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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Herr Haredale stand, den Hausschüssel in der Hand, in der Wohnstube der Wittwe und blickte bald auf Herrn Chester, bald auf Gabriel Varden, zuweilen aber auch auf den Schlüssel, als hoffe er, daß dieser aus eigenem Antrieb das Geheimniß aufschließe, bis ihn endlich Herr Chester, der jetzt seinen Hut aufsetzte und die Handschuhe anzog, durch die süßliche Frage, ob sie mit ihm einen Weg gingen, zur Besinnung brachte.

»Nein,« antwortete er. »Unsere Wege sind verschieden – Ihr wißt recht wohl, himmelweit. Vorderhand werde ich hier bleiben.«

»Ihr werdet Hüftweh kriegen, Haredale; es wird Euch schlecht, melancholisch, durchaus miserabel werden,« entgegnete der Andere. »Der Ort paßt am allerwenigsten für einen Mann von Eurem Temperament. Ich weiß, er wird Euch eigentlich krank machen.«

»Sey's drum,« erwiederte Herr Haredale, indem er sich niederließ; »und lebt meinetwegen auf unter diesem Gedanken. Gute Nacht!«

Herr Chester that, als bemerke er die abgebrochene Handbewegung nicht, welche diese Verabschiedung zu einer förmlichen Entlassung umwandelte, und antwortete darauf nur mit einem höflichen, von Herzen gehenden Segenswunsche, worauf er Gabriel fragte, welche Richtung er einschlage.

»Euer Weg, Sir, würde zu viele Ehre für meines Gleichen seyn,« antwortete der Schlosser zögernd.

»Es wäre mir lieb, wenn Ihr noch eine kleine Weile hier bliebet, Varden,« sagte Herr Haredale, ohne aufzusehen. »Ich habe noch ein paar Worte mit Euch zu sprechen.«

»Ich will mich keinen Augenblick in Eueren Verkehr eindringen,« sagte Herr Chester äußerst höflich; »möge er zu beiderseitiger Zufriedenheit ausfallen. Gott befohlen.«

Nach diesen Worten beglückte er den Schlosser mit dem strahlendsten Lächeln und entfernte sich. »Eine klägliche Creatur, dieser widerhaarige Mensch da,« sagte er, als er seines Weges ging; »doch seine Schroffheit trägt seine Strafe in sich selber – er ist ein Bär, der sich selbst beißt. Da sieht man übrigens wieder, welch' einen unschätzbaren Vortheil man davon hat, wenn man seine Neigungen zu beherrschen weiß. Im Laufe dieser zwei kurzen Zusammenkünfte fühlte ich mich wohl fünfzigmal versucht, gegen den Kerl meinen Degen zu ziehen, und unter sechs würden wohl fünf diesem Impulse nachgegeben haben. Aber dadurch, daß ich mich bezähmte, verwundete ich ihn weit tiefer und schmerzlicher, als wäre ich der beste Haudegen in Europa und er der schlechteste. Du bist die allerletzte Zuflucht des weisen Mannes,« fuhr er, an seinen Degenknopf schlagend, fort, »und ich möchte dich nur dann zum Beistand aufrufen, wenn Alles gesagt und gethan ist. Früher nach dir zu greifen und unserem Gegner eine solche Schonung angedeihen zu lassen, wäre eine barbarische Kriegsmanier und eines Mannes durchaus unwürdig, der auch nur die entferntesten Ansprüche auf Zartgefühl oder feine Sitten macht.«

Er lächelte bei dieser Betrachtung so gar vergnüglich, daß ein Bettler sich so weit ermuthigte, ihm eine Strecke weit zu folgen und ihn um ein Almosen anzusprechen. Dieser Umstand freute ihn, weil er ihn als ein Compliment für die Gewalt, die er über seine Züge hatte, betrachtete, weßhalb er dem Mann als Belohnung gestattete, ihm zu folgen, bis er nach einer Sänfte rief. Jetzt erst entließ er ihn gnädigst mit einem warmen Segen.

