verkörperter Geist bin, ein Gespenst auf Erden, ein Wesen, vor dem alle Geschöpfe zurückbeben, die fluchbeladenen Höllenbewohner ausgenommen, die nicht von mir lassen wollen – ich bin in der Verzweiflung dieser Nacht weit über alle Furcht erhaben und scheue nichts, als die Hölle, in welcher ich Tag für Tag lebe. Macht immerhin Lärm, ruft Leute herbei und verweigert mir ein Obdach. Ich werde Euch nichts zu Leide thun. Aber lebendig lasse ich mich nicht greifen, und sobald Ihr zu rufen droht, falle ich, ein todter Mann, auf diesen Boden nieder. Das Blut, womit ich ihn beflecke, komme über Euch und die Eurigen, im Namen des bösen Geistes, der die Menschen in ihr Verderben lockt!«

Während er so sprach, nahm er eine Pistole aus seiner Brusttasche und hielt sie fest mit seiner Hand umfaßt.

»Nimm diesen Menschen von mir, guter Gott!« rief die Wittwe. »Ach, gib ihm in deiner Gnade und Barmherzigkeit nur eine einzige Minute Buße und laß ihn sterben!«

»Er hat nichts Solches im Sinne,« sagte er, ihr entgegentretend. »Er ist taub. Gebt mir zu essen und zu trinken, damit ich die That unterlasse. Er kann mich nicht daran verhindern, und wird es auch um Euretwillen nicht thun wollen.«

»Wollt Ihr dann gehen, wenn Ihr Speise und Trank erhalten habt? Wollt Ihr mich verlassen und nie wieder herkommen?«

»Ich verspreche nichts,« entgegnete er, indem er sich am Tische niederließ, »nichts, als dieß, daß ich meine Drohung vollstrecke, wenn Ihr Verrath gegen mich im Schilde führt.«

Sie stand endlich auf, begab sich nach einem Wandschrank in der Stube und holte einige Ueberreste von Brod und kalter Küche heraus, die sie auf den Tisch stellte. Er forderte Branntwein und Wasser. Auch dieß schaffte sie bei, und er aß und trank mit der Gefräßigkeit eines ausgehungerten Wolfes. Während er so beschäftigt war, hielt sie sich in der fernsten Ecke des Gemachs und blieb dort schaudernd sitzen, das Gesicht ihm zugekehrt. Nicht ein einzigesmal wandte sie ihm den Rücken zu, und obgleich sie, wenn sie an ihm vorbei mußte, was immer der Fall war, so oft sie sich an dem Schranke zu schaffen machte, die Säume ihres Kleides an sich zog, als erschräcke sie schon ob dem Gedanken, daß sie ihn zufällig damit streifen könnte, so faßte sie ihn doch fest in's Auge und bewachte jede seiner Bewegungen.

Sobald sein Mahl zu Ende war – wenn man anders ein Mahl nennen kann, was nur ein gefräßiges Befriedigen der Anforderungen des Hungers war – rückte er seinen Stuhl wieder an das Feuer, wärmte sich vor der Flamme, die jetzt hell aufloderte, und begann abermals:

»Ich bin ein Ausgestoßener, dem ein Dach über dem Haupte oft ein ungemeiner Luxus, und die Kost, die ein Bettler zurückweisen würde, ein köstliches Mahl ist. Ihr wohnt hier sehr gemächlich. Lebt Ihr allein?«

»Nein,« brachte sie mit Mühe hervor.

