Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.

Um die Mittagszeit des nächsten Tages befand sich John Willet's Gast in seiner eigenen Wohnung beim Frühstück, von Bequemlichkeiten umgeben, gegen welche die im Maibaum himmelweit zurückblieben, indem eine Vergleichung zwischen beiden ungemein zum Nachteile des genannten achtbaren Wirthshauses hätte ausfallen müssen.

Auf dem breiten, altmodischen Fenstersitze, der so geräumig wie viele moderne Sophas und durch die Polster zu einem üppigen Kanapee umgewandelt war, dehnte sich Herr Chester recht gemächlich neben dem wohlbesetzten Frühstücktische. Er hatte sein Reitkleid gegen einen schönen Morgenrock und seine Stiefeln gegen Pantoffel vertauscht, dabei sich auch alle Mühe gegeben, für die mangelhafte Toilette des Morgens, da er sich zu Pferd nicht hatte gehörig versehen können, Buße zu thun, und allmählig unter seiner behaglichen Umgebung die Mühseligkeiten einer schlechten Nacht und eines frühen Rittes vergessen, so daß er sich jetzt in einem Zustande vollkommener Selbstzufriedenheit und Indolenz befand.

In der That war seine Lage auch eine solche, die recht wohl derartige Gefühle fördern mochte; denn des beschwichtigenden Einflusses eines späten und einsamen Frühstücks nebst der Beigabe einer einschläfernden Zeitung nicht zu gedenken, umlagerte seinen Wohnplatz eine eigenthümliche Ruhe, die ihn selbst in unsern Tagen, wo es doch weit rühriger und geschäftiger zugeht, als vordem, noch nicht verlassen hat.

Selbst jetzt gibt es noch weit unbehaglichere Orte, als den Temple, wenn man sich an einem schwülen Tage sonnen oder müßig im Schatten ruhen will. Es herrscht eine gewisse Schläfrigkeit in seinen Höfen und eine träumerische Oede in seinen Bäumen und Gärten; wer in den Gassen und Squaren umherwandelt, kann noch immer den Wiederhall der Fußtritte auf den tönenden Steinen hören und im Gegensatze von dem Getümmel des Strandes oder der Fleetstraße sich dem Gedanken hingeben, als stände hier an den Thoren geschrieben, ›wer in die Schranken von Temple eintritt, läßt alles Geräusch hinter sich.‹ Noch hört man das Plätschern des fallenden Wassers in dem schönen Fountain Court, noch gibt es Winkel und Ecken, zu denen von Gläubigern verfolgte Studenten aus ihren Dachstübchen niederschauen können, um einen irrenden Sonnenstrahl aufzufangen, der den tiefen Schatten der hohen Häuser unterbricht und sich selten die Mühe nimmt, die Gestalt eines Vorübergehenden zu beleuchten. Noch athmet in dem Temple die mönchische Atmosphäre, die keine Advokatenkanzlei zu stören, keine Juristenfirma zu verscheuchen vermag. Im Sommer geben seine Pumpbrunnen dem durstigen Spaziergänger kühlere, klarere und tiefere Quellen, als er sonst wo findet; er athmet Frische, wenn überlaufende Krüge den erhitzten Grund befeuchten, seufzt, wirft einen traurigen Blick auf die Themse, träumt von Bädern und Wasserfahrten und schlendert zaghaft weiter.

In einem Zimmer der Paper Buildings – einer Reihe schöner Wohnungen, die vorn von alten Bäumen beschattet werden und hinten nach den Temple-Gärten hinaussehen – lungerte unser Müßiggänger, bald die Zeitung wieder aufnehmend, die er schon zum hundertstenmale niedergelegt, bald mit den Ueberbleibseln seines Mahles spielend, dann wieder seinen goldenen Zahnstocher herausziehend und behaglich sich im Zimmer umschauend, oder durch das Fenster nach den aufgestutzten Gartengängen blickend, wo etliche frühe Spaziergänger bereits hin und her wandelten. Da traf sich ein Liebespärchen, um sich zu zanken und wieder gut zu werden, dort hatte ein schwarzaugiges Kindsmädchen weit bessere Augen für die Studenten des Temples, als für ihren Pflegling, während eine alte Jungfer, ihren Schooßhund an einem Bande führend, diese beiden schrecklichen Ungebührlichkeiten mit verächtlichen Seitenblicken betrachtete, und ein magerer alter Gentleman, der das Kindsmädchen beäugelte, mit gleicher Verachtung auf die Jungfrau sah, Vermuthungen anstellend, wie sie wahrscheinlich nicht wisse, daß sie nicht länger jung sey. Gesondert von diesen gingen an dem Strande des Flusses etliche Paar Geschäftsleute auf und nieder, indeß ein junger Mann gedankenvoll und allein auf einer Bank saß.

