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Im Jahre 1775 stand am Saume des Eppingforstes – etwa 12 Meilen von London entfernt, wenn man von der Standarte in Kornhill, oder vielmehr von dem Orte an rechnet, wo in alten Tagen die Standarte zu stehen pflegte – ein Wirthshaus, der Maibaum genannt. Diese Thatsache wurde allen denjenigen Reisenden, welche weder lesen noch schreiben konnten – und vor 66 Jahren gab es eine große Anzahl sowohl von Reisenden, als von Ofenhockern, welche sich in dieser Lage befanden – durch das Sinnbild angekündigt, das an der Straße dem Hause gegenüber, aufgepflanzt worden war. Es hatte zwar nicht jene kräftigen Proportionen, deren sich Maibäume gewöhnlich in alten Tagen zu erfreuen pflegten, bestand aber demungeachtet in einer schönen jungen Esche von 30 Fuß Höhe, und war dabei so gerade als nur je ein Pfeil war, den ein englischer Freisasse auf seinen Bogen legte.

Der Maibaum – unter welchem Ausdrucke wir fortan das Wirthshaus, und nicht dessen Zeichen verstehen – bestand aus einem alten Gebäude mit mehr Giebeln, als ein träger Mensch an einem sonnigen Tage zusammenzählen mochte mit ungeheuern, zickzackförmigen Schornsteinen, aus denen selbst der Rauch nicht anders, als in ganz unnatürlichem phantastischen Gestalten sich herausschlängeln zu wollen schien, und mit weiten, düstern, verfallenen und leeren Stallungen. Das Haus soll in der Zeit König Heinrichs VIII, erbaut worden seyn, und es ging die Sage, daß die jungfräuliche Königin Elisabeth bei Gelegenheit einer Jagdpartie in einem gewissen Zimmer mit eigenem Getäfel und einem tiefen Bogenfenster nicht nur übernachtete, sondern auch des andern Morgens, während sie vor der Thüre mit einem Fuße in dem Steigbügel, mit dem andern auf dem Aufsteigeblock stand, einen unglücklichen Pagen wegen irgend einer Vernachlässigung eigenhändig beohrfeigt habe. Grübler und Zweifler, deren es leider in jeder kleinen Gesellschaft gibt (folglich auch unter den Kunden des Maibaumes) waren zwar geneigt, diese Ueberlieferung als eine Apokryphe zu betrachten; so oft aber der Wirth dieses alten Hotels den Block selbst zum Zeugen aufrief und triumphirend zeigte, wie er bis auf diesen Tag noch an derselben Stelle stehe, da wurde jeder Zweifel stets durch eine große Stimmenmehrheit entkräftet, und Alle waren freudig und jubelten, wie über einen erkämpften Sieg.

Mochte nun diese, wie so viele andere Geschichten gleicher Art wahr seyn oder nicht, jedenfalls war der Maibaum ein altes, sehr altes Haus, vielleicht so alt, als man ihm nachrühmte, vielleicht auch noch älter, wie es bisweilen bei Häusern von einem ungewissen, oder bei denen von einem gewissen Alter zu gehen pflegt. Die Fenster waren rautenförmig gegittert, die Fußböden eingesunken und uneben, die Zimmerdecken durch die Hand der Zeit geschwärzt und mit massivem Gebälke beschwert. Ueber dem Thorwege befand sich ein altes Portal mit wunderlichem und groteskem Schnitzwerk; und hier saßen an Sommerabenden die begünstigteren Kunden, rauchend und trinkend, – ja, und sie sangen auch bisweilen manches gute Lied und ruhten auf zwei grimmig aussehenden Kanapees mit hohen Lehnen, welche, wie die Zwillingsdrachen in irgend einem Feenmärchen den Eingang des Hauses bewachten.

In den Kaminen der unbenützten Zimmer hatten seit vielen Jahren die Schwalben genistet, und vom frühesten Lenz bis in den spätesten Herbst zirpten und zwitscherten ganze Colonien von Sperlingen in den Traufrinnen. Um den trübseligen Stallhof und die Außengebäude flogen mehr Tauben als irgend Jemand, der Wirth ausgenommen, zusammenrechnen konnte. Die kreisenden Schwärme von Tummeltauben und Truthühnern vertrugen sich vielleicht nicht ganz mit dem ernsten und feierlichen Charakter des Gebäudes, aber das monotone Girren, das einige davon den ganzen, lieben langen Tag hören ließen, paßte vollkommen dazu und schien es in den Schlummer zu lullen. Mit seinen überhängenden Stockwerken, den schläfrigen, kleinen Fensterscheiben und der über den Weg schwellenden und vorspringenden Vorderseite sah das alte Haus wirklich aus, als ob es im Schlafe nicke. Und in der That bedurfte es keiner sonderlichen Steigerung der Phantasie, um auch in seinen andern Theilen eine Menschenähnlichkeit zu entdecken. Die Ziegel, aus welchen es gebaut war, hatten ihr ursprüngliches, tiefes Roth verloren und waren gelb und mißfarbig geworden, wie die Haut eines alten Weibes; das starke Gebälke war zerfallen wie die Zähne eines Greisen; und da und dort umhüllte immergrüner Epheu die zerbröckelnden Wände, einem warmen Gewande gleich, dem Troste im fröstelnden Alter.

Demungeachtet war es aber noch ein gesundes und kräftiges Alter, und an Sommer- oder Herbstabenden, wenn die Strahlen der niedergehenden Sonne auf die Eichen und Kastanien des benachbarten Waldes fielen, nahm das alte Haus Theil an ihrem Glanze und schien ein ganz passender Gefährte für sie zu seyn, der noch manches gute Lebensjahr in sich hatte.