»Wer wohnt außerdem hier?«

»Einer – gleichviel, wer. Ihr thätet besser, Euch von hinnen zu machen, damit er Euch hier nicht finde. Warum zögert Ihr noch?«

»Weil's hier warm ist,« versetzte er, die Hände vor dem Feuer ausbreitend. »Weil's hier warm ist. Ihr seyd reich vielleicht?«

»Sehr,« entgegnete sie mit matter Stimme. »Sehr reich. Kein Zweifel, daß ich sehr reich bin.«

»Wenigstens seyd Ihr nicht ohne einige Baarschaft. Ihr müßt etwas besitzen, denn Ihr habt heute Abend Einkäufe gemacht.«

»Es ist wenig übrig geblieben. Kaum ein paar Schillinge.«

»Gebt mir Euren Beutel. Ihr hattet ihn an der Thüre in der Hand. Gebt ihn her.«

Sie trat an den Tisch und legte ihn hin. Er griff darnach, nahm ihn und zählte sich den Inhalt auf die Hand. Inzwischen horchte sie einen Augenblick auf und sprang dann auf ihn zu.

»Nehmt, was darin ist, nehmt alles; Ihr könntet noch mehr haben, wenn da wäre, aber geht nur fort, ehe es zu spät ist. Ich habe draußen einen unstäten Tritt gehört, den ich nur zu gut kenne. Er wird alsbald wiederkehren. Entfernt Euch!«

»Was meint Ihr damit?«

»Haltet Euch nicht mit Fragen auf. Ich will nicht antworten. So sehr ich mich scheue, Euch anzurühren, so möchte ich Euch doch lieber nach der Thüre schleppen, wenn ich die Kraft dazu besäße, als daß Ihr noch einen Augenblick länger verziehen solltet. Elender! flieht von dieser Stelle!«

»Wenn Spionen außen sind, so bin ich hier sicherer,« entgegnete der Mann erschreckt. »Ich will hier bleiben und nicht fliehen, bis die Gefahr vorüber ist.«

»Es ist zu spät!« rief die Wittwe, welche nur auf die Tritte, nicht aber auf den Mann in ihrem Zimmer gehorcht hatte. »Hört Ihr diesen Fußtritt auf dem Boden? Zittert Ihr nicht bei dem Schalle? Es ist mein Sohn, mein wahnwitziger Sohn!«

Sie sprach dieß nur in wirren Lauten, als sich ein schweres Klopfen an der Thüre vernehmen ließ. Die beiden blickten sich gegenseitig an.

»Laßt ihn hereinkommen.« sagte der Mann finster. »Ich fürchte ihn weniger, als die dunkle, obdachlose Nacht. Er klopft wieder. Laßt ihn herein!«

»Das Entsetzen dieser Stunde,« entgegnete die Wittwe, »hat mein ganzes Leben auf mir gelastet, und ich will nicht. Es kann ihm Unheil zustoßen, wenn ihr euch Auge in Auge gegenübersteht. Mein unglücklicher Sohn! Oh, ihr guten Engel alle, die ihr die Wahrheit kennt – hört auf das Flehen einer armen Mutter und erspart meinem Sohne das Elend, diesen Menschen kennen zu lernen!«

»Er rasselt an den Läden!« erwiederte der Mann. »Er ruft Euch. Diese Stimme! – so ist er es gewesen, der mich auf der Straße anfiel – ist's so?«

Sie war in die Knie gesunken und lag am Boden, zwar die Lippen bewegend, aber völlig außer Stande, einen Ton hervorzubringen. Während er sie so ansah, ohne zu wissen, was er thun, oder wohin er sich wenden sollte, flog der Fensterladen auf. Er hatte kaum Zeit, ein Messer von dem Tische wegzunehmen, es in den weiten Aermel seines Rockes zu stecken und sich in dem Speiseschrank zu verbergen, was alles mit der Schnelligkeit des Blitzes geschah, als Barnaby bereits an die bloße Scheibe klopfte und jubelnd das Schiebfenster in die Höhe hob.

»Ei, wer kann Greif und mich hinaussperren?« rief er, den Kopf hereinstreckend und sich im Zimmer umsehend. »Seyd Ihr da, Mutter? Wie lange soll uns Feuer und Licht versagt bleiben?«

Sie stammelte eine Entschuldigung und reichte ihm die Hand. Barnaby bedurfte jedoch eines solchen Beistandes nicht, sondern sprang behend herein, schlang seine Arme um ihren Nacken und küßte sie zu hundertmalen.