»Ned ist erstaunlich geduldig!« sagte Herr Chester, auf die letztgenannte einsame Person blickend, indem er seine Theetasse niedersetzte und zu dem goldenen Zahnstocher seine Zuflucht nahm, »ungeheuer geduldig! Er saß schon dort, als ich meine Toilette begann, und hat seitdem kaum seine Stellung verändert. Ein höchst excentrischer Mensch!«

Als er so sprach, stand der junge Mann auf und kam mit raschen Schritten auf ihn zu.

»'s ist doch in der That, als ob er mich gesehen hätte,« fuhr der Vater fort, indem er gähnend wieder zur Zeitung griff. »Lieber Ned!«

Die Thüre ging auf und der junge Mann trat ein. Der Vater winkte ihm leicht mit der Hand und lächelte.

»Habt Ihr Muße für ein kleines Gespräch, Vater?« begann Edward.

»Gewiß, Ned. Ich habe immer Zeit. Du kennst meine Constitution. Hast du dein Frühstück schon eingenommen?«

»Schon vor drei Stunden.«

»Nun, das nenne ich einmal früh aufstehen!« rief der Vater, ihn hinter seinem Zahnstocher hervor mit einem matten Lächeln betrachtend.

»Aufrichtig gesprochen,« sagte Edward, indem er einen Stuhl herbeirückte und sich an den Tisch setzte, »ich habe in der letzten Nacht nur schlecht geschlafen und war froh, als ich aufstehen konnte. Der Grund meiner Unruhe muß Euch bekannt seyn, Vater, und gerade hiervon wünschte ich jetzt zu sprechen.«

»Mein lieber Sohn,« entgegnete sein Vater, »ich bitte, vertraue dich mir an. Aber du kennst meine Constitution – mach's nicht zu lange, Ned.«

»Ich will kurz und einfach seyn,« erwiederte Edward.

»Sage nicht, du wollest es, mein guter Junge,« versetzte sein Vater, die Beine übereinanderschlagend, »oder es wird gewiß nichts daraus. Du hast mir also mitzutheilen – –"

»Weiter nichts,« erwiederte der Sohn mit bekümmerter Miene, »als daß ich weiß, wo Ihr gestern Abend waret – denn ich war selbst an Ort und Stelle – mit wem Ihr zusammenkamt, und welchen Grund Eure Besprechung hatte.«

»Was du da sagst!« rief der Vater. »Nun, es freut mich ungemein, dieß zu hören. Es erspart uns die Pein und das unangenehme Recken und Dehnen einer langen Erklärung – ist also eine große Erleichterung für uns Beide. Also in dem Haus gewesen? Warum kamst du nicht zu mir hinauf? Es würde mich entzückt haben, dich zu sehen.«

»Ich wußte, daß es besser seyn würde, was ich zu sagen habe, nach der Ueberlegung einer Nacht vorzubringen, wenn wir Beide kälter seyn würden,« entgegnete der Sohn,

»Ei der Tausend, Ned,« versetzte der Vater, »ich fand es gestern Abend kalt genug. Dieser verwünschte Maibaum! Der Baumeister hat es durch irgend einen höllischen Kniff dahin gebracht, daß das Haus den Wind fängt und frisch erhält. Du erinnerst dich des scharfen Ostwindes, der vor fünf Wochen wehte? Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß er die letzte Nacht noch in jenem alten Neste sauste, obgleich im Freien eine völlige Windstille war. Aber du wolltest sagen – –«

»Ich wollte sagen, und der Himmel weiß, daß es mein feierlicher Ernst ist – Ihr habt mich elend gemacht, Vater. Wollt Ihr mich einen Augenblick aufmerksam anhören?«

»Mein lieber Ned« erwiederte der Vater, »ich will es mit der Geduld eines Einsiedlers thun. Willst du so gut seyn, mir die Milch herüber zu reichen?«

