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Achtzehntes Kapitel.

Sobald der Mann das Haus der Wittwe verlassen hatte, schlich er durch die schweigenden Straßen, wobei er sich immer auf die dunkelste Seite hielt,ging über die London Brücke nach der City und vertiefte sich in die Hintergassen und Höfe vor Cornhill und Smithfield, ohne sich dabei einen andern Zweck vorzusetzen, als sich in ihren Windungen zu verlieren und jeder Verfolgung Trotz zu bieten, wenn Jemand seinen Schritten nachspüren sollte.

Die Nacht war todtenstill und Alles zur Ruhe gegangen. Hin und wieder schallten die Tritte eines schläfrigen Nachtwächters auf dem Pflaster, oder der Lampenputzer kam auf seiner Runde leuchtend vorbei,kleine Rauchstreifen zurücklassend, die von den abgestoßenen Bruchstücken seiner Fackel in die Höhe fliegen. Der Fremde verbarg sich sogar vor diesen Genossen seines einsamen Ganges, indem er sich unter irgend einem Bogen oder Thorweg verkroch, wenn er ihrer ansichtig wurde, und nicht eher wieder zum Vorschein kam, als bis sie vorüber gegangen waren.

Es ist etwas Unheimliches, obdachlos und allein im Freien zu seyn, auf das Heulen des Windes zu horchen und durch eine lange, ermüdende Nacht auf den Tag zu harren, dem Fallen des Regens zuzuhören und unter einer alten Scheune, einem Heuschober, oder in einem hohlen Baume Wärme suchen zu müssen – aber noch weit unheimlicher ist es, auf und ab zu wandern als ein heimathloses, ausgestoßenes Wesen, wo Häuser, Betten und Schläfer zu tausenden sind, Stunde um Stunde das wiederhallende Pflaster zu treten, und die zögernden Schläge der Glocke zu zählen; die Lichter zu betrachten, die aus den Kammerfenstern blicken, und dabei zu denken, welches glückliche Vergessen jedes Haus einschließt; daß hier Kinder in ihren Betten zusammen kauern – hier die Jugend, dort das Alter, hier die Armuth, dort der Reichthum, alle gleich in ihrem Schlafe, und alle der Ruhe sich erfreuend; nichts gemein zu haben mit der schlummernden Welt rings umher, nicht einmal den Schlaf, den doch der Himmel allen seinen Geschöpfen schenkt, und mit nichts verwandt zu seyn, als mit der Verzweiflung; in dem vernichtenden Gegensatze mit der ganzen Umgebung sich einsamer und verstoßener zu fühlen, als in einer pfadlosen Wüste; – dieß sind Leiden, über denen die Fluthen großer Städte oft zusammenschlagen, und die nur die Einsamkeit in dem Gedränge zu wecken vermag.

Der elende Mann ging in den Straßen auf und nieder – wie lang, wie ermüdend, wie so ganz einander gleichsehend waren sie! – und warf oft sehnende Blicke nach Osten, hoffend, den ersten Dämmerschein des Tages zu schauen. Aber die hartnäckige Nacht wollte nicht vom Himmel weichen, und sein verstörter, unruhiger Spaziergang sollte noch immer keine Erleichterung finden.

In einer Hintergasse war noch ein einziges Haus lebhaft beleuchtet; man hörte den Schall von Musik, die Fußtritte von Tanzenden, den Lärm froher Stimmen und den Ausbruch lustigen Gelächters. Dahin – um doch etwas, was wach und froh war, nahe zu seyn – kehrte er wieder und wieder zurück und mehr als Einer von denen, welche den Tummelplatz der Freude in ihrer höchsten Höhe verließen, fühlten ihre gemüthliche Stimmung getrübt, wenn sie den Fremden wie ein unruhiges Gespenst an sich vorüber gleiten sahen. Endlich hatten sich die Gäste sammt und sonders zerstreut; das Haus schloß sich und wurde so stumm und öde, wie die übrigen.

Einmal führten ihn auch seine Schritte vor das Stadtgefängniß. Statt jedoch an einem Platze von so übler Vorbedeutung, den er wohl zu scheuen Ursache hatte, vorüber zu eilen, setzte er sich auf eine nahe Haustreppe, stützte das Kinn auf seine Hand und blickte nach den rauhen und zürnenden Mauern, als ob selbst sie seinen müden Augen eine Zuflucht böten. Dann umschritt er das Gefängniß und nahm wieder auf der früheren Stelle Platz. Dieß wiederholte er zu öfternmalen, und einmal trat er sogar hastig auf das Gemach zu, wo einige Wächter auf waren, den Fuß auf die Treppe setzend, als sey er entschlossen, sie anzureden. Wie er sich aber umsah, bemerkte er den ersten Streifen des Tages; er gab sein Vorhaben auf, wandte dem Orte den Rücken zu und floh.