»Es ist jedenfalls so leicht, als Fluchen,« fügte er wohlweise bei, während er seinen Sitz einnahm, »und läßt dem Gesichte auch besser. – Nach Clerkenwell, meine guten Leute, wenn ich bitten darf.«

Das Vergnügen, eine so höfliche Bürde tragen zu dürfen, stimmte die Sänftenmänner ganz lebhaft, und so ging es in einem schönen Trabe Clerkenwell zu.

Er stieg an einer gewissen Stelle, die er ihnen unterwegs angedeutet hatte, aus, und nachdem er ihnen etwas weniger bezahlt, als sie von einer so höflichen Sprache erwartet hatten, lenkte er in die Straße ein, wo der Schlosser wohnte, bald unter dem Schatten des goldenen Schlüssels anlangend. Herr Tappertit, der in einer Ecke der Werkstatt beim Scheine der Lampe eifrig beschäftigt war, bemerkte den Eintretenden nicht, bis sich eine Hand auf seine Schulter legte, worüber er auffuhr und den Kopf umwandte.

»Fleiß ist die Seele des Geschäftlebens,« sagte Herr Chester, »und der Grundstein des Wohlstandes. Herr Tappertit, ich hoffe, Ihr werdet mich zu Eurem Mahle einladen, wenn Ihr Lordmayor von London seyd.«

»Sir,« entgegnete der Lehrling, indem er den Hammer niederlegte und mit dem Rücken einer sehr rußigen Hand seine Nase rieb, »ich verachte den Lordmayor und Alles, was mit ihm zusammenhängt. Wir müssen zuvor einen ganz andern Stand der Gesellschaft haben, Sir, ehe ich mich darauf ertappen lasse, ein Lordmayor zu werden. Wie befindet Ihr Euch, Sir?«

»Um so besser. Herr Tappertit, weil ich wieder einmal in Euer geistreiches Antlitz sehen kann. Ich hoffe, Ihr seyd wohl?«

»So wohl, Sir,« entgegnete Sim, indem er aufstand, um dem Ohre des Anderen näher zu kommen, welches er mit einem heiseren Flüstern beehrte, »als es unter den ärmlichen Verhältnissen, denen ich ausgesetzt bin, möglich ist. Das Leben ist mir eine Last. Wäre es nicht um der Rache willen, so setzte ich es meinetwegen auf einen Wurf, Kopf oder Wappen.«

»Ist Frau Varden zu Hause?« fragte Herr Chester.

»Sir,« entgegnete Sim, indem er ihn mit dem concentrirtesten Ausdrucke beäugelte, »sie ist zu Hause; wünscht Ihr sie zu besuchen?«

Herr Chester nickte.

»Dann kommt hieher,« sagte Sim, indem er sein Gesicht mit der Schürze abwischte. »Folgt mir, Sir. Würdet Ihr mir wohl gestatten, Euch Etwas in's Ohr zu flüstern – nur eine halbe Sekunde?«

»Zuverlässig.«

Herr Tappertit stellte sich auf die Zehen, brachte seine Lippen an Herrn Chesters Ohr, trat, ohne zu sprechen, wieder zurück, sah ihn scharf an, näherte sich abermals seinem Ohre, wich auf's Neue zurück und flüsterte endlich:

»Der Name ist Joseph Willet. Bst! Ich sage nicht weiter.«

Dann winkte er dem Besuche mit geheimnißvoller Miene, ihm nach dem Wohnzimmer zu folgen, wo er ihn mit der Stimme eines Ceremonienmeisters anmeldete.