Der Abend, mit welchem wir jetzt zu thun haben, war weder ein Sommer- noch ein Herbstabend, sondern das Dämmerlicht eines Märztages, an welchem der Wind unheimlich unter den entlaubten Baumzweigen heulte, durch die weiten Kamine polterte und den Regen gegen die Fenster des Maibaumwirthshauses trieb, so daß die zufällig anwesenden Gäste einen unabweislichen Anlaß hatten, länger sitzen zu bleiben, um so mehr, da der Wirth prophetisch behauptete, die Nacht würde sich gewiß Punkt eilf Uhr aufhellen in Folge eines merkwürdigen Zusammentreffens gerade in der Stunde, zu welcher er immer sein Haus zu schließen pflegte.

Der Mann, auf welchen solch' ein prophetischer Geist niedergestiegen, hieß John Willet, ein plumper, großköpfiger Mann mit einem fetten Gesichte welches auf einen nicht zu brechenden Eigensinn, eine langsame Fassungsgabe und zugleich auf ein unbedingtes Vertrauen in seine eigenen Verdienste hinwies. In gemüthlicher Laune rühmte sich John Willet gewöhnlich, daß er zwar langsam, aber sicher gehe – wogegen sich freilich in einem gewissen Betrachte durchaus nichts einwenden ließ, sintemal er in Allem unzweifelhaft das gerade Widerspiel von Geschwindigkeit, und einer von den hartnäckigsten und starrsinnigsten Gesellen war, die je gelebt haben – immer versichert, daß Alles, was er dachte, sagte oder that, recht sey, weßhalb er es als eine ausgemachte, durch die Gesetze der Natur und der Vorsehung so geordnete Sache betrachtete, daß Jedermann, der anders sprach, dachte oder handelte, unabänderlich und nothwendig Unrecht haben müsse.

Herr Willet spazierte langsam zu dem Fenster, drückte seine fette Nase an den kalten Scheiben platt und sah hinaus, die Hand über seine Augen haltend, damit sein Gesichtssinn durch die röthliche Glut des Feuers nicht beeinträchtigt werden möchte. Dann begab er sich langsam wieder nach seinem alten Sitze in der Kaminecke zurück und machte sich's nach einem leichten Zusammenschaudern bequem, wie man wohl gerne thut, um gewissermaßen die Behaglichkeit vor einer warmen Flamme zu erhöhen. Dann ließ er den Blick über seine Gäste schweifen und begann:

»Um eilf Uhr wird sich's aufhellen – nicht früher und nicht später, nicht vorher und nicht nachher.«

»Wie könnt Ihr das wissen?« fragte ein kleiner Mann aus der andern Kaminecke. »Vollmond ist vorbei, und jetzt geht er um neun Uhr auf.«

John sah ernst und feierlich auf den Frager, bis er diese Bemerkung gehörig gefaßt hatte und antwortete sodann in einem Tone, welcher anzudeuten schien, daß der Mond sein eigentliches Fach sey und sonst Niemand etwas angehe.

»Ihr müßt Euch nie um den Mond bekümmern. Macht Euch um seinetwillen keine Unruhe. Laßt den Mond gehen und ich lasse Euch gehen.«

»Hoffentlich fühlt Ihr Euch doch nicht beleidigt?« entgegnete der kleine Mann.

Wieder wartete John eine Weile, bis diese Entgegnung ganz in sein Gehirn eingedrungen war, worauf er erwiederte: » Bis jetzt ist noch von keiner Beleidigung die Rede.« Dann zündete er seine Pfeife an und rauchte in behaglichem Schweigen, hin und wieder einen Seitenblick auf einen Mann werfend, der in einem weiten Reitkleide mit ungeheuern Aufschlägen, welche mit abgenützten Silberborden und großen Metallknöpfen verziert waren, abgesondert von der gewöhnlichen Wirthshausgesellschaft dasaß. Er hatte den Hut über sein Gesicht gedrückt, welches er noch weiter durch die Hand beschattete, auf der seine Stirne ruhte, und sah ziemlich ungesellig aus.

Auch war noch ein anderer Gast in Stiefeln und Sporen zugegen, der gleichfalls in einiger Entfernung von dem Feuer saß, und dessen Gedanken – wenn man aus seinen verschlungenen Armen, seinen zusammengekniffenen Brauen und dem Branntwein, der unberührt vor ihm stand, einen Schluß ziehen konnte – mit ganz anderen Dingen beschäftigt waren als mit den Gemeinplätzen der dermaligen Unterhaltung, oder mit den Personen, von welchen sie geführt wurde. Dieser war ein junger Mann von ungefähr achtundzwanzig Jahren, etwas über Mittelgröße, und obgleich von schmächtiger Figur, doch anmuthig und kräftig gebaut. Er trug sein eigenes dunkles Haar und war in einen Reitanzug gekleidet, der nebst den großen Stiefeln, welche in Form und Schnitt eine große Aehnlichkeit mit denen unserer Leibgardisten hatten, unbestreitbare Spuren von der schlechten Beschaffenheit der Wege zeigte. Aber so kothbespritzt das Gewand auch war, so ließ sich doch an dessen Eleganz und Reichthum, ohne daß es gerade überladen gewesen wäre, der stattliche Gentleman nicht verkennen.

Auf dem Tische neben ihm lagen gleichgültig hingeworfen eine schwere Reitpeitsche und ein Hut mit breiter, schlotteriger Krempe, welch' letzteren er ohne Zweifel als das geeignetste Schutzmittel gegen die Unbarmherzigkeit des Wetters getragen hatte. Auch befanden sich dabei ein paar Pistolen in den Halftern und ein kurzer Reitmantel. Von seinem Antlitz war wenig zu sehen, außer den langen, dunkeln Wimpern, welche die gesenkten braunen Augen verbargen; aber über der ganzen Gestalt schwebte eine sorglose Gleichgültigkeit und eine natürliche Anmuth, welche sich sogar auf die vorerwähnten kleinen Beigaben zu erstrecken schien, da Alles hübsch und in gutem Stande war.