»Ich sah Miß Haredale gestern Abend,« nahm Edward wieder auf, nachdem er dem Wunsche seines Vaters entsprochen hatte. »Ihr Onkel verbot mir in ihrer Gegenwart und unmittelbar nach Eurer Zusammenkunft, der ich dieß natürlich zu verdanken habe, das Haus, und befahl mir unter den kränkendsten Ausdrücken, die, wie ich recht wohl weiß, von Euch eingegeben sind, es auf der Stelle zu verlassen.«

»Auf Ehre, Ned, für sein Benehmen dabei kann ich nicht verantwortlich gemacht werden. Du mußt ihn entschuldigen – er ist nur ein Bauer, ein Kloß, ein Vieh ohne eine Spur von Lebensart. – In dem Milchnapf ist eine Fliege. – Der erste solche Mensch, den ich in diesem Jahr gesehen habe.«

Edward stand auf und schritt im Zimmer auf und ab. Der unerschütterliche Vater schlürfte seinen Thee.

»Vater,« sagte der junge Mann, indem er endlich vor ihn hintrat, »mit dieser Sache läßt sich nicht spielen. Wir dürfen weder uns selbst, noch uns gegenseitig hintergehen. Laßt mich männlich und offen den Weg verfolgen, den ich einzuschlagen wünsche, und stoßt mich nicht durch diese herzlose Gleichgültigkeit zurück.«

»Ob ich gleichgültig bin oder nicht,« erwiederte der Andere, »will ich deiner Beurtheilung anheim stellen, mein lieber Junge. Ein Ritt von fünfundzwanzig oder dreißig Meilen auf schmutzigen Wegen – ein Mittagsmahl im Maibaum – eine tête à tête mit Haredale, was, ohne alle Eitelkeit, gewiß ganz in der Weise eines Orest und Pylades geschah – ein Maibaumbett – ein Maibaumwirth – und eine Maibaumgesellschaft von Dummköpfen und Centauren; wenn man sich solchen Annehmlichkeiten freiwillig unterzieht, lieber Ned, so möchte ich dich doch fragen, ob hier von Gleichgültigkeit, oder nicht viel mehr von einer alles Maß überschreitenden Besorgniß, Aufopferung und dergleichen eines Vaters gesprochen werden sollte.«

»Ich wünsche,« sagte Edward, »daß Ihr in Erwägung zieht, in welche grausame Lage ich versetzt werde. Bei einer Liebe, wie ich sie für Miß Haredale hege – –«

»Mein lieber Junge,« unterbrach ihn der Vater mit einem mitleidigen Lächeln, »du hegst nichts der Art – weißt gar nichts davon. Glaube mir, es gibt gar nichts solches. Ich gebe dir mein Wort darauf. Du hast doch Verstand, Ned, – einen guten Verstand; und da kann ich mich nicht genug wundern, wie du dir so erstaunliche Abgeschmacktheiten zu Schulden kommen lassen magst. Du überraschest mich in der That.«

»Ich wiederhole es,« versetzte der Sohn mit Festigkeit, »daß ich sie liebe. Ihr habt es Euch zur Aufgabe gemacht, uns zu trennen, und bis zu der bereits genannten Ausdehnung ist es Euch auch gelungen. Darf ich Euch, so lange es noch Zeit ist, bitten, von unserer Liebe günstiger zu denken,  oder ist es Eure Absicht und Euer unabänderlicher Plan, uns auseinander zu reißen, wenn Ihr es vermögt?«

»Mein lieber Ned,« entgegnete sein Vater, indem er eine Prise nahm und die Dose dem Sohne zuschob, »das ist ohne allen Zweifel meine Absicht.«