»Herr Chester!«

»Aber wohlbemerkt, nicht Edward,« fügte Sim bei, indem er wieder zur Thüre hineinsah und das Letztere in der Weise eines Postscripts an seine eigene Person beifügte, »sondern sein Vater.«

»Bitte,« sprach Herr Chester, der mit dem Hut in der Hand näher trat, als er bemerkte, welche Wirkung diese letzte erklärende Anmeldung hervorbrachte,« der Besuch des Vaters soll Euren häuslichen Beschäftigungen keinen Zwang anthun, oder eine Störung veranlassen, Miß Varden.«

»Ah! Da haben wir's! Ist es nicht, wie ich immer sage?« rief Miggs, ihre Hände zusammenschlagend. »Hat er da nicht die Frau für ihre Tochter genommen? Nun, sie sieht aber auch ganz danach aus. Denkt nur, Madame!«

»Wäre es möglich,« sagte Herr Chester in seinem weichsten Tone,« daß dieß Frau Varden ist? Ich bin ganz erstaunt. Und das wäre Eure Tochter, Frau Varden? Nein, nein, Eure Schwester.«

»Es ist in der That meine Tochter, Sir,« versetzte Frau Varden, in großer Jungfräulichkeit erröthend.

»Ah, Frau Varden!« rief der Besuch. »Ah, Ma'am – das Leben ist doch in der That ein glückliches Loos, wenn wir uns selbst in Andern wiederholen und doch so jung bleiben können, wie Sie. Ihr müßt mir den gewöhnlichen Gruß erlauben, meine theure Ma'am – und auch Eure Tochter.«

Dolly zeigte einigen Widerwillen, diese Ceremonie an sich vollziehen zu lassen, wurde aber von Frau Varden scharf darüber getadelt, welche darauf bestand, daß sie sich augenblicklich darein ergebe, »denn Stolz,« sagte sie mit großer Strenge, »sey eine von den sieben Todsünden, während Demuth und Selbsterniedrigung gar schöne Tugenden wären.« Sie verlangte daher, daß Dolly sich bei Strafe ihres gerechten Mißfallens auf der Stelle küssen lasse, indem sie ihr zugleich zu verstehen gab, was sie ihre Mutter thun sehe, dürfe sie ihr ohne alles Bedenken nachmachen, sintemal vieles Grübeln und Vernünfteln anstößig, pflichtwidrig und schnurstracks gegen den Kirchenkatechismus sey.

Solchen Ermahnungen konnte Dolly nicht widerstehen, obgleich sie sich keineswegs gerne darein fügte, denn es lag ein offener, kecker Zug von Bewunderung in Herrn Chesters Gesicht, der ihr, trotz der gekünstelten Feinheit und Höflichkeit, sehr widerwärtig war. Während sie mit niedergeschlagenen Augen dastand, um seine Blicke zu vermeiden, betrachtete er sie mit beifälliger Miene und wandte sich dann an ihre Mutter.«

»Mein Freund Gabriel, dessen Bekanntschaft ich erst diesen Abend gemacht habe, muß wohl ein glücklicher Mann seyn, Frau Varden!«

»Ach!« seufzte Frau Varden mit einem Kopfschütteln.

»Ach!« echoete Miggs.

»Steht es so?« sprach Chester mitleidig. »Du mein Himmel!«

»Der Meister hat keine andere Absichten, Sir,« murmelte Miggs, indem sie sich an seine Seite heranschlich, »als für Alles, was er besitzt, und was ihn seine Fähigkeiten würdigen lassen, so dankbar zu seyn, wie es ihm seine Natur gestattet. Aber wir wissen nie, Sir –« fuhr Miggs mit einem Seitenblick auf Frau Varden fort, indem sie ihrer Rede einen Seufzer einflocht – »wir wissen nie den Werth mancher Weine und Feigenbäume voll zu schätzen, als bis wir sie verlieren. Um so schlimmer ist es aber für Diejenigen, Sir, welchen eine solche Geringschätzung auf das Gewissen fällt, wenn die Gaben einmal fort sind, um anderswo voll aufzublühen.«

Und Miggs schlug ihre Augen auf, um damit anzudeuten, wo dieß wohl seyn möchte.