Auf diesen jungen Herrn hefteten sich die Augen des Herrn Willet nur ein einzigesmal, gleichsam als eine stumme Frage, ob er seinen schweigsamen Nachbar bemerkt habe. Augenscheinlich war John mit dem jungen Herrn schon früher zusammengekommen, und da Ersterer fand, wie sein Blick nicht erwiedert, oder in der That von der Person, welcher er galt, nicht einmal bemerkt wurde, so concentrirte er allmälig die ganze Kraft seiner Augen in einen einzigen Brennpunkt und ließ sie nach dem Manne in dem breiten Krempenhut schießen, dem er im Laufe der Zeit mit einem so merkwürdigen Starrblicke zusetzte, daß seine Gevattern am Kamine recht eigentlich angesteckt wurden, denn Alle nahmen jene wie in Folge einer plötzlichen Verabredung, die Pfeifen aus dem Munde und stierten ebenfalls mit offenen Mäulern nach dem Fremden.

Der plumpe Wirth hatte ein paar große, ausdruckslose Fischaugen, und der kleine Mann, der die Bemerkung über den Mond gewagt hatte (der Küster und Glöckner in dem nahe gelegenen Orte Chigwell), besaß runde, glänzend schwarze Aeugelein, wie Paternosterperlen. Außerdem trug dieser kleine Mann an den Knieen seiner röthlich schwarzen Beinkleider, an seinem röthlich schwarzen Rocke und an dem ganzen Saume seiner langen Battenweste kleine wunderliche Knöpfe, die mit Nichts, als mit seinen Augen verglichen werden konnten und diesen so ganz ähnlich sahen, daß sie wenn sie in Vereinigung mit seinen blanken Schuhschnallen in dem Lichte des Feuers blitzten und glitzerten, dem Manne das Aussehen gaben, als bestehe er vom Kopf bis zum Fuß aus lauter Augen, mit deren jedem er nach dem unbekannten Gaste hinschaue. Kein Wunder, wenn ein Mann unter einer solchen Besichtigung unruhig wird, der Augen gar nicht zu gedenken, welche dem kurzen Tom Cobb, Krämer und Posthalter, und dem langen Wildmeister Phil Parkes, angehörten, da diese, von dem Beispiele ihrer Gefährten angesteckt, mit nicht geringerer Achtsamkeit den Krempenhut betrachteten.

Der Fremde wurde unruhig – vielleicht weil er einem solchen Heckenfeuer von Blicken ausgesetzt war, vielleicht auch in Folge der Beschaffenheit seiner vorhergegangenen Gedanken – höchst wahrscheinlich aus letzterem Grunde, denn als er seine Stellung änderte und sich hastig umsah, war er nicht wenig betroffen, in seiner Person den Gegenstand einer so scharfen Inspection zu entdecken, weßhalb er denn auch einen zornigen und argwöhnischen Blick nach der Gruppe am Kamine schießen ließ. Dieß hatte die unmittelbare Wirkung, alle Augen wieder nach dem Kamine abzulenken, die des John Willet ausgenommen, welcher, da er sich so zu sagen auf der That ertappt sah und er, wie bereits bemerkt, etwas langsamer Natur war, in einer eigenthümlich einfältigen und verblüfften Weise seinen Gast anzustieren fortfuhr.

»Nun?« sagte der Fremde.

Nun! Es lag nicht viel in diesem Nun – wenigstens war es keine lange Rede.

»Ich meinte, Ihr hättet etwas befohlen,« sagte der Wirth nach einer überlegenden Pause von zwei oder drei Minuten.

Der Fremde nahm seinen Hut ab und zeigte die harten, verwitterten Züge eines Sechzigers oder darüber, deren von Natur aus rauher Ausdruck nicht eben gehoben wurde durch ein dunkles, um den Kopf gebundenes Schnupftuch, welches die Dienste einer Perücke versah und seine Stirne fast bis auf die Augenbrauen hinunter bedeckte. Wenn es übrigens die Absicht hatte, die Aufmerksamkeit von einer tiefen Wunde abzuleiten, die bis auf den Backenknochen herunter gegangen seyn mußte, jetzt aber zu einer häßlichen Nacht zusammengezogen war, so wurde der Zweck schlecht erreicht, da die Narbe dem flüchtigsten Blicke auffallen mußte. Sein Gesicht war leichenblaß und trug einen graulichten, stacheligen Bart, der seine drei Wochen alt seyn mochte. So müssen wir die schlecht und ärmlich gekleidete Gestalt schildern, die jetzt von ihrem Sitze aufstand, durch das Zimmer ging und sich in der Kaminecke niedersetzte, welche ihm der kleine Küster aus Höflichkeit oder Furcht gar bereitwillig überließ.

»Ein Heerstraßenritter!« flüsterte Tom Cobb dem Wildmeister Parkes zu.

»Meint Ihr, derartige Herren seyen nicht schöner gekleidet, als dieser da?« versetzte Parkes. »Nein, das ist ein besseres Geschäft, als Ihr Euch vorstellt, Tom, und die Männer von der Heerstraße haben nicht nöthig, so schäbig einherzugehen; nehmt mein Wort dafür.«

Inzwischen hatte der Gegenstand dieser Spekulationen dem Hause die gebührende Ehre erwiesen, indem er einen Trunk bestellte, der sogleich durch den Sohn des Wirths, einen breitschultrigen großen und starken Burschen von zwanzig Jahren, Namens Joe, herbeigebracht wurde, welchen sein Vater immer noch als einen kleinen jungen Knaben zu betrachten und ihn demgemäß so zu behandeln beliebte. Der Mann streckte seine Hände gegen die prasselnde Flamme aus, um sie daran zu wärmen, wandte sodann seinen Kopf gegen die Gesellschaft um, und nachdem er sie mit scharfen Augen gemustert hatte, begann er mit einer Stimme, die ganz gut zu seiner äußeren Erscheinung paßte:

»Was ist das für ein Haus, das eine Meile oder so etwas von hier steht?«

»Wirthshaus?« fragte der Wirth mit seiner gewöhnlichen Bedächtigkeit.