»Seit ich ihren Werth kennen zu lernen begann,« erwiederte Edward, »ist mir die Zeit so eigentlich im Traume dahingeschwunden, daß ich bis jetzt kaum ein einzigesmal Muße gewann, über meine wahre Lage nachzudenken. Worin besteht diese? Von Jugend auf bin ich an Ueppigkeit und Müßiggang gewöhnt, und in einer Weise erzogen worden, als ob ich ein großes Vermögen zu erwarten hätte, und meine Aussichten unbeschränkt wären. Mit dem Gedanken an Wohlleben hat man mich schon von der Wiege an vertraut gemacht, während man mich auf die Mittel, womit man sich Reichthum und Auszeichnung erwirbt, als unter meiner Würde stehend herabsehen lehrte. Ich bin, wie man es nennt, liberal erzogen worden und passe zu nichts, bin also am Ende ganz von Euch abhängig, ohne weitere Hülfsquellen zu haben, als die mir Eure Gunst bietet. In dieser höchst wichtigen Frage meines Lebens sind unsere Ansichten verschieden, und können, wie es scheint, nie in Einklang gebracht werden. Unwillkürlich bebte ich vor denen zurück, welchen ich, Eurem Drängen zu Folge, den Hof machen sollte, und eben so sehr verschmähte ich die Beweggründe des Gewinnes und der Selbstsucht, aus denen Euch solche Bewerbungen passend erschienen. Wenn es nie zuvor zu einer so offenen Erklärung zwischen uns kam, so war es in der That nicht meine Schuld; und mag Euch auch jetzt meine Frage zu freimüthig erscheinen, glaubt mir, so geschieht es in der Hoffnung, daß für die Zukunft ein freierer Geist, ein würdigeres Vertrauen und ein freundlicheres Einverständniß zwischen uns Platz greifen werde.«

»Mein guter Junge,« entgegnete sein Vater lächelnd,« du rührst mich wahrhaftig. Ich bitte, fahre fort, mein theurer Edward. Aber vergiß dein Versprechen nicht. Es liegt ein großer Ernst, eine ungemeine Ehrlichkeit und eine augenfällige Aufrichtigkeit in allen deinen Worten; aber ich fürchte, leise Andeutungen zu bemerken, als ob du Lust hättest, langweilig zu werden.«

»Das bedaure ich sehr, Vater.«

»Ich gleichfalls, Ned, aber du weißt, daß ich meinen Geist nicht lange Zeit mit einem und demselben Gegenstand beschäftigen kann. Wenn du mit einemmale zur Sache kommen willst, so werde ich mir wohl die Einleitungen denken und einen Sinn in's Ganze bringen können. Reiche mir doch noch einmal die Milch herüber. Das Zuhören macht mich ganz fieberisch.«

»Was ich also sagen will, zielt dahin ab,« fuhr Edward fort, »ich kann diese unbedingte Abhängigkeit, und wäre es auch von Euch, nicht ertragen. Es ist zwar viele Zeit und Gelegenheit verloren worden, aber ich bin noch jung und kann vielleicht alles wieder einbringen. Wollt Ihr mir Mittel an die Hand geben, meine Kräfte und Fähigkeiten irgend einem würdigen Zwecke zu widmen? Wollt Ihr mir gestatten, daß ich den Versuch mache, mir eine ehrenvolle Laufbahn zu eröffnen? Ihr mögt dann eine Frist bestimmen – sagt meinetwegen fünf Jahre – für die ich mich verpflichten will, in der Euch mißfälligen Sache keinen weiteren Schritt zu thun ohne Eure volle Genehmigung. Während dieser Periode werde ich mit so viel Geduld und Ausdauer als ein Mensch ihrer nur fähig ist, mir eine Zukunft zu bereiten bemüht seyn, um Euch von einer Bürde zu befreien, die ich Euch, wie ich fürchte, wohl werden müßte, wenn ich ein Mädchen heirathete, deren Hauptmitgift in ihrem innern Werthe und ihrer Schönheit besteht. Wollt Ihr so, Vater? Nach Abfluß dieses Termins können wir diesen Gegenstand wieder zur Sprache bringen. Bis dahin aber soll alles beruhen bleiben, wenn Ihr es nicht selbst in Anregung bringt.«

»Mein lieber Ned,« versetzte sein Vater, indem er die Zeitung, welche er nachlässig durchblättert, niederlegte, und sich in seinem Fenstersitz zurücklehnte, »ich meine, du könntest wissen, wie sehr mir die sogenannten Familienangelegenheiten zuwider sind, die auch nur für die Weihnachten gemeiner Leute, keineswegs aber für Personen unseres Standes passen. Ehe wir aber auf einer irrigen Ansicht fortbauen, Ned – auf einer durchaus irrigen Ansicht – so will ich meine Abneigung, mich in solche Dinge einzulassen, überwinden, und dir eine vollkommen klare und aufrichtige Antwort geben, wenn du so gut sein willst, die Thüre zu schließen.«