Da Frau Varden die Worte ihrer Jungfer deutlich hörte und auch hören sollte, und da dieselben ferner eine metaphorische Prophezeihung oder Vorahnung zu umfassen schienen, daß genannte Dame in Bälde ihren Prüfungen erliegen müßte und einen leichten Flug nach den Sternen nehmen würde, so begann sie alsbald zu schmachten; sie nahm daher einen Band der Hausandacht von dem nahestehenden Tische und stützte ihren Arm darauf, als wäre sie die figurirte Hoffnung und das Gebetbuch ihr Anker. Als Herr Chester dieß bemerkte und den Titel des Buches auf dem Rücken las, nahm er es ihr sanft aus der Hand und blätterte, darin.

»Mein Lieblingsbuch, theure Ma'am. Wie gar oft habe ich nicht aus diesen Blättern für meinen lieben Sohn Ned, als er noch jung war – er wird sich kaum mehr erinnern können –« (diese Clausel war unstreitig sehr richtig) – »kleine leichtfaßliche Sprüche ausgezogen! Ihr kennt meinen Ned?«

Frau Varden hatte die Ehre. Er sey ein recht hübscher, gesprächiger, junger Gentleman, sagte sie.

»Ihr seyd Mutter, Frau Varden,« entgegnete Herr Chester, indem er eine Prise nahm, »und wißt daher, was ich als Vater fühlen muß, wenn man gut von ihm spricht. Er macht mir zwar Sorgen – viele Sorgen – er ist ein unsteter Charakter, Ma'am – von Blume zu Blume – von einer Süßigkeit zur andern – aber er ist in der Schmetterlingszeit des Lebens, und so dürfen wir derartige Kleinigkeiten nicht allzuhart beurtheilen.«

Er blickte dabei auf Dolly. Sie achtete augenscheinlich auf jedes seiner Worte. Ganz wie er es wünschte.

»Das Einzige, was ich dabei Ned vorzuwerfen habe, besteht darin,« fuhr Herr Chester fort, »und da ich eben von ihm rede, so fällt mir nebenzu bei, daß ich auf eine Minute um die Gunst eines Gespräches unter vier Augen bitten muß, – das Einzige, was ich ihm vorzuwerfen habe, besteht darin, daß er nicht recht ehrlich ist. Freilich möchte mich gerne meine Liebe zu Ned gegen diese Thatsache verblenden; dabei muß ich aber immer auf den Satz zurückkommen – ohne Aufrichtigkeit sind wir nichts – auf der ganzen Welt gar nicht. Wir wollen daher aufrichtig seyn, meine theure Ma'am –«

»– Und gute Protestanten,« murmelte Frau Varden.

»– und gute Protestanten vor Allem. Wir wollen aufrichtig und gut protestantisch seyn, streng moralisch, streng gerecht (obgleich immer mit einer Hinneigung zur Barmherzigkeit), streng ehrlich und streng wahr; dieß ist lauter Gewinn – und wenn sich's auch um das Unbedeutendste handelte, denn in solchen Punkten ist das Gewissen äußerst subtil. Wir legen dadurch gewissermaßen die Grundmauern der Tugend, auf welchen wir später ein schönes Gebäude aufführen können.«

Nun mußte Frau Varden natürlich denken, sie habe es hier mit einem ganz vollkommenen Charakter zu thun. Da war einmal ein demüthiger, rechtschaffener, auf den Grund gehender Christ, der, sich alle diese so schwer zu erlangenden Eigenschaften aneignet, der allen Cardinaltugenden eine Prise Salz auf den Schwanz gestreut, und so eine nach der andern gefangen hatte. Und dabei that er sich so gar nichts auf ihren Besitz zu gut und strebte immer noch nach höherer Moralität. Die gute Frau zweifelte nämlich keinen Augenblick (und wie viele gute Frauen und Männer sind in derselben Lage), daß ein derartiges, selbsterniedrigendes Bekenntniß, ein solches Geringschätzen großer Dinge, welches zu sagen schien, »ich bin nicht stolz, sondern ganz, wie du mich sprechen hörst, und halte mich selbst nicht für besser, als andere Leute, weßhalb wir uns nicht dabei aufhalten wollen« – vollkommen aufrichtig und wahr gemeint sein müsse. Er wußte es so zu lenken und sprach sich in einer Weise aus, als wäre ihm sein Zugeständniß abgenöthigt worden, und der Erfolg davon war eigentlich wunderbar.