»Wirthshaus?« rief Joe. »Wo ist ein Wirthshaus im Bereich von einer Meile um den Maibaum? Er meint das große Haus – den Kaninchenhag – da fehlt's gar nicht. Das alte Gebäude aus rothen Ziegeln, Sir, das auf den dazu gehörigen Gütern steht?«

»Richtig,« sagte der Fremde

»Und das vor fünfzehn oder zwanzig Jahren in einem fünfmal so großen Parke stand, der mit anderen und reicheren Grundstücken durch die wechselnden Besitzer mehr und mehr beschnipselt wurde, bis er so zusammengeschwunden ist – 's ist Jammerschade,« fuhr der junge Mensch fort.

»Möglich,« lautete die Antwort. »Aber meine Frage bezieht sich auf den Eigenthümer. Ich kümmere mich nicht drum, was es gewesen, und was es ist, kann ich selbst sehen.«

Der muthmaßliche Erbe des Maibaums drückte den Finger an seine Lippen, blickte auf den bereits erwähnten jungen Herrn, der bei Nennung des Hauses seine Stellung verändert hatte, und versetzte mit leiser Stimme:

»Der Eigenthümer heißt Haredale, Herr Geoffrey Haredale; ein« – er blickte wieder in dieselbe Richtung wie früher – »ein würdiger Gentleman, muß ich sagen – hem!«

Ohne auf diesen erinnernden Husten oder den vorangegangenen bezeichnenden Wink zu achten setzte der Fremde seine Erkundigungen fort.

»Ich ging auf meinem Herwege von der Straße ab und schlug den Feldweg ein, der über jene Grundstücke führt. Wer war die junge Dame, die ich in einen Wagen steigen sah? Seine Tochter?«

»Ei, wie könnte ich das wissen, mein guter Freund?« entgegnete Joe, der unter dem Vorwande eines Geschäftes an dem Herde dem Frager näher rückte und ihn am Aermel zupfte. »Ihr wißt, daß ich die junge Dame nicht gesehen habe. Puh! was das wieder für ein Wind ist – und ein Regen – das nenne ich einmal eine Nacht!«

»Allerdings ein schlimmes Wetter!« bemerkte der Fremde.

»Ihr seyd wohl daran gewöhnt,« sagte Joe, die Gelegenheit erfassend, um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben.

»So ziemlich,« erwiederte der Andere. »Was indeß die junge Dame betrifft – hat Herr Haredale eine Tochter?«

»Nein, nein« sagte der junge Bursche ärgerlich; »er ist ein lediger Herr – er ist – so schweigt doch – könnt Ihr nicht? Ihr seht ja, daß ein solches Gerede dem dort nicht behagt.«

Ohne auf diese flüsternde Vorstellung zu achten, oder dergleichen zu thun, als ob er sie gehört hätte, fuhr der Quälgeist herausfordernd fort:

»Ledige Männer haben auch schon Töchter gehabt. Sie kann demungeachtet seine Tochter seyn, wenn er gleich nicht verheirathet ist.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« entgegnete Joe, dann fügte er aber, näher herantretend, in leisem Tone bei: »Ihr werdet da gleich etwas abfangen, verlaßt Euch drauf.«

»Je nun, ich hatte keine böse Absicht,« erwiederte der Reisende keck, »und so viel ich weiß, sagte ich nichts, was man mir übel deuten könnte. Ich stelle einige Fragen – wie es ein Fremder wohl thun darf, ohne daß man etwas Ungewöhnliches daran zu suchen brauchte – über die Bewohner eines merkwürdigen Hauses in der Nachbarschaft, das ich noch nie gesehen, und Ihr thut so entsetzt und verstört, als ob sich's um einen Hochverrath gegen König Georg handle. Vielleicht könntet Ihr uns den Grund angeben, Sir, denn ich bin wie gesagt, ein Fremder, und all' dieß ist mir ein böhmisches Dorf.«

Die letztere Bemerkung galt augenscheinlich dem Veranlasser von Joe Willet's Verblüffung, der aufgestanden war und seinen Reitmantel umwarf, als beabsichtige er zu gehen. Der junge Herr erklärte kurz, daß er ihm keine Auskunft geben könne, winkte Joe, dem er ein Stück Geld zur Bezahlung seiner Zeche reichte und eilte sodann hinaus, von dem jungen Willet selbst begleitet, welcher ihm mit einer Kerze folgte, um ihm nach der Hausthüre zu leuchten.

Während Joe in diesem Dienste begriffen war, fuhren der ältere Willet und seine drei Gefährten fort, mit feierlicher Gravität zu rauchen, wobei Jeder in tiefem Schweigen seine Augen auf einen ungeheuren Kupferkessel heftete, der über dem Feuer hing. Nach einer Weile schüttelte der Wirth langsam seinen Kopf, worauf seine Freunde gleichfalls langsam die ihrigen schüttelten; aber keiner verwandte seine Blicke von dem Kessel, oder änderte den feierlichen Ausdruck seines Gesichtes auch nur im mindesten.

Endlich kehrte Joe zurück – sehr gesprächig und in versöhnlicher Stimmung, als habe er eine starke Vorahnung, daß er etwas nicht recht gemacht habe.