Nachdem Edward gehorcht hatte, nahm der alte Herr Chester ein elegantes kleines Messer aus seiner Tasche, schnitt sich die Nägel damit und fuhr fort:

»Du hast es mir zu verdanken, Ned, daß du einer guten Familie angehörst; denn deine Mutter war zwar ein charmante Person und verließ mich fast mit einem gebrochenen Herzen und so weiter, als sie sich genöthigt sah, so frühe unsterblich zu werden, aber sie konnte sich des Standes nicht sehr rühmen.«

»Ihr Vater war wenigstens ein ausgezeichneter Rechtsgelehrter,« sagte Edward.

»Ganz wohl, Ned; vollkommen richtig. Er stand hoch bei den Gerichten und verband mit einem großen Namen auch einen großen Reichthum; aber er war von nichts ausgegangen – ich habe immer meine Augen gegen den Umstand verschlossen und beharrlich versucht, mich der Betrachtung zu erwehren – ich fürchte jedoch, sein Vater machte in Schweinen Geschäfte und handelte einmal sogar mit Kuhfüßen und Würsten. Nun, er wünschte, seine Tochter in eine gute Familie zu verheirathen, und dieser sein Herzenswunsch ging in Erfüllung. Ich war der jüngere Sohn eines jüngeren Sohnes und heirathete sie. Jedes von uns erreichte dadurch seinen Zweck. Sie kam mit einemmale in die gebildetsten und besten Cirkel, und ich in den Besitz eines Vermögens, das, ich versichere dich, zu meiner Gemächlichkeit sehr nöthig und eigentlich ganz unerläßlich war. Nun aber, mein guter Junge, gehört dieses Vermögen unter die Dinge, die gewesen sind. Es ist fort. Ned, und war schon dahin – wie alt bist du? ich vergesse es immer.«

»Siebenundzwanzig, Vater.«

»Was du sagst?« rief sein Vater, seine Augenlider mit mattem Erstaunen aufschlagend. »So alt schon? Dann muß ich dir sagen, Ned, daß die letzten Reste davon, so viel ich mich erinnern kann, vor ungefähr achtzehn oder neunzehn Jahren aus dem Bereiche menschlicher Spähekunst verschwunden sind. Um diese Zeit ungefähr war es, als ich in den Besitz dieser Zimmer kam – sie gehörten einmal deinem Großvater und wurden von besagter außerordentlich achtbaren Person auf mich vererbt – und von einem sehr unbedeutenden Jahrgehalt und von meiner früheren Reputation zu leben anfing.«

»Ihr scherzt mit mir,« sagte Edward,

»Nicht im Geringsten, kann ich dich versichern,« versetzte sein Vater mit großer Fassung. »Solche Familiengeschichten sind so ungemein trocken, daß ich mit Bedauern sagen muß, sie gestatten durchaus keine derartigen Hebepunkte. Aus diesem Grunde, und weil sie so nach Geschäftssachen schmecken, sind sie mir auch im Innersten meiner Seele zuwider. Nun, das Uebrige weißt du. Ein Sohn, Ned, der nicht alt genug ist, um als Gefährte zu gelten, das heißt, der nicht etwa zwei oder dreiundzwanzig Jahre zählt, gehört nicht zu einem Schlage, den man gerne um sich hat. Er ist ein Zwang für den Vater und der Vater ein Zwang für ihn, weßhalb sie sich gegenseitig das Leben unbehaglich machen. Du hast daher in den letzten vier Jahren etwa – ich habe ein schlechtes Zahlengedächtniß, und ich müßte sehr irren, wenn du das meinige nicht im Geiste corrigirtest – in der Entfernung deinen Studien obgelegen und dir viele Kenntnisse erworben. Hin und wieder brachten wir ein paar Wochen gemeinschaftlich hier zu, und beengten uns gegenseitig, wie es bei so nahen Verwandten nicht anders sein kann. Endlich kamst du nach Hause. Ich gestehe dir ehrlich, mein lieber Junge, daß ich dich hätte nach irgendeinem fernen Landtheil transportiren lassen, wenn du linkisch und eigensinnig gewesen wärest.«

»O wollte Gott. Ihr hättet es gethan, Vater!« rief Edward.