»Wir waren im Feld draußen, Mutter – hüpften über Gräben, krochen durch Hecken, sprangen steile Ufer hinab, hinauf und davon, und eilten weiter. Der Wind hat geblasen, und die Binsen und jungen Pflanzen beugten und bückten sich vor ihm, damit er ihnen kein Leides thue – die Feiglinge – und Greif – ha, ha, ha! Braver Greif, der sich um nichts kümmert, und wenn der Wind ihn im Staube überkugelt, sich männlich aufrichtet und nach ihm beißt – Greif, kühner Greif – hat sich mit jedem sich beugenden Zweigchen gezankt – in der Meinung, es wolle ihn necken, wie er mir sagt – und hat es zerzaußt wie ein Bullenbeißer. Ha, ha, ha!«

Da der Rabe in dem kleinen Korbe auf dem Rücken seines Herrn so oft seinen Namen im Tone des Jubels aussprechen hörte, so drückte er seine Theilnahme dadurch aus, daß er wie ein Hahn krähte, und dann seinen übrigen Phrasenvorrath mit solcher Schnelligkeit und in so wechselnden, heiseren Tonarten abhaspelte, daß man das Gemurmel eines ganzen Volkshaufens zu hören glaubte.

»Und außerdem nimmt er auch mich gewaltig in seine Obhut!« sagte Barnaby. »Er wacht immer, wenn ich schlafe, und schließe ich meine Augen, um ihn glauben zu machen, daß ich schlummere, so wiederholt er leise seine neuen Uebungsstücke; dabei faßt er mich aber immer in's Auge, und wenn er mich lachen sieht, wäre es auch noch so wenig, so hält er augenblicklich inne. Er will mich nicht überraschen, bis er es zu einer Vollkommenheit gebracht hat.«

Der Rabe krähte wieder auf eine ganz entzückte Weise, die offenbar also verstanden werden mußte, daß dieß gewiß einige seiner Meisterproben wären und er darauf stolz sein dürfte. In der Zwischenzeit schloß Barnaby das Fenster, worauf er nach dem Herde zurückkehrte und sich anschickte, mit dem Gesichte gegen den Wandschrank gekehrt, Platz zu nehmen. Doch die Mutter verhinderte dieß, indem sie sich hastig selbst auf diese Seite setzte und dem Sohne nach der andern winkte.

»Wie blaß Ihr heute Abend ausseht!« sagte Barnaby, indem er sich auf seinen Stock stützte. »Wir sind grausam gewesen, Greif, und haben ihr Angst gemacht!«

Angst hatte sie allerdings, und auch ihr Herz war tief bekümmert! Der Horcher hielt die Thüre seines Versteckes mit der Hand offen und beobachtete ihren Sohn scharf. Greif, der, ohne daß sein Herr es wußte, auf Alles Acht gab, hatte seinen Kopf aus dem Korbe hervorgestreckt und faßte seinerseits den Fremden aufmerksam in's Auge.

»Er schlägt mit den Flügeln,« sagte Barnaby, indem er sich so schnell umwandte, daß er beinahe den sich zurückziehenden Kopf und das Zugehen der Thüre hätte bemerken können, »als ob Fremde da wären. Doch Greif ist zu klug, um sich etwas der Art einzubilden. So mache denn deinen Sprung!«

Der Vogel nahm diese Einladung mit der ihm eigenthümlichen Würde hin und hüpfte auf die Schulter seines Herrn, dann auf dessen ausgestreckte Hand und von da auf den Boden. Barnaby legte sofort den Korb ab und stellte ihn mit offenem Deckel in eine Ecke, worauf es Greif's erste Sorge war, ihn mit möglichster Eile zu schließen und sich darauf zu stellen. Da er nun ohne Zweifel glaubte, er habe es durchaus unmöglich gemacht, ihn wieder hineinzustecken, so zog er triumphirend eine große Menge Stöpsel aus, dazwischen eine entsprechende Anzahl Hurrahs schallen lassend.