»Ein wunderlich Ding um die Liebe!« sagte er, indem er einen Stuhl an das Feuer zog und, Theilnahme suchend, umherschaute. »Er ist nach London aufgebrochen, und will den ganzen Weg dahin zu Fuß machen. Seine Mähre, die bei dem Ausritt an diesem verwünschten Nachmittag eine Lähmung abgefangen hat, liegt derzeit ganz gemächlich in unserem Stalle auf der Streu, und er versagt sich ein gutes warmes Nachtessen und unser bestes Bett, weil Miß Haredale zu einem Maskenball in die Stadt gegangen ist und er sich's in den Kopf gesetzt hat, sie zu sehen! Ich glaube nicht, daß ich mich zu so etwas bereden könnte, so schön sie auch ist. – Aber freilich bin ich nicht verliebt (ich glaube wenigstens nicht, es zu seyn), und das ist ein großer Unterschied.«

»So ist also er verliebt?« fragte der Fremde.

»Will's meinen« versetzte Joe. »Höher könnte er es wenigstens nicht treiben, und er hätte auch an ein Bischen weniger noch genug.«

»Still, Junge!« rief sein Vater.

»Du bist mir ein seiner Zeisig, Joe!« rief der lange Parkes.

»So ein unüberlegter Knabe,« murmelte Tom Cobb.

»Sich selbst voran zu stellen und eigentlich seinem Vater die Nase aus dem Gesichte zu drehen!« rief der Küster metaphorisch.

»Was habe ich denn gethan?« stellte der arme Joe vor.

»Schweig, Junge!« erwiederte sein Vater. »Was brauchst du zu schwatzen, wenn du siehst, daß Leute, die zwei- oder dreimal älter sind, als du, still und ruhig sitzen bleiben und sich's nicht einfallen lassen, nur ein Wort zu sprechen.«

»Ei, ist's nicht dann gerade die rechte Zeit für mich, zu reden?« antwortete Joe rebellisch.

»Die geeignete Zeit, Musje?« entgegnete der Vater. »Es gibt nie eine geeignete Zeit.«

»Ach, natürlich!« murmelte Parkes, indem er den andern Beiden gravitätisch mit dem Kopfe zunickte, welche ihrerseits gleichfalls mit dem Kopfe nickten, und vor sich hinflüsterten, »darum handle es sich gerade.«

»Es gibt nie eine geeignete Zeit, Bürschlein!« wiederholte Joe Willet. »In deinem Alter habe ich nie gesprochen, nie zu sprechen verlangt, sondern nur zugehört und es mir zu Herzen genommen; das habe ich gethan.«

»Und du würdest finden, Joe, daß dein Vater ein zäher Bursche im Disputiren ist, wenn es Jemand versuchen wollte, ihn anzutackeln,« sagte Parkes.

»Was das anbelangt, Phil,« bemerkte Herr Willet, indem er eine lange, dünne spiralförmige Rauchwolke aus dem Mundwinkel blies und ihr gedankenvoll nachstierte, wie sie entschwebte; »was das anbelangt, Phil, so ist das Disputiren eine Gabe der Natur. Wenn die Natur einen Menschen mit einer solchen Eigenschaft beschenkt hat, so hat er ein Recht, den besten Gebrauch davon zu machen, und er thut Unrecht, wenn er aus falschem Zartgefühl nicht zugestehen will, daß er also begabt ist; denn dieß hieße der Natur den Rücken kehren, sie verhöhnen, ihre kostbaren Geschenke geringschätzen und sich selbst als ein Schwein erweisen, das der Perlen nicht werth ist, die sie ihm vorwirft.«

Da der Wirth hier eine sehr lange Pause machte, so folgerte Herr Parkes natürlich, er habe seine Rede zu Ende gebracht, weßhalb er sich mit einiger Gravität an den jungen Mann wandte und ausrief:

»Hörst du, was dein Vater sagt, Joe? Du würdest, glaube ich, im Disputiren nicht viel mit ihm ausrichten Musje.«

» Wenn,« sagte Willet, indem er seine Augen von der Zimmerdecke nach dem Gesichte des Unterbrechers gleiten ließ, und das einsylbige Wörtchen in einer Weise betonte, als wäre es mit fetter Frakturschrift gedruckt, um ihm dadurch anzudeuten, daß er, wie man im gemeinen Leben zu sagen pflegt, sein Ruder mit ungebührlicher und unehrerbietiger Eile beigesteckt habe; » wenn die Natur mir die Gabe der Disputirkunst verliehen hat, Sir, warum sollte ich es nicht zugestehen und mich dessen sogar rühmen? Ja, Sir, ich bin ein zäher Bursche in diesem Fache. Ihr habt ganz Recht, Sir. Ich habe in dieser meiner Stube hier meine Zähigkeit oft und vielmals erprobt, Sir, wie Ihr, meine ich, wohl wissen könnt, und wenn Ihr's nicht wißt,« fügte John bei, indem er die Pfeife wieder in seinen Mund steckte, »so ist's um so besser, denn ich bin nicht stolz und keineswegs der Mann, der es Euch vorerzählen will.«

Ein allgemeines Gemurmel von Seiten seiner drei Gevattern und ein allgemeines Schütteln des Kopfes gegen den Kupferkessel hin versicherten John Willet, daß man seine Kraft recht wohl erfahren habe und keines weiteren Beweises bedürfe, um seine hohe geistige Ueberlegenheit darzuthun. John rauchte mit noch ein Bischen mehr Würde und musterte sie schweigend.