»Nein, das ist nicht dein Ernst, Ned,« fuhr der Vater ruhig fort. »Ich versichere dich, dieß ist nur eine Selbsttäuschung. Ich fand in dir einen hübschen, einnehmenden, eleganten Burschen, und brachte dich in die Gesellschaft, die mir noch zu Gebote steht. Da ich dieß gethan, mein Sohn, so glaube ich, für dein Fortkommen im Leben gesorgt zu haben, und rechne darauf, daß du in dessen Erwiederung auch etwas für mich thust.«

»Ich verstehe nicht, was Ihr damit meint, Vater.«

»Der Sinn meiner Worte ist klar, Ned – ich bemerke wieder eine Fliege in der Rahmkanne, aber sey so gut und laß sie dießmal drinnen, denn es ist äußerst unangenehm, sie mit ihren milchigen Füßen umherspazieren zu sehen – ich meine nämlich, daß du thun mußt, was ich that: auf eine gute Heirath abheben und dich in möglichst vortheilhaftem Lichte zeigen.«

»Als bloßer Glücksritter?« rief der Sohn unwillig.

»Und was in's Teufels Namen möchtest du denn seyn, Ned?« entgegnete der Vater; »Alle Menschen sind Glücksritter, oder etwa nicht? Die Gerichtshöfe, die Kirche, der Hof, das Lager – siehst du nicht, wie sich's allenthalben mit Glücksrittern drängt, die sich in Verfolgung ihrer Zwecke die Beine unterschlagen? Die Börse, der Lehrstuhl, das Comtoir, die königlichen Vorzimmer, der Senat – was triffst du dort anders, als Glücksritter? Ja, ein Glücksritter! Du bist einer, und würdest nichts anders seyn können, mein lieber Ned, wenn du der größte Höfling, Rechtsgelehrte, Gesetzgeber, Prälat oder Kaufmann auf der ganzen Erde wärest. Bist du ekel und setzt dir die Moral zu, Ned, so tröste dich mit der Betrachtung, daß im schlimmsten Falle deine Glücksritterschaft nur eine einzige Person elend oder unglücklich machen kann. Meinst du nicht, daß die Uebrigen von der Sippschaft im Verlaufe ihres Rennens Hunderte, ja Tausende mit einem Tritt zerquetschen?«

Der junge Mann stützte den Kopf auf seine Hand und schwieg.

»Ich bin ganz entzückt,« sagte der Vater aufstehend und langsam im Zimmer hin- und hergehend, wobei er mitunter stehen blieb, um sich im Spiegel zu beschauen, oder mit einer Kennermiene ein Gemälde zu lorgnettiren, »daß es zu dieser Unterredung gekommen ist, Ned, so unbehaglich sie auch seyn mag. Sie bringt ein wahrhaft erfreuliches Vertrauen zwischen uns zuwege und war gewiß sehr nothwendig, obgleich ich gestehe, daß ich nicht begreife, wie du je über unsere Stellung und unsere Plane im Irrthum seyn konntest. Ich war der Meinung, daß alle diese Punkte stillschweigend zwischen uns abgemacht seyen, bis ich von deiner Neigung zu dem Mädchen hörte.«

»Ich kannte zwar die Beschränktheit Eurer Verhältnisse,« entgegnete der Sohn, indem er seinen Kopf für einen Augenblick aufrichtete und ihn dann gleich wieder in seine vorige Lage zurücksinken ließ, »aber es fiel mir nicht entfernt ein, daß wir so gar bettelarm wären, wie Ihr sagt. Wie hätte ich auch etwas Solches ahnen können bei der Erziehung, wie sie mir ertheilt wurde, bei dem Leben, das Ihr immer führtet, und bei der Außenseite, die Ihr immer zur Schau trugt?«

»Mein liebes Kind,« sagte der Vater – »denn du sprichst in der That so kindisch, daß ich dich nicht anders nennen kann – du wurdest nach einem sehr überlegten Prinzip erzogen, denn ich versichere dich, gerade die Art deiner Erziehung erhielt meinen Kredit zum Bewundern aufrecht. Auch konnte ich durchaus nicht anders leben, Ned, denn ich muß diese kleinen Gemächlichkeiten um mich haben, da ich stets an sie gewöhnt war und jetzt nicht mehr ohne sie existiren kann. Du siehst, ich muß sie haben, und deßhalb sind sie da. Was unsere Verhältnisse betrifft, Ned, so magst du dich über diesen Punkt immerhin beruhigen. Sie sind verzweifelt. Dein eigenes Auftreten ist nichts weniger als verächtlich, und unser vereintes Taschengeld frißt allein schon unser Einkommen auf. Dieß ist der treue Stand der Dinge.«