Er befand sich bald wieder in dem Stadttheile, den er unmittelbar zuvor verlassen hatte, und ging auf's neue wieder hin und her. Er kam eben durch eine schlechte Straße, als er aus einem naheliegenden Gäßchen den Lärm von Nachtschwärmern hörte; auch kamen ein Dutzend jubelnde Tollköpfe hervor, die sich gegenseitig zuriefen, lärmend Abschied nahmen und in kleineren Gruppen ihre verschiedenen Wege verfolgten.

In der Hoffnung es dürfte irgend eine schlechte Kneipe in der Nähe seyn, die ihm einen sicheren Zufluchtsort zu bieten im Stande sey, bog er, sobald sich das Getümmel verloren hatte, nach dem Hofe ein, und schaute umher, ob er nicht eine halb offene Thüre, ein beleuchtetes Fenster oder ein anderes Merkmal entdecken könne, das ihm den Ort andeutete, wo die Nachtschwärmer sich lustig gemacht hatten. Es war aber hier so dunkel und unheimlich, daß er vermuthete, sie müßten wohl dahin verirrt seyn und hätten, nach Entdeckung ihres Mißgriffs, wieder umgekehrt, als er sie herausströmen sah. Unter dieser Voraussetzung, die noch dadurch, daß sich kein zweiter Ausgang finden ließ, eine Bestätigung erhielt, wollte er eben selbst auch wieder umwenden, als aus einem Gitter im Boden, ganz in seiner Nähe, plötzlich Licht hervorströmte und die Stimme von Sprechenden hörbar wurde. Er zog sich in einen Bogenweg zurück, um zu sehen, wer da redete, und sie zu behorchen.

Inzwischen war das Licht mit dem Pflaster in eine Höhe gekommen, und ein Mann stieg heraus, der eine Fackel in seiner Hand trug. Er entriegelte das Gitter und hielt es offen, um einen Andern herauszulassen, der denn auch alsbald erschien. Letzterer war ein junger Mensch von kleiner Statur, der eine sehr hohe Meinung von sich selbst zu haben schien und ungewöhnlich grell gekleidet war.

»Gute Nacht, edler Capitän,« sagte der Fackelträger. »Lebt wohl, Commandant! Viel Glück, durchlauchtiger General.«

Als Antwort auf diese Komplimente befahl ihm der Andere, das Maul zu halten und keinen Lärm zu machen; auch erließ derselbe mit großer Zungengeläufigkeit und sehr bedeutsamer Miene noch mehrere ähnliche Einschärfungen.

»Mein Kompliment, Capitän, an die in Liebe verstrickte Miggs,« entgegnete der Fackelträger mit leiserer Stimme. »Mein Capitän macht auf ein höheres Wild als auf Miggsen Jagd. Ha, ha, ha! Mein Capitän ist ein Adler, an Blick sowohl als an hochtragenden Schwingen. Mein Capitän bricht Herzen, wie andere Junggesellen Eier bei ihrem Frühstück.«

»Ihr seyd ein Narr, Stagg!« sagte Herr Tappertit, auf das Pflaster des Hofes tretend und von seinen Beinen den Staub abbürstend, der sich beim Heraufgehen angesetzt hatte.

»Seine köstlichen Gliedmaßen,« rief Stagg, einen von seinen Knöcheln umfassend. »Darf sich eine Miggs vermessen, nach einem solchen Ebenmaaß zu streben? Nicht doch, mein Capitän; wir wollen schöne Damen in's Netz locken und sie in unserer geheimen Höhle heirathen. Wir wollen uns mit blühenden Schönheiten verbinden, Capitän!«

»Ich will Euch was sagen, alter Knasterbart,« entgegnete Herr Tappertit, sein Bein losmachend;  »bemüht Euch nicht mit so viel Freiheiten, und unterlaßt es, gewisse Fragen zu stellen, wenn nicht Euch gewisse Fragen vorgelegt werden. Ihr habt blos zu sprechen, wenn man Euch über gewisse Angelegenheiten dazu auffordert, sonst nicht. Erhebt die Fackel, bis ich am Ende des Hofes bin, und dann kriecht wieder in Eure Höhle, hört Ihr?«

»Ich höre, edler Capitän.«

»Nun, so gehorcht denn,« erwiederte Herr Tappertit stolz. »Voran, meine Herren!«

Mit diesem Commandowort, das einem imaginären Gefolge oder Generalstab galt, schlug er die Arme über einander und spazirte mit ungemeiner Gravität den Hof hinunter.

Sein gehorsamer Nachtreter blieb, die Fackel über den Kopf erhebend, stehen, und jetzt bemerkte der Zuschauer von seinem Verstecke aus zum erstenmale, daß er blind war.

Eine unwillkürliche Bewegung von seiner Seite erreichte das scharfe Ohr des Blinden, noch ehe er selbst wußte, daß er sich demselben auch nur um einen Zoll genähert hatte, denn letzterer wandte sich plötzlich um und rief:

»Wer da?«

»Ein Mensch,« antwortete der Andere, vortretend. »Gut Freund!«

»Ein Fremder,« entgegnete der blinde Mann. »Ich kann keinen Fremden für ›gut Freund‹ nehmen. Was habt Ihr hier zu schaffen?«

»Ich sah Eure Gesellschaft herauskommen, und wartete hier, bis sie sich entfernt hatte. Ich bedarf eines Nachtquartiers.«

»Ein Nachtquartier um diese Stunde?« erwiederte Stagg, indem er auf das Grauen des Tages deutete, als ob er es sehe. »Wirt Ihr nicht, daß der Tag schön anbricht?«

»Wohl weiß ich es, zu meinem eigenen Nachtheile,« versetzte der Andere. »Ich bin die ganze Nacht in dieser Stadt voll Eisenherzen umhergewandelt.«

»Da thätet Ihr besser, Euren Wandel wieder aufzunehmen,« sagte der blinde Mann, indem er sich anschickte, wieder hinabzusteigen, »bis Ihr ein Unterkommen findet, das passender ist für Euren Geschmack; ich lasse Niemand ein.«

»Halt!« rief der Andere, ihn beim Arme fassend.

»Ich schlage Euch diese Fackel in's Gesicht, Ihr Galgenstrick (denn ein Galgenstrick müßt Ihr schon Eurer Stimme nach sein) und wecke die Nachbarschaft, wenn Ihr mich aufhaltet,« sagte der blinde Mann. »Laßt mich los – hört Ihr?«

»Hört Ihr?« erwiederte der Andere, mit ein paar Schillingen klimpernd und sie ihm hastig in die Hand drückend. »Ich bin kein Bettler und will das Obdach, das Ihr mir gebt, bezahlen. Tod und Hölle, was könnte man viel von einem Kerl, wie Ihr, verlangen? Ich komme vom Lande und wünsche an einem Orte auszuruhen, wo mir Niemand Fragen vorlegt. Ich bin matt, erschöpft, abgehetzt und beinahe todt. Laßt mich, wie einen Hund, vor Eurem Feuer niederliegen – weiter verlange ich nicht. Wollt Ihr meiner los seyn, so gehe ich morgen wieder.«

»Wenn ein Gentleman auf der Straße verunglückt ist,« murmelte Stagg, dem Andern nachgebend, der ihn vorwärts drängte und bereits seinen Fuß auf die Treppe gesetzt hatte – »und für seine Bequemlichkeit bezahlen kann –«

»Ich will Euch bezahlen mit Allem, was ich habe. Gott weiß, mit dem Hunger ist's jetzt bei mir vorbei, und ich wünsche nur, mir ein Obdach zu erkaufen. Was für Gesellschaft habt Ihr unten?«

»Keine.«

»Dann schließt geschwinde Euer Gitter und geht voran. Rasch!«

Nach kurzer Zögerung willfahrte der Blinde und sie stiegen mit einander hinunter. Das Zwiegespräch war so schnell vor sich gegangen, als die Worte nur gesprochen werden konnten, und sie standen in dem elenden Gemache, noch ehe der Besitzer Zeit gehabt hatte, sich von seiner ersten Ueberraschung zu erholen.

»Darf ich nachsehen, wohin diese Thüre führt, und was hinter derselben steckt?« fragte der Fremde, indem er scharf umherblickte. »Ihr werdet wohl nichts dagegen einwenden?«

»Ich will's Euch selber zeigen. Folgt mir, oder geht voran, – ganz nach Eurem Belieben.«

Der Fremde hieß ihn vorangehen und besichtigte bei dem Lichte der Fackel, welche sein Führer in die Höhe hob, die drei Keller sehr genau. Nachdem er sich von der Wahrheit der Aussagen seines Wirthes, daß er nämlich allein hier wohne, überzeugt hatte, kehrte er wieder nach dem ersten zurück, wo ein Feuer brannte, und warf sich mit einem tiefen Seufzer vor dem Kamine auf den Boden nieder.

Der Blinde ging an seine gewöhnliche Beschäftigung und schien sich um seinen Gast nicht weiter zu kümmern. Sobald aber Letzterer eingeschlafen war – er gewahrte dieses Umstandes so bald, als es nur bei einem Manne mit dem schärfsten Gesicht hätte der Fall seyn können – kniete er an seiner Seite nieder und fuhr mit seiner Hand leicht, aber aufmerksam über dessen Gesicht und Körper.

Der Schlummer des Fremden wurde durch viel Auffahren und Stöhnen, hin und wieder durch etliche murmelnde Worte unterbrochen. Seine Hände waren geballt, seine Stirne gefurcht und sein Mund fest verschlossen. Nichts von alle dem entging dem Blinden; und als ob seine Neugierde lebhaft geweckt wäre und er bereits einen Blick in sein Geheimniß gethan hätte, blieb er lauernd und horchend neben ihm sitzen, bis es heller Tag war.



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