»Das ist Alles leicht gesagt,« murmelte Joe, der mit unterschiedlichen unruhigen Geberden in seinem Stuhle hin und her gerückt war. »Wenn Ihr mir aber damit bedeuten wollt, daß ich nie meine Lippen öffnen soll –«

»Schweig, Bursche!« brüllte sein Vater. »Nein, du sollst es nie. Wenn man dich um deine Meinung fragt, so antwortest du, und wenn man dich anredet, so redest du gleichfalls. Wenn man aber deiner Meinung nicht bedarf und du nicht angeredet wirst, so hast du auch keine Meinung abzugeben oder zu sprechen. Die Welt hat da seit meiner Zeit gewiß eine saubere Veränderung erlitten. Mein Glaube ist, daß es gar keine Knaben mehr gibt – daß durchaus kein solches Ding wie ein Knabe mehr übrig geblieben ist – daß man ein Wickelkind von einem Mann gar nicht mehr unterscheiden kann – und daß mit seiner gesegneten Majestät, König Georg II., alle Knaben ausgegangen sind.«

»Das ist eine sehr richtige Bemerkung, freilich mit stetiger Ausnahme der jungen Prinzen,« sagte der Küster, der, als der Repräsentant von Kirche und Staat in dieser Gesellschaft, sich zu der subtilsten Loyalität verpflichtet glaubte. »Wenn es für Knaben gottselig und recht ist, sich im Knabenalter wie Knaben zu benehmen, so kann es gar nicht fehlen, daß die jungen Prinzen Knaben seyn müssen.«

»Habt Ihr je von Meerjungfern erzählen hören, Sir?« fragte Herr Willet.

»Freilich,« versetzte der Küster.

»Sehr gut,« sagte Herr Willet. »Der Constitution der Meerjungfern gemäß muß von der Meerjungfer, so viel nicht Weib an ihr ist, Fisch seyn. Der Constitution junger Prinzen gemäß muß von einem jungen Prinzen, was nicht eigentlich ein Engel an ihm ist, gottselig und recht seyn. Wenn es daher für junge Prinzen (wie es auch bei ihrem Alter zutrifft) geziemend, gottselig und recht ist, daß sie Knaben seyn sollten, so sind und müssen sie Knaben seyn und es ist gar keine Möglichkeit vorhanden, daß sie etwas anders wären.«

Da diese Beleuchtung eines so schwierigen Punktes mit solchen Zeichen von Beifall aufgenommen wurde, daß John Willet in die beste Laune gerieth, so begnügte er sich, seinem Sohne wiederholt Stillschweigen aufzulegen und sprach sofort zu dem Fremden:

»Wenn Ihr Eure Fragen an erwachsene Personen – an mich, zum Beispiel, oder an einen von diesen Herren gestellt hättet, so würdet Ihr eine genügende Antwort erhalten und nicht umsonst Euren Athem verschwendet haben. Miß Haredale ist Herrn Geoffrey Haredale's Nichte.«

»Lebt ihr Vater noch?« fragte der Fremde gleichgültig.

»Nein,« versetzte der Wirth, »er lebt nicht, und ist auch nicht gestorben –«

»Nicht gestorben?« rief der Andere.

»Nicht gestorben auf die gewöhnliche Art und Weise,« erwiederte der Wirth.

Die Gevattern nickten einander zu, und Herr Parkes, der den Kopf schüttelte, als wollte er sagen, »möge mir Niemand widersprechen, denn ich werde ihm nicht glauben« versetzte in einem leisen Tone: »John Willet sey diesen Abend erstaunlich stark und könnte wohl mit einem Oberrichter anbinden.«

Der Fremde schwieg eine Weile und fragte dann abgebrochen:

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Mehr als Ihr denkt, Freund,« entgegnete John Willet. »Es liegt mehr Sinn in diesen Worten, als Ihr vermuthet.«

»Möglich,« sagte der Fremde grämlich; »aber was zum Teufel braucht Ihr so in Geheimnissen zu sprechen? Ihr habt mir vorhin gesagt, der Mann lebe nicht, sey aber auch nicht gestorben – dann, er sey nicht gestorben in der gewöhnlichen Art und Weise – und dann meint Ihr, es läge weit mehr in Euern Worten, als ich vermuthe. Offen gesprochen, so etwas ist leicht gesagt, denn so viel ich finden kann, liegt kein Sinn dahinter. Ich frage daher noch einmal, was meint Ihr damit?«

»Das,« versetzte der Wirth, der durch den sauertöpfischen Fremden ein wenig aus seiner Würde herausgeworfen wurde, »ist eine Maibaumgeschichte, und ist es seit den letzten vierundzwanzig Jahren immer gewesen; 's ist Solomon Daisy's Geschichte. Sie gehört zu dem Hause, und Niemand, als Solomon Daisy hat sie je unter diesem Dache erzählt, oder, was noch mehr ist, soll sie erzählen.«

Der Mann blickte auf den Küster, dessen kenntnißreiche und würdige Miene klärlich bekundete, daß er die erwähnte Person sey; und da er bemerkte, daß der genannte Mann nach einem sehr langen Zuge, um sie brennend zu erhalten, seine Pfeife aus dem Munde genommen hatte und augenscheinlich im Begriffe war, seine Geschichte ohne weiteres Drängen zu erzählen, so schlug er seinen weiten Rock um sich, und zog sich noch weiter zurück, bis er sich in dem Dunkel der geräumigen Kaminecke fast ganz verlor, indem seine Gestalt nur für Augenblicke erleuchtet wurde, wenn die Flamme sich unter einem großen Reißigbund, der sie fast erdrückte, emporkämpfte und in starker und plötzlicher Lohe in die Höhe schlug, dann aber eine tiefere Dunkelheit als zuvor eintreten ließ. Bei diesem flackernden Lichte, in welchem das alte Zimmer mit seinem schweren Gebälke und den getäfelten Wänden aussah, als sey es von polirtem Ebenholz gebaut – und während der Wind draußen brüllte und heulte, bald an der Klingel rasselnd und die Angeln der starken Eichenthüre erknarren machend, bald gegen den Fensterrahmen treibend, als wolle er denselben einschlagen – bei diesem Lichte und unter so bedeutungsvollen Auspizien begann Solomon Daisy seine Erzählung.