»Ach, warum habe ich dieß nicht schon früher gewußt; warum ermuntertet Ihr mich, einen Aufwand zu machen und ein Leben zu führen, wozu wir durchaus kein Recht haben!«

»Mein guter Junge,« erwiederte der Vater mit einer mitleidigern Miene als je, »wenn du nicht Aufsehen erregtest, wie könntest du je auf der Laufbahn, die ich dir vorgezeichnet habe, dein Glück machen? Was unsere Lebensweise anbelangt, so hat jeder Mensch das Recht, sie einzurichten, so gut es geht, und sich's so bequem zu machen, als er kann, sonst ist er ein unnatürlicher Schuft. Unsere Schulden sind freilich sehr groß, aber um so mehr ziemt es dir als einem jungen Mann von Ehre und Grundsätzen, sie so schnell als möglich zu tilgen.«

»Ha, welche Schurkenrolle mußte ich bisher spielen!« murmelte Edward. »Ich – das Herz von Emma Haredale gewinnen! Ach, um ihretwillen wünschte ich, ich wäre lieber gestorben!«

»Ich bemerke mit Vergnügen, daß du einsiehst, Ned,« entgegnete sein Vater, »wie sonnenklar es ist, daß sich in dieser Richtung nichts machen läßt. Doch abgesehen davon und von der Nothwendigkeit, daß du dich schleunig nach einer andern umsehen solltest (und du weißt, daß dieß morgen geschehen könnte, wenn du nur wolltest), so möchte ich auch, daß du die Sache von einer heiterern Seite betrachtetest. Schon im religiösen Gesichtspunkte besehen – wie konntest du je daran denken, dich mit einer Katholikin zu verehelichen, wenn sie nicht überaus reich ist – du, der du als Abkömmling einer protestantischen Familie, wie die unsrige ist, ein eingefleischter Protestant seyn solltest? Wir müssen moralisch seyn, Ned, oder wir sind Nichts; und selbst wenn sich dieser Einwurf beseitigen ließe, was übrigens unmöglich ist, so tritt uns wieder ein anderer in den Weg, der vollends ein unlöslicher Riegel ist. Schon der Gedanke, ein Mädchen zu heirathen, dessen Vater geschlachtet wurde, wie ein Kalb! Guter Gott, Ned, wie unangenehm. Bedenke doch auch, daß du unmöglich unter solchen mißliebigen Umständen vor deinem Schwiegervater Respekt haben könntest – daß er von Geschworenen beaugenscheinigt und von den Leichenschauern untersucht wurde – und dann noch seine sehr zweifelhafte Stellung in der Familie nachher. Mir kömmt die ganze Sache so undelikat vor, daß ich in der That der Meinung bin, man hätte das Mädchen von Staatswegen aus der Welt schaffen sollen, um auch nur einem Gedanken daran vorzubeugen. Aber ich ermüde dich vielleicht. Du bist wohl lieber allein? Lieber Ned, mit allem Vergnügen. Gott behüte dich. Ich gehe sogleich aus, aber wir werden uns auf den Abend, oder doch sicherlich morgen wieder sehen. Nimm dich inzwischen in Acht – um unserer Beider willen. Du bist eine Person von großer Wichtigkeit für mich, Ned – von ungeheurer Wichtigkeit in der That. Gott befohlen!«

Der Vater hatte, während er diese Worte nachlässig und unzusammenhängend hinwarf, vor dem Spiegel seine Halsbinde festgeknüpft und entfernte sich jetzt, im Geben ein Liedchen summend. Der Sohn, welcher so in Gedanken verloren schien, als hätte er weder etwas davon gehört noch verstanden, blieb still und ruhig sitzen. Nach Verfluß von ungefähr einer halben Stunde ging der ältere Chester prächtig geputzt aus; der jüngere hatte noch immer den Kopf auf die Hand gestützt und schien in einer Art von Betäubung zu verharren.



 << zurück weiter >>