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Einundzwanzigstes Kapitel.

Es gereichte für den Augenblick Dolly zur unaussprechlichen Beruhigung, in der Person, welche sich so plötzlich in den Weg gedrängt hatte und nun hart vor ihr stand, den Maibaum-Hugh zu erkennen, dessen Namen sie im Tone entzückter und wahrhaft aus dem Herzen kommender Ueberraschung ausrief.

»Ah, Ihr wart es?« sagte sie. »Wie freut es mich, Euch zu sehen! Und wie konntet Ihr mich so erschrecken?«

Hugh gab keine Antwort, sondern blieb stehen und schaute sie an. »Seyd Ihr mir entgegengegangen?« fragte Dolly.

Hugh nickte mit dem Kopfe und murmelte, er habe auf sie gewartet und geglaubt, daß sie früher kommen würde.

»Dachte ich's doch, daß man nach mir schicken würde,« sagte Dolly, hiedurch höchlich beruhigt.

»Es hat mich Niemand geschickt,« lautete die grämliche Erwiederung. »Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen.«

Das rauhe Benehmen dieses Kerls und seine wilde, ungeschlachte Außenseite hatten dem Mädchen oft, selbst wenn andere Leute zugegen waren, eine unbestimmte Angst eingeflößt und sie veranlaßt, unwillkürlich vor ihm zurückzubeben. Ihn aber an einem so einsamen Orte und in der zunehmenden Dunkelheit als einen aufdringlichen Begleiter um sich zu haben – dieß erneuerte und vermehrte sogar die Unruhe, die sie anfangs gefühlt hatte.

Wäre sein Benehmen blos verdrießlich und wild in sich gekehrt gewesen, wie es sonst bei ihm der Fall war, so hätte sie wohl kein größeres Mißbehagen an seiner Gesellschaft gefunden, als sie gewöhnlich fühlte – vielleicht wäre sie sogar froh gewesen, ihn zur Hand zu haben. Aber es lag etwas von roher und verwegener Bewunderung in seinem Blicke, was sie sehr erschreckte. Sie blickte schüchtern nach ihm auf, ohne zu wissen, ob sie vorwärts oder rückwärts gehen sollte, während er dastand, sie wie ein schöner Satyr angaffend, und so verblieben sie eine Weile, ohne sich zu rühren oder das Schweigen zu unterbrechen. Endlich nahm Dolly ihren ganzen Muth zusammen, schoß an ihm vorbei und eilte weiter.

»Warum jagt Ihr Euch außer Athem, um mich zu vermeiden?« sagte Hugh, indem er seinen Schritt dem ihrigen anpaßte und sich dicht an ihre Seite hielt.

»Ich möchte so bald als möglich bei den Meinigen seyn, und Ihr seyd mir zu nahe auf dem Leibe,« antwortete Dolly.

»Zu nahe?« entgegnete Hugh, indem er sich über sie beugte, daß sie den Hauch seines Athems an ihrer Stirne fühlen konnte. »Warum zu nahe? Ihr seyd immer so stolz gegen mich, Fräulein.«

»Ihr seyd im Irrthum, denn ich bin gegen Niemand stolz,« erwiederte Dolly. »Seyd so gut, zurückzubleiben oder vorauszugehen.«

»Mein Fräulein,« versetzte er, indem er sich bemühte, ihren Arm durch den seinigen zu ziehen. »Ich will mit Euch gehen.«

Sie machte sich los, ballte ihre kleine Hand und schlug aus Leibeskräften nach ihm. Hierüber brach Maibaum-Hugh in ein schallendes Gelächter aus, legte seinen Arm um ihren Leib und hielt sie mit leichter Mühe fest, als ob sie blos ein Vogel wäre.

»Ha, ha, ha! brav gemacht. Fräulein! Schlagt noch einmal zu. Ihr könnt mich in's Gesicht schlagen, mein Haar zerraufen und meinen Bart mit den Wurzeln ausreißen – ich habe nichts dagegen um Eurer glänzenden Augen willen. Schlagt noch einmal zu, Fräulein. Versucht es. Ha, ha, ha! Es macht mir Spaß!«

»Laßt mich gehen,« rief sie, indem sie sich mit beiden Händen gegen ihn wehrte. »Laßt mich augenblicklich los.«

»Ihr könntet mich wohl etwas freundlicher behandeln, Goldmündchen,« sagte Hugh. »Das könntet Ihr in der That. Doch sagt mir jetzt, warum Ihr immer so stolz seyd. Ich will aber keine Händel deßhalb mit Euch anfangen, denn es gefällt mir, daß Ihr stolz seyd. Ha, ha, ha! Aber doch könnt Ihr Eure Schönheit nicht vor einem armen Kerl verbergen; das ist ein Trost.«

Sie gab ihm keine Antwort, sondern fuhr eben fort, so rasch als möglich vorwärts zu dringen, da er sie bisher noch nicht aufgehalten hatte. Unter aller Eile, dem Schrecken und der Zähigkeit, womit er sich anschloß, schwanden ihr aber endlich die Kräfte, und sie konnte nicht weiter.

»Hugh« rief das athemlose Mädchen, »guter Hugh, wenn Ihr mich loslaßt, so will ich Euch Alles geben – Alles, was ich habe, und keinem lebenden Wesen auch nur ein Wort davon sagen.«

»Da thut Ihr jedenfalls gut daran,« antwortete er. »Hört Ihr's, mein Täubchen, Ihr thut gut daran. Alle in der Umgegend kennen mich und wissen, wozu ich fähig bin, wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe. Wenn Ihr je einmal Lust hättet, auszuplaudern, so haltet die Worte zurück, die Euch auf den Lippen schweben, und denkt an das Unheil, das Ihr dadurch über mehrere unschuldige Häupter bringen könntet, von denen Ihr vielleicht nicht wolltet, daß ihnen ein Haar gekrümmt würde. Bringt Ihr mich in Ungelegenheit, so will ich dafür auch Andere in Ungelegenheit und in noch etwas mehr bringen. Ich kümmere mich nicht weiter um sie, als ob es eben so viel Hunde wären; nein, nicht einmal so viel – warum sollte ich's auch? Ich wollte zu jeder Stunde lieber einen Menschen umbringen, als einen Hund, denn der Tod eines Menschen hat mir nie leid gethan, aber um einen Hund habe ich schon getrauert.«

Diese barschen Worte wurden von so durchaus wilden Blicken und Geberden begleitet, daß die Angst ihr neue Kraft verlieh und es ihr möglich machte, sich durch eine plötzliche Anstrengung loszuwinden und dem Zudringlichen eiligen Fußes zu entfliehen. Aber Hugh war so gut auf den Beinen, als nur Einer im weiten England, und so bot sie vergeblich allen ihren Kräften auf, denn er, hatte sie wieder mit seinen Armen umfaßt, ehe sie noch hundert Schritte weit gekommen war.

»Gemach Schätzchen, gemach – wollt Ihr vor dem rauhen Hugh fliehen, der Euch eben so sehr liebt, als nur irgend ein süßes Herrchen in dem Besuchszimmer?«

»Ja, ich will,« antwortete sie, auf's Neue bemüht, sich loszuwinden. »Ich will. Hülfe!«

»Ihr müßt Strafe zahlen für dieses Schreien,« sagte Hugh. »Ha, ha, ha, Strafe, mein Schätzchen, mit Euren schönen Lippen. Ich mache mich selbst bezahlt! Ha, ha, ha!«

»Hülfe! Hülfe! Hülfe!«

Während dieses mit allem nur möglichem Ungestüm ausgestoßenen Hülferufs ließ sich aus der Ferne eine mehrfach wiederholte Beantwortung desselben vernehmen.

»Gott sey Dank!« rief das Mädchen in ihren Todesängsten. »Joe, lieber Joe, hierher! Hülfe!«

Der Angreifer hielt inne und blieb einen Augenblick unschlüssig stehen; die rasch näher und näher kommenden Rufe jedoch drängten ihn zu einem schleunigen Entschluß. Er ließ sie los, flüsterte ihr mit drohendem Blicke zu: »Sagt's ihm nur und seht zu, was dann folgt!« sprang in die Hecke und war im Nu verschwunden. Dolly eilte weiter und lief geradenwegs in Joe Willets offene Arme.

»Was ist vorgefallen? Habt Ihr Schaden genommen? Was gab es? Wer war es? Wo ist er? Wie sah er aus?« lauteten Joe's erste Worte, denen er noch viele beruhigende Betheuerungen, daß sie in Sicherheit sey, beifügte.

Die arme kleine Dolly war jedoch so erschreckt und außer Athem, daß sie eine geraume Zeit gänzlich außer Stand war, ihm zu antworten, denn sie hängte sich nur an seine Schulter und weinte und schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

Joe hatte nicht das Mindeste einzuwenden, daß sie sich an seine Schulter klammerte, nein, nicht das Mindeste, obschon ihre kirschrothen Bänder dadurch elendiglich zerdrückt wurden und ihr hübscher, kleiner Hut ganz aus der Form kam. Doch weinen konnte er sie nicht sehen – es schnitt ihm in's Herz. Er versuchte, sie zu trösten, beugte sich über sie, flüsterte ihr zu – Einige wollen sogar wissen, daß er sie geküßt habe, doch dieß ist eine Fabel. Jedenfalls sagte er ihr alles Freundliche und Zärtliche, was ihm nur einfiel, und Dolly ließ ihn gewähren, ohne ihn auch nur ein einzigesmal zu unterbrechen. So stand es denn gute zehn Minuten an, ehe sie im Stande war, das Köpfchen aufzurichten und ihm zu danken.

»Was hat Euch denn so in Angst gesetzt?« fragte Joe.

Sie anwortete, ein ihr unbekannter Mann sey ihr nachgefolgt, habe sie zuerst angebettelt und dann sie berauben wollen, was er eben in Ausführung zu bringen gedacht und sicher auch vollzogen hätte, wenn ihr nicht Joe so gelegen zu Hilfe gekommen wäre. Das Stocken und die Verwirrung, womit sie dieses sagte, schrieb Joe auf Rechnung ihrer ausgestandenen Angst, und es fiel ihm keinen Augenblick ein, die Wahrheit ihrer Aussage zu beargwöhnen.

»Haltet die Worte zurück, die Euch auf den Lippen schweben.« Dolly dachte diesen Abend wohl hundertmal, und auch nachher noch sehr oft an diese Worte, wenn ihr eine Enthüllung dieses Auftritts auf die Zunge trat, und drängte dieselbe wieder zurück. Eine tiefgewurzelte Furcht vor dem Manne, die Ueberzeugung, daß sein wilder Charakter, einmal gereizt, durch nichts zu bändigen seyn würde, das lebhafte Vorgefühl, wenn sie ausschwatzte, würde das volle Maß seines Zornes und seiner Rache auf Joe niederfallen, der sie bewahrt hatte – dieß waren Erwägungen, die ihr allen Muth benahmen und das Geheimniß in ihren Busen zurückdrängten.

Joe seinerseits war viel zu selig, um ein sehr nachdrückliches Verhör über die Sache anzustellen, und da Dolly noch zu sehr zitterte, um ohne Beistand vorwärts zu kommen, so gingen sie langsam und, seiner Ansicht nach, sehr vergnüglich weiter, bis die nahen Lichter des Maibaums ihren freundlichen Willkomm blinkten. Jetzt machte Dolly plötzlich Halt und rief erschreckt aus:

»Der Brief!«

»Welcher Brief?« entgegnete Joe.

»Den ich bei mir hatte – ich trug ihn in der Hand. Auch mein Armband,« sagte sie, nach ihrem Handgelenk greifend. »Ich habe Beides verloren.«

»Wie – eben erst?« erwiederte Joe.

»Entweder habe ich sie damals fallen lassen, oder sie wurden mir mit Gewalt entrissen,« antwortete Dolly, vergeblich ihre Tasche durchsuchend und mit ihren Kleidern raschelnd. »Sie sind fort, beide fort. O ich unglückliches Mädchen!«

Mit diesen Worten fing die arme Dolly, welcher wir die Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen, daß sie den Verlust des Briefes ebenso beklagte, als den ihres Armbandes, auf's Neue zu weinen an und bejammerte ihr Schicksal schmerzlich.

Joe versuchte es, sie durch die Versicherung zu trösten, daß er, so bald er sie im Maibaume wohlverwahrt untergebracht habe, mit einer Laterne (denn es war schon sehr finster) nach der Stelle zurückkehren und genaue Nachforschung nach den vermißten Gegenständen anstellen wolle, die sich sehr wahrscheinlich auch vorfinden müßten, da wohl Niemand seitdem des Weges gekommen sey und sie sich nicht ausdrücklich erinnern könne, daß sie ihr gewaltsam abgenommen worden wären. Dolly dankte ihm auf's herzlichste für sein Anerbieten, obgleich sie sich nur wenig von dem Erfolge seiner Nachforschung versprach; und so erreichten sie endlich unter vielen Lamentationen von ihrer, und vielen hoffnungsvollen Worten von seiner Seite, wobei Dolly alle Augenblicke eine Schwäche anwandelte, die Joe's zarten Beistandes bedürftig war, die Schranken des Maibaums, wo der Schlosser, seine Gattin, und der alte John noch immer bei ihrem Feiertagsschmause saßen.«

Herr Willet nahm die Nachricht von dem Angriffe auf Dolly mit jener überraschenden Geistesgegegenwart und Sprachfertigkeit auf, um deren willen er sich vor allen Menschen so sehr auszeichnete. Frau Varden legte ihr Mitgefühl für das Ungemach ihrer Tochter durch Schmählen über ihre Verspätung an den Tag, und der Schlosser theilte seine Zeit darein, daß er bald Dolly bedauerte und küßte, bald Joe herzlich die Hand drückte, dem er nicht genug danken und Lobsprüche spenden konnte.

Hinsichtlich des letzteren Punktes war der alte John durchaus nicht mit seinem Freunde einverstanden, denn abgesehen davon, daß er ein abgesagter Feind aller Wagehälse war, fiel ihm auch ein, wenn sein Sohn und Erbe in einem Kampfe ernstlich Schaden genommen hätte, so wären die Folgen davon wahrscheinlich sehr kostspielig und unbequem gewesen; auch hätte ohne Zweifel das Maibaumgeschäft darunter bedeutend Noth leiden müssen. Aus diesem Grunde und weil er überhaupt nicht gut auf junge Frauenzimmer zu sprechen war, da er sie, wie auch das ganze weibliche Geschlecht, gewissermaßen für einen unsinnigen Mißgriff in der lieben Gottes Natur betrachtete, nahm er die Gelegenheit wahr, sich zurückzuziehen und privatim gegen den Kessel den Kopf zu schütteln. Durch die Inspirationen dieses stummen Orakels ließ er sich auch veranlassen, Joe verstohlenerweise unterschiedliche Ellenbogenstöße zu versetzen – als eben so viele väterliche Verweise und sanfte Ermahnungen, nur auf seine eigenen Angelegenheiten zu achten und nicht sich selber zum Narren zu machen.

Joe nahm jedoch die Laterne herunter, zündete sie an, bewaffnete sich mit einem tüchtigen Knüttel, und, fragte, ob Hugh im Stalle sey.

»Er schläft vor dem Küchenfeuer,« sagte Herr Willet. »Was willst du von ihm?«

»Er soll mit mir gehen, um mir das Armband und den Brief suchen zu helfen,« antwortete Joe. »Heda! Hugh!«

Dolly wurde leichenblaß, und es war ihr, als ob sie augenblicklich in Ohnmacht sinken müßte. Bald darauf stolperte Hugh herein, seiner Gewohnheit nach sich streckend und gähnend, und zeigte ganz das Aeußere eines Menschen, der eben aus einem gesunden Schlaf geweckt wurde.

»Da, du Siebenschläfer,« sagte Joe, indem er ihm die Laterne gab. »Trage dieß und nimm auch den Hund und deinen Knüttel mit. Wehe dem Kerl, wenn er sich betreten läßt!«

»Welchem Kerl?« grölzte Hugh, sich schüttelnd und die Augen ausreibend.

»Welchem Kerl?« entgegnete Joe, der nun ganz Mannhaftigkeit und Rührigkeit war; »einem Kerl, den du kennen und dem du besser auf die Nähte gehen solltest. Aber so ein fauler Gaul kann nichts thun, als seine Zeit in Kaminwinkeln verschlafen, während ehrlicher Leute Töchter nicht einmal im Stande sind, nach Anbruch der Nacht über unsere Wiesen zu gehen, ohne von Heckendieben angefallen und in Todesängsten gejagt zu werden.«

»Mich beraubt man nie,« rief Hugh mit einem Gelächter, »denn man weiß wohl, daß bei mir nichts zu holen ist. Ich wollte ihnen übrigens eben so gern eins vor den Kopf geben, als irgend Jemand Anderem. Wie viele sind ihrer?«

»Nur ein Einziger,« sagte Dolly mit matter Stimme, da alle Augen auf sie geheftet waren.

»Und wie sah er aus, Fräulein,« fragte Hugh mit einem Blick auf den jungen Willet, aber nur so leicht und rasch, daß die wilde Glut darin allen Andern, als dem Mädchen entging. »Ungefähr von meiner Größe?«

»Nein – nicht ganz,« versetzte Dolly, welche kaum wußte,was sie sagte.

»Seine Kleidung –« fuhr Hugh, sie scharf ansehend, fort, hatte sie – hatte sie Aehnlichkeit mit dem Anzuge eines der hier Gegenwärtigen? Ich kenne alle Leute in der Nachbarschaft und errathe ihn vielleicht, wenn man mir Merkmale angibt, an die man sich halten kann.«

Dolly stotterte und wurde noch blasser; dann antwortete sie, er habe einen weiten Mantel angehabt und sein Gesicht unter einem Schnupftuche versteckt, weßhalb sie keine weitere Beschreibung von ihm geben könne.

»Ihr würdet ihn also nicht wieder kennen, wenn Ihr ihn zu Gesicht bekämet?« entgegnete Hugh mit einem boshaften Grinsen.

»Nein,« antwortete Dolly, abermals in Thränen ausbrechend. »Ich wünsche ihn nicht zu sehen. Schon der Gedanke an ihn ist mir unerträglich. Ich kann nicht einmal mehr von ihm sprechen. Ich bitte Euch, Herr Joe, geht nicht fort, um nach diesen Dingen zu sehen. Um Gotteswillen, geht nicht mit diesem Menschen!«

»Er soll nicht mit mir gehen?« rief Hugh. »Natürlich, ich bin für Alle zu rauh, und Alles fürchtet sich vor mir. Aber, so wahr ich lebe. Fräulein, ich habe das allerempfindsamste Herz. Ich liebe alle Frauenzimmer. Ma'am,« fügte Hugh, gegen die Schlosserin gewendet, bei.

Frau Varden meinte, wenn dieß der Fall sey, so sollte er sich vor sich selbst schämen; denn solche Gesinnungen, folgerte sie, vertrügen sich nur mit den in Nacht versunkenen Muselmännern, oder den wilden Indianern, nicht aber mit guten Protestanten. Aus diesem unvollkommenen Zustande seiner Moral zog Frau Varden den weiteren Schluß, daß er wohl nie die protestantische Hausandacht studirt habe. Da Hugh dieß zugab und noch ferner eingestand, daß er gar nicht lesen könne, so erklärte Frau Varden mit großer Strenge, daß er sich jetzt um so mehr vor sich selbst schämen sollte, und empfahl ihm nachdrücklich, sein Taschengeld zusammen zu sparen, um sich eine Hausandacht kaufen und sofort den Inhalt derselben mit dem gebührenden Eifer selbst lernen zu können. Sie war noch in ihrer Predigt begriffen, als Hugh, etwas unhöflich und unehrerbietig, seinem jungen Herrn nachging und es ihr überließ, die übrige Gesellschaft zu erbauen. Dieß that sie auch, und da sie fand, daß Herrn Willet's Augen scheinbar in großer Aufmerksamkeit auf sie geheftet waren, so richtete sie nachgerade ihre ganze Rede an ihn, indem sie ihn mit einer moralischen und theologischen Vorlesung von beträchtlicher Länge beglückte, fest überzeugt, daß große Dinge in seinem Geiste vorgingen. Die einfache Wahrheit bestand übrigens darin, daß Herr Willet, obgleich seine Augen weit offen waren und ein Weib vor sich sahen, deren Kopf durch das lange und stetige Hinstarren immer größer und größer zu werden schien, bis er das ganze Schenkstübchen ausfüllte, für jede weitere Betrachtung fest eingeschlafen war. So saß er denn, mit in die Tasche gesteckten Händen, in seinem Stuhle zurückgelehnt, bis die Rückkehr seines Sohnes ihn veranlaßte, mit einem matten Seufzer und der unklaren Vorstellung zu erwachen, daß er von eingepökeltem Schweinefleisch und Sauerkraut geträumt habe – eine Vision, welche ohne Zweifel mit dem Umstande zusammenhing, daß Frau Varden häufig und mit vielem Nachdrucke das Wort »Gebet« ausgesprochen hatte. Dieses Wort war nun durch die Pforten von Herrn Willet's Gehirn, als sie noch offen standen, eingedrungen, und hatte sich mit dem Beisatze »vor dem Essen« gepaart, und so bildete er sich denn eine eigene Art Essen daraus, wobei er natürlich zuerst auf sein Lieblingsfleisch verfiel, mit dem er die gewöhnliche Gemüsebeigabe in Verbindung brachte.

Das Nachspähen war durchaus erfolglos gewesen. Joe hatte wohl ein Dutzendmal den Weg, das Gras, den trockenen Graben und die Hecken durchsucht, ohne etwas finden zu können. Dolly, die ganz untröstlich über ihren Verlust war, theilte Miß Haredale brieflich den ihr zugestoßenen Vorfall auf dieselbe Weise, wie im Maibaum, mit, und Joe übernahm es, das Schreiben zu überliefern, sobald die Familie am andern Morgen auf seyn würde. Sobald dieß besorgt war, setzten sie sich im Schenkstübchen zum Thee nieder, wo es eine ganz ungewöhnliche Zurschaustellung von gebutterten Röstschnitten und – damit man aus Nahrungsmangel nicht von einer Schwäche heimgesucht würde und eine angenehme Zwischenstation zwischen Mittag- und Nachtessen hätte – von würzigen Kleinigkeiten in der Gestalt großer Schinkenstücke gab, die, wohl gesalzen, gar gekocht und dampfend heiß, einen ungemein verlockenden und köstlichen Duft entsandten.

Frau Varden war selten sehr protestantisch beim Essen, wenn es nicht zufälligerweise etwa ungar oder angebrannt war, oder allenfalls sonst etwas ihre Laune versäuerte. Ihre Lebensgeister steigerten sich bei dem Anblicke dieser stattlichen Vorbereitungen, und von der Nichtigkeit guter Werke ging sie mit großem Herzensbehagen zu der Wirklichkeit von Schinken und Röstschnitten über. Ja, unter dem Einfluß dieser heilsamen Reizmittel verwies sie sogar ihrer Tochter nachdrücklich ihre Niedergeschlagenheit und Zaghaftigkeit, die sie als eine ganz und gar unausstehliche Gemüthsstimmung bezeichnete, indem sie dabei, nach einer frischen Platte greifend, bemerkte, es wäre besser, wenn Dolly, die sich über den Verlust eines Spielzeugs und eines Bogen Papiers gräme. Betrachtungen über die freiwilligen Opfer der Missionäre in fremden Ländern anstellte, die hauptsächlich von Salate lebten.

Die Begebnisse eines solchen Tages waren wohl im Stande, verschiedene Schwankungen in dem menschlichen Thermometer hervorzubringen, namentlich bei so empfindlichen und zartgebauten Instrumenten, unter welche Frau Varden gehörte. Genannte Dame stand während des Mittagessens in der gemüthlichsten, lächelndsten und ergötzlichsten Sommerhöhe. Nach dem Essen steigerte sie sich, in dem Sonnenscheine des Weines, wenigstens um ein halb Dutzend Grade und wurde eigentlich bezaubernd. Sobald aber dieser Einfluß entwich, fiel sie rasch und verblieb während der Zeit eines Stündchen Schlafes auf gemäßigt, bis sie nach dieser Zeit etwas unter dem Gefrierpunkte erwachte. Jetzt zeigte sie auf's Neue wieder Sommerhitze im Schatten, und als nach dem Thee der alte John eine Herzstärkungsflasche von einem der eichenen Taubengesimse herunterlangte, sich's durchaus nicht nehmen lassend, daß sie langsam hintereinander ein paar Gläser davon schlürfe, stand sie fünf Viertelstunden beharrlich auf dem neunzigsten Grade. Durch Erfahrung weise, benützte der Schlosser diesen gemüthlichen Witterungsstand, um unter dem Portale seine Pfeife zu rauchen – ein Verfahren, das ihn in den Stand setzte, sobald der Thermometer fiel, zu augenblicklicher Abfahrt bereit zu seyn.

Das Pferd wurde demgemäß eingespannt und die Chaise vor der Thür aufgefahren. Joe, der sich's durchaus nicht nehmen lassen wollte, sie zu begleiten, bis sie den traurigsten und einsamsten Weg zurückgelegt hätten, führte zu gleicher Zeit die graue Mähre heraus, und sprang, nachdem er Dolly auf ihren Sitz geholfen (wieder Glück!) lustig in den Sattel. Dann, nach vielem Gutenachtsagen, den geeigneten Ermahnungen, sich einzuhüllen und auf die Lichter Acht zu haben, dem Herumbieten von Mänteln, Shawlen und dergleichen – rollte der Wagen von hinnen, und Joe trabte neben her – ohne Zweifel auf Dolly's Seite und so nahe, als thunlich, an den Rädern.



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