»Herr Reuben Haredale, Herrn Geoffrey's älterer Bruder –«

Hier machte er mit einemmale Halt und pausirte so lange, daß sogar John Willet ungeduldig wurde und ihn fragte, warum er nicht fortführe.

»Cobb,« sagte Solomon Daisy, seine Stimme dämpfend, und den Posthalter anredend; »welchen Monatstag haben wir heute?«

»Den neunzehnten.«

»März« fügte der Küster, sich vorwärts beugend, bei.

»Den neunzehnten März; das ist sehr sonderbar.«

Alle stimmten flüsternd bei und Solomon fuhr fort:

»Herr Reuben Haredale, Herrn Geoffrey's älterer Bruder, war vor zweiundzwanzig Jahren der Besitzer des Kaninchenhags, der, wie Joe gesagt hat – nicht, daß du dich deß noch erinnerst, Joe, denn dieß ist bei einem Jungen, wie du, unmöglich, sondern weil du mich's oft erzählen hörtest – damals ein weit größeres, besseres und einträglicheres Gut war, als jetzt. Seine Frau war vor Kurzem gestorben, und hinterließ ihm ein einziges Kind – die Miß Haredale, nach der Ihr gefragt habt – welches damals kaum ein Jahr alt war.«

Obgleich sich der Sprecher an den Mann wandte, der so viel Neugierde hinsichtlich derselben Familie an den Tag gelegt hatte, und obgleich er hier eine Pause machte, als erwarte er einen Ausruf der Ueberraschung oder Ermuthigung, so ließ Letzterer doch keine Bemerkung fallen und gab ebensowenig durch irgend eine Andeutung zu erkennen, daß er das Gesagte höre oder sich dafür interessire. Solomon wandte sich daher wieder an seine alten Kameraden, deren Nasen prächtig durch die glührothe Glut ihrer Pfeifenköpfe beleuchtet waren – durch lange Erfahrung von ihrer Aufmerksamkeit überzeugt und entschlossen, seine Empfindlichkeit gegen ein solches ungebührliches Betragen an den Tag zu legen.

»Herr Haredale,« sagte Solomon, dem Fremden den Rücken zukehrend, »verließ nach dem Tode seiner Frau diesen Ort, weil er sich hier zu einsam fühlte, und ging nach London, wo er sich mehrere Monate aufhielt; da es ihm aber auch dort so einsam wurde – wie in dem Kaninchenhag – ich will das wohl glauben und habe von London nie anders sprechen hören – kehrte er plötzlich mit seinem kleinen Mädchen nach dem letzteren Orte zurück und brachte damals außerdem noch zwei weibliche Dienstboten, seinen Hausverwalter und einen Gärtner mit.«

Herr Daisy hielt inne, um einen Zug aus seiner Pfeife zu thun, welche ausgehen wollte, und fuhr dann wieder fort – anfangs in einem näselnden Tone, veranlaßt durch den Wohlgeruch des Tabaks und das starke Ziehen aus der Pfeife, später aber mit erhöhter Deutlichkeit:

»Brachte also zwei weibliche Dienstboten mit, seinen Hausmeister und einen Gärtner. Seine übrige Dienerschaft war in London zurückgeblieben und sollte erst des andern Tages nachkommen. Zufällig starb in jener Nacht ein alter Herr, der in Chigwell-row wohnte und schon lange krank gewesen war, weßhalb Nachts um halb ein Uhr das Gesuch an mich erging, hinzugehen und die Sterbeglocke zu läuten.«

Unter den Zuhörern entstand eine Bewegung, welche hinreichend die Abneigung beurkundete, mit welcher Jeder von ihnen sich zu einer solchen Stunde und zu einer solchen Verrichtung auf den Weg gemacht haben würde. Der Küster fühlte und verstand dieß, und machte demgemäß in seinem Thema weiter.

»Ja, es war zuverlässig eine schauerliche Aufgabe, zumalen da der Todtengräber bettlägerig war, in Folge seiner langen Arbeit im feuchten Boden und des Niedersitzens auf kalten Grabsteinen, um sein Mittagessen darauf einzunehmen. Ich sah mich deßhalb genöthigt, allein zu gehen, denn es war schon zu spät, als daß ich hätte hoffen dürfen, einen andern Begleiter aufzutreiben. Wie dem übrigens sey, ich war nicht unvorbereitet darauf; denn der alte Herr hatte oft gebeten, man möchte die Glocke in möglichster Bälde läuten, nachdem der Athem aus seinem Körper entwichen wäre, und man hatte ihm schon ein paar Tage auf's Ende gewartet. Ich machte also zum bösen Spiel eine möglichst gute Miene, mummte mich warm ein (denn es war eine grimmige Kälte) und brach mit meiner Laterne in der einen und dem Kirchenschlüssel in der andern Hand auf.«

Als die Erzählung so weit gekommen war, rauschte das Gewand des Fremden, als ob er sich umgewandt hätte, um deutlicher hören zu können. Leicht mit dem Daumen über die Schulter deutend, zog Solomon seine Augenbrauen in die Höhe und nickte Joe eine stumme Frage zu, ob dieß wirklich der Fall sey. Joe beschattete seine Augen mit der Hand und spähte nach dem Winkel; da er jedoch keine Gewißheit darüber einzuziehen vermochte, so schüttelte er den Kopf.