»Mutter!« sagte Barnaby, indem er seinen Hut und Stock bei Seite legte und nach dem Stuhl zurückkehrte, von dem er aufgestanden war, »ich will Euch sagen, wo wir heute gewesen sind und was ich gethan habe – soll ich?«

Sie ergriff seine Hand, hielt sie fest und nickte, da sie außer Stande war, ein Ja hervorzubringen.

»Ihr müßt's aber nicht weiter erzählen,« sagte Barnaby, indem er seinen Finger in die Höhe hob, »denn es ist ein Geheimniß, von dem nur ich, Greif und Hugh etwas weiß. Wir hatten zwar den Hund bei uns, aber so pfiffig er auch ist, so kann er doch nicht mit Greif verglichen werden, und ich wette, daß er es nicht auffindet. – Warum seht Ihr so über meinen Rücken?«

»That ich dieß?« antwortete sie mit matter Stimme, »so geschah es unwillkürlich. Komm ein wenig näher.«

»Ihr fühlt Euch beängstigt, Mutter!« sagte Barnaby, die Farbe wechselnd. »Seht Ihr etwa –«

»Was?«

»'s ist doch nichts von diesem da hier herum?« antwortete er flüsternd, indem er näher an sie rückte und auf das Mal an seinem Handgelenk deutete. »Ich fürchte fast, es ist so. Ihr macht, daß mir das Haar zu Berge steht und ein Schauder meinen Körper überläuft. Warum macht Ihr solche Augen? Ist es in der Stube da, wie ich es in meinen Träumen gesehen habe, Decke und Wände roth bespritzend? Sagt mir – ist's so?«

Während er diese Frage stellte, überflog ihn ein Schauder, und die Augen mit seinen Händen bedeckend saß er da, bis es vorüber war. Nach einer Weile richtete er den Kopf auf und blickte umher.

»Ist es fort?«

»Es ist nichts da gewesen,« antwortete seine Mutter, ihn beruhigend. »Gewiß nichts, lieber Barnaby. Du siehst ja, daß wir beide allein sind.«

Er sah sie ausdruckslos an, und nachdem er sich allmälig gefaßt hatte, brach er in ein wildes Lachen aus.

»Aber laßt uns sehen,« sagte er nachdenkend. »Wir haben gesprochen? Wir Beide? Wo waren wir?«

»Nirgends, als hier.«

»Richtig, nur Hugh und ich,« fuhr Barnaby fort – »das ist es. Ihr kennt ihn ja – Maibaum Hugh, und ich, und Greif – wir haben in dem Forst gelegen und uns unter den Bäumen am Wege versteckt – eine Blendlaterne bei uns und den Hund in einer Schlinge, um ihn loslassen zu können, wenn der Mann vorbei käme.«

»Welcher Mann?«

»Der Räuber; er, dem die Sterne zugesehen haben. Wir warteten schon manche Nacht im Dunkeln auf ihn und werden ihn wohl noch kriegen. Ich kenne ihn unter Tausenden heraus. Mutter, seht her! Dieß ist der Mann. Schaut!«

Er knüpfte sein Schnupftuch um den Kopf, drückte den Hut in seine Stirne, knöpfte den Rock zu und trat vor sie hin – so ganz dem Originale gleich, welches er abkonterfeite, daß die dunkle Gestalt, welche in dem Hintergrunde lauerte, recht wohl als der Schatten dazu hätte gelten können.

»Ha, ha, ha! Wir werden ihn fassen,« rief er, der Maskerade sich so schnell wieder entledigend, als er sie angenommen hatte. »Ihr sollt ihn sehen, Mutter, an Händen und Füßen gebunden, und nach London gebracht in einem Sattelgurt;wenn es uns glückt, so sollt ihr hören von ihm am Galgenbaum. Hugh sagt so. Ihr werdet aber schon wieder blaß und zittert. Und warum schaut Ihr so über meinen Rücken?«

»Es ist nichts,« antwortete sie. »Ich fühle mich nicht ganz wohl. Gehe zu Bette und laß mich hier.«

»Zu Bette?« entgegnete er. »Ich mag nicht in's Bett. Ich liege lieber vor dem Feuer und betrachte mir die Aussichten in den glühenden Kohlen – die Flüsse, die Berge und Täler in dem tiefen rothen Sonnenuntergang und die wilden Gesichter. Auch hungert es mich, und Greif hat seit Mittag nichts zu essen gekriegt. Gebt uns etwas zu Nacht. Greif! Ein Nachtessen, Junge!«

Der Rabe schlug mit den Flügeln, gab seine Freude durch Krächzen zu erkennen, hüpfte zu den Füßen seines Meisters und sperrte seinen Schnabel auf, um die Stücke, die man ihm etwa zuwarf, aufzufangen. Von diesen erhielt er ein paar Dutzende in der Reihenfolge, ohne dadurch im mindesten aus der Fassung gebracht zu werden.

»So, jetzt ist's alle,« sagte Barnaby.

»Mehr,« rief Greif. »Mehr!«

Sobald er aber Gewißheit hatte, daß nichts mehr zu bekommen war, zog er sich mit seinem Vorrathe zurück, würgte die Bissen nach einander wieder heraus, und verbarg sie an verschiedenen Ecken, vermied aber äußerst sorgfältig den Wandschrank, als zweifle er, ob der verborgene Mann wohl auch geneigt oder im Stande sey, der Versuchung solcher Schätze zu widerstehen. Sobald er seine Vorkehrungen beendigt hatte, spazierte er mit ausgesucht erkünstelter Gleichgültigkeit, ohne jedoch das eine Auge von seinem Reichthume zu verwenden, etlichemal durch das Zimmer, und nun erst begann er, ihn Stück für Stück hervorzuholen und mit größtem Behagen aufzuzehren.

Barnaby ließ sich sein Mahl gut schmecken, ohne jedoch seine Mutter vermögen zu können, daran Theil zu nehmen. Einmal gebrach es ihm an etwas Brod, weßhalb er aufstand, um es aus dem Schranke zu holen; aber sie kam ihm eilig zuvor und brachte es ihm selbst, für ihren Gang nach dem Verschlage ihre äußersten Kräfte aufbietend.

»Mutter,« sagte Barnaby, indem er sie fest in's Auge faßte, als sie sich unmittelbar darauf an seiner Seite niederließ; »ist heute mein Geburtstag?«

»Heute?« fragte sie. »Weißt du nicht, daß er erst vor einer Woche war, und daß Sommer, Herbst und Winter darüber verfließen müssen, ehe er wiederkehrt!«

»Ich erinnere mich, daß es bisher so gewesen ist. Aber ich denke demungeachtet, daß heute mein Geburtstag seyn muß.«

Sie fragte ihn, warum?

»Das will ich Euch sagen,« antwortete er. »Ich habe immer gesehen, obgleich ich es Euch nicht wissen lassen wollte, daß Ihr an dem Abende dieses Tages sehr traurig wurdet. Ich war Zeuge, wie Ihr weintet, während Greif und ich am lustigsten waren, und wie Ihr ganz scheu aussahet, ohne daß ein Grund vorhanden war; auch habe ich Eure Hand angerührt und gefühlt, daß sie kalt war – wie sie es jetzt ist. Einmal, Mutter – es war auch an meinem Geburtstag – dachten Greif und ich darüber nach, als wir nach dem Bette hinaufgegangen waren, und Schlag Ein Uhr kamen wir zu Eurer Thüre herunter, um zu sehen, ob Ihr auch ganz wohl wäret. Da lagt Ihr auf Euren Knien. Ich habe vergessen, was Ihr sagtet. Greif, was haben wir sie in jener Nacht sprechen hören?«

»Ich bin ein Teufel!« entgegnete der Rabe rasch.

»Nicht doch,« entgegnete Barnaby. »Aber Ihr sagtet etwas im Gebet, und als Ihr aufstandet und umherginget, saht Ihr gerade so aus, wie jetzt, und wie es seitdem immer an dem Abend meines Geburtstages der Fall war. Seht Ihr, ich habe das aufgefunden, obgleich ich thöricht bin; und daher sage ich Euch, Ihr habt Unrecht, denn heute muß mein Geburtstag seyn – mein Geburtstag. Greif!«

Der Vogel nahm diese Kunde mit einem so langen Krähen hin, wie man es wohl von einem Hahn, der vor allen andern seines Geschlechtes mit Vernunft begabt ist, hören würde, wenn er damit den längsten Tag einführen müßte. Dann rief er, als hätte er gehörig nachgedacht und nichts Passenderes als Geburtstagsgratulation aufgefunden, zu wiederholtenmalen: »Nichts da von sterben!« und schlug dazu nachdrücklich mit seinen Flügeln.

Die Wittwe versuchte, Barnaby's Bemerkung mit Gleichgültigkeit zu behandeln, und gab sich Mühe, seine Aufmerksamkeit auf einen andern Gegenstand abzulenken, was, wie sie wohl wußte, zu allen Zeiten nur eine allzuleichte Aufgabe war. Sobald Barnaby sein Nachtessen beendigt hatte, streckte er sich, ohne ihrer Bitten zu achten, auf der Matte vor dem Feuer aus, während Greif sich auf sein Bein setzte,und sich die Zeit damit vertrieb, daß er bald in der behaglichen Wärme nickte, bald, wie es den Anschein hatte, ein neues Kunststück sich in's Gedächtniß zu rufen versuchte, das er den Tag über eingeübt hatte.

Es folgte nun ein langes und tiefes Schweigen, nur hin und wieder von Seiten Barnaby's, der die weit offenen Augen aufmerksam auf das Feuer heftete, durch eine Veränderung seiner Lage oder von Seiten Greif's durch seine Memorirversuche unterbrochen, der bisweilen in 1eifer Stimme rief: »Polly setz' den Kess  –,« dann aber, weil er den Rest vergessen hatte, abbrach und in seiner Träumerei fortfuhr.

Nach einer langen Pause wurden Barnaby's Athemzüge tiefer und regelmäßiger, und seine Augen schlossen sich. Aber selbst dann noch entfaltete der unruhige Geist des Rabens je zuweilen seine Thätigkeit. »Polly setz' den Kess  –,« rief Greif, und sein Gebieter wachte wieder hell auf.

Endlich lag Barnaby in tiefem Schlafe. Der Vogel hatte den Schnabel auf die Brust gesenkt und sich selbst so gemächlich wie ein Alderman aufgeblasen, während sein funkelndes Auge immer kleiner und kleiner wurde und allmälig in eine Art von Schlummer überzugehen schien. Hin und wieder murmelte er noch in einem Grabestone: »Polly setz' den Kess  –,« aber sehr schläfrig und mehr wie ein betrunkener Mensch, als wie ein nachdenkender Rabe.

Die Wittwe, welche sich kaum zu athmen getraute, stand von ihrem Sitze auf. Der Mann huschte aus dem Schrank heraus und löschte das Licht.

»–ssel auf!« rief Greif in großer Aufregung, da ihm plötzlich der Schluß des Satzes einfiel. »–ssel auf. Hurrah! Polly, setz' den Kes-sel auf, wir wollen Alle Thee haben: Polly, setz' den Kes-sel auf, wir wollen Alle Thee haben. Hurrah, hurrah, hurrah! Ich bin ein Teufel, ich bin ein Teufel, ich bin ein Kes-sel auf! Nur lustig; nichts da von sterben! Wau, wau, wau! Ich bin ein Teufel, ich bin ein Kes-sel, ich bin ein – Polly, setz' den Kes-sel auf, wir wollen Alle Thee haben!«

Sie standen, wie an den Boden gewurzelt,als ob sie eine Stimme aus dem Grabe gehört hatten.

Doch selbst dieß vermochte den Schläfer nicht zu wecken. Er drehte sich nach dem Feuer um; sein Arm fiel auf den Boden und sein Kopf sank schwerfällig darauf nieder. Die Wittwe und ihr unwillkommener Gast betrachteten eine Weile ihn und dann sich selber, worauf Erstere dem Letzteren nach der Thüre winkte.

»Halt,« flüsterte er, »Ihr gebt Eurem Sohne schöne Lehren.«

»Was Ihr heute Nacht von ihm gehört habt, hat er nicht von mir gelernt. Doch jetzt entfernt Euch augenblicklich, oder ich wecke ihn.«

»Ihr habt die Wahl. Soll ich ihn wecken?«

»Erdreistet Euch nicht!«

»Ich habe Euch bereits gesagt, daß ich mich zu Allem erdreiste. Er kennt mich gut, wie es scheint. So will ich denn auch wenigstens ihn kennen lernen.«

»Wollt Ihr ihn im Schlafe tödten?« rief die Wittwe, indem sie sich zwischen Beide warf.

»Weib,« murmelte er durch die Zähne, indem er ihr winkte, auf die Seite zu treten, »ich muß ihn näher sehen, und will es. Wenn es Euer Wunsch ist, daß Einer von uns den Andern tödte, so weckt ihn.«

Mit diesen Worten trat er vor, beugte sich über die hingestreckte Gestalt, drehte sanft den Kopf zurück und sah ihm in's Gesicht. In dem Scheine des Feuers war jeder Zug deutlich zu erkennen. Er betrachtete es eine kurze Weile und richtete sich dann hastig auf.

»Merkt auf meine Worte,« flüsterte er der Wittwe in's Ohr. »Durch ihn, von dessen Daseyn ich bis heute nichts wußte, habe ich Euch in meiner Gewalt. Seht Euch vor, wie Ihr mich behandelt. Ich bin zwar nur ein elender, dem Hungertode Preis gegebener Erdenwanderer, aber ich kann langsame und sichere Rache nehmen.«

»Eure Worte lassen einen fürchterlichen Sinn ahnen, obgleich ich ihn nicht ergründe.«

»Es liegt Sinn darin, und ich sehe, daß Ihr ihn bis in seine tiefsten Tiefen ergründet. Sagtet Ihr mir's doch selbst, daß Ihr's schon seit Jahren ahntet. Ueberlegt es wohl, und vergeßt meiner Warnung nicht.«

Er deutete bei diesen Worten auf den Schlummernden und stahl sich leise auf die Straße hinaus. Sie fiel an der Seite des Schläfers auf die Knie nieder und blieb daselbst wie versteinert liegen, bis die Thränen, welche das Entsetzen in Eis verwandelt hatte, zu strömen begannen und ihr milde Erleichterung brachten.

»O du,« rief sie, »der du mir eine so tiefe Liebe zu diesem einzigen Ueberrest von allen Aussichten auf ein glückliches Leben in's Herz gelegt hast – für diesen einzigen, aus dessen Geistesverwirrung sogar mir vielleicht der Trost quillt, daß er immer ein vertrauenvolles und liebendes Kind seyn wird, dessen Herz nie kalt oder alt wird, da er meiner Sorge und Obhut in den Jahren seiner Mannheit eben so sehr bedarf, als zur Zeit, da er noch in der Wiege lag – hilf' ihm auf seinem nachtumwölkten Gang durch diese traurige Welt, oder er ist dem Verderben verfallen, und mein armes Herz bricht zusammen!«



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