Des Eindrucks, den er gemacht hatte, gewahrend – und wenige Menschen hatten ein rascheres Auge für solche Entdeckungen – verfolgte Herr Chester seinen Vortheil durch Entfaltung gewisser Tugendmaximen, die ohne Zweifel etwas weit her geholt und allgemein waren, hin und wieder auch den Charakter an den Ellenbogen ein wenig abgenützter Wahrheiten trugen; aber er brachte dieselbe mit einer so hinreißenden Stimme und mit einer so ungewöhnlichen Herzensheiterkeit und Seelenruhe vor, daß sie ihren Zweck vollkommen erreichten. Man darf sich darüber nicht im geringsten wundern, denn wie hohle Gefäße in ihrem Falle einen weit musikalischeren Ton hervorbringen, als gediegene, so wird man auch oft finden, daß inhaltsleere Floskeln am meisten Lärm in der Welt machen und am ehesten dem Geschmacke des Publikums zusagen.

Herr Chester erhob in der einen Hand zierlich das Buch, während er die andere leicht auf die Brust drückte, und sprach in der möglichst hinreißenden Weise, so daß alle seine Zuhörer, trotz ihrer verschiedenen Interessen und Gedanken, eigentlich hingerissen wurden. Selbst Dolly, welche ob seinen scharfen Blicken und dem Beäugeln des Herrn Tappertit ganz außer Fassung kam, konnte nicht umhin, in ihrem Innern zuzugestehen, daß Herr Chester der angenehmste Sprecher sey, der ihr je vorgekommen. Auch Miß Miggs hatte, obgleich ihre Aufmerksamkeit zwischen Bewunderung vor Herrn Chester und einer sterblichen Eifersucht gegen ihre junge Gebieterin getheilt war, noch hinreichend Muße, in eine mildere Stimmung überzugehen. Und sogar Herr Tappertit konnte, trotz dem, daß er, wie wir gesehen haben, ohne Unterlaß die Wonne seines Herzens anstierte, seine Gedanken nicht ganz von der Stimme des anderen Zauberers abkehren. Frau Varden sagte sich im Innern ihres Herzens, daß sie sich in ihrem ganzen Leben nie so erbaut habe; und als Herr Chester aufstand, um ein Gespräch unter vier Augen bat, sie bei der Hand nahm und in armslanger Entfernung sie nach dem besten Besuchszimmer hinaufführte – da dünkte es ihr fast, er sey etwas mehr, als ein menschliches Wesen.

»Theure Ma'am,« sagte er, indem er ihre Hand zart an seine Lippen drückte; »nehmt doch Platz.«

Frau Varden dankte mit dem höflichsten Knixe und ließ sich nieder.

»Ihr errathet wohl, was ich zu sagen habe?« fuhr Herr Chester fort, indem er einen Stuhl an ihre Seite rückte. »Ihr ahnet meine Absicht? Ich bin ein zärtlicher Vater, meine liebe Frau Varden.«

»Davon bin ich vollkommen überzeugt,« versetzte Frau Varden.

»Ich danke Euch,« entgegnete Herr Chester und trommelte auf seinem Dosendeckel. »Aeltern haben eine schwere moralische Verantwortlichkeit, Frau Varden.«

Frau Varden erhob ihre Hände ein wenig, schüttelte ihren Kopf und blickte nach dem Boden, als schaue sie geraden Wegs durch den ganzen Erdball und an dem andern Ende weit hinaus in den jenseitigen unermeßlichen Raum.

»Euch kann ich mich ohne Rückhalt anvertrauen,« sagte Herr Chester. »Ich liebe meinen Sohn innig, Ma'am