»Es war gerade eine solche Nacht, wie diese: ein eigentlicher Orkan, schwere Regengüsse und ungemein finster – ich meine oft, finsterer, als ich je vorher oder nachher eine Nacht gesehen habe. Möglich, daß dieß nur eine Einbildung ist, aber die Häuser waren alle geschlossen, die Leute drinnen, und vielleicht existirt nicht ein einziger weiterer Mann, der sagen könnte, wie dunkel es in Wirklichkeit war. Ich ging in die Kirche, hackte die Thüre ein, daß sie offen bleiben mußte – denn aufrichtig gestanden, es sagte mir nicht zu, mich allein dort einzuschließen – stellte meine Laterne auf die steinerne Bank in dem kleinen Winkel, wo das Glockenseil ist, und setzte mich daneben nieder, um das Licht zu schneuzen.

Ich setzte mich also daneben, um das Licht zu schneuzen, und nachdem ich dieß gethan hatte, konnte ich es nicht über mich gewinnen, wieder aufzustehen und an's Werk zu gehen. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich dachte an alle Geistergeschichten, von denen ich je gehört, ja sogar an diejenigen, die man mir, als ich noch Schulknabe war, erzählt und die ich längst vergessen hatte; und sie fielen mir nicht eine nach der andern ein, sondern alle zumal. Ich erinnerte mich einer Sage, die im Dorfe umging, wie in einer gewissen Nacht des Jahres (ich konnte nicht wissen, ob es nicht gerade dieselbe Nacht war) alle Todten aus der Erde hervorstiegen und sich bis zum Morgen oben an ihren Gräbern niedersetzten. Dieß brachte mich auf den Gedanken, wie viele Leute, die ich kannte, zwischen der Kirchthüre und dem Kirchhofthore begraben lägen, und wie schauerlich es sein müßte, an ihnen vorbeizugehen und sie zu erkennen, so erdfahl und sich selbst so ganz unähnlich. Ich hatte von Kindsbeinen an alle Nischen und Bogen in der Kirche gekannt; und doch konnte ich mich nicht überreden, daß es ihre natürliche Schatten wären, die ich auf dem Pflaster sah, sondern es war mir, als ob einige häßliche Gestalten sich dahinter versteckten und hervorsahen. Unter solchen Gedanken fiel mir auch der eben verstorbene alte Herr ein, und ich hätte, als ich nach der dunkeln Kanzel hinaufsah, darauf schwören wollen, ich sehe ihn an seinem gewöhnlichen Platze, in sein Leichentuch gehüllt und zusammenschaudernd, als ob es ihn fröre. Diese ganze Zeit über saß ich horchend und horchend, indem ich kaum zu athmen wagte. Endlich fuhr ich auf und griff nach dem Glockenseile. In demselben Augenblicke klang – nicht diese Glocke, denn ich hatte das Seil kaum berührt – sondern eine andere!

Ich hörte deutlich das Geläute einer andern, und zwar einer sehr tieftönenden Glocke. Es dauerte nur einen Augenblick und selbst da führte der Wind den Schall hinweg. Ich lauschte noch eine geraume Weile, aber sie klang nicht mehr. Ich hatte von Leichenkerzen gehört, und endlich fühlte ich mich überzeugt, daß dieß eine Leichenglocke sein müßte, die um Mitternacht selbst um die Todten läute. Ich setzte nun meine Glocke in Bewegung – wie oder wie lange weiß ich nicht – und eilte nach Hause in mein Bett, so schnell als mich meine Füße tragen wollten.

Des andern Morgens stand ich nach einer schlaflosen Nacht früh auf und erzählte die Geschichte meinen Nachbarn. Einige nahmen die Sache ernst, andere nur so oben hin, und ich denke nicht, daß Jemand an ihre Wirklichkeit glaubte. Aber an demselben Morgen fand man Herrn Reuben Haredale in seinem Schlafzimmer ermordet, und in seiner Hand ein Stück Seil, das zu einer Lärmglocke über dem Dache gehört hatte. Der Strick hing in sein Zimmer herunter und war ohne Zweifel von dem Mörder abgeschnitten worden, als Herr Haredale darnach langte.

Dieß war die Glocke, die ich gehört hatte.

Man fand ein Bureau erbrochen, und eine Geldkasse, welche Herr Haredale an diesem Tage mit sich gebracht hatte, und die, wie man vermuthete, eine große Summe Geldes enthielt, war fort. Man vermißte und beargwohnte geraume Zeit den Hausmeister und den Gärtner; aber sie wurden nicht gefunden, obgleich man weit und breit nach ihnen streifte. Und man hätte weit genug nach dem Hausmeister, dem armen Herrn Rudge, spähen müssen, dessen Leiche – kaum mehr an seinen Kleidern, der Uhr und dem Ringe, die er trug, zu erkennen – nach vielen Monaten aus dem kleinen Teich auf den Grundstücken ausgefischt wurde, eine tiefe Wunde von einem Messerstich in der Brust. Er war nur theilweise angekleidet, und alle Leute meinten, er müsse lesend in seinem Zimmer gesessen haben, wo sich noch viele Blutspuren vorfanden, daselbst plötzlich überfallen und vor den Augen seines Herrn getödtet worden seyn.

Jedermann wußte nun, daß der Gärtner der Mörder seyn mußte; und obgleich man von jener Zeit bis auf den heutigen Tag nichts von ihm hörte, so wird man doch, denkt an mich, seiner Zeit sicherlich etwas von ihm erfahren. Das Verbrechen wurde heute vor zweiundzwanzig Jahren begangen – am neunzehnten März irgend eines Jahres, gleichviel wann – ich weiß es und bin überzeugt davon, denn seitdem sind wir immer an diesem Tage auf eine oder die andere wundersame Weise auf diese Geschichte zurückgebracht worden – am neunzehnten März in irgend einem Jahre, früher oder später, wird dieser Mensch entdeckt werden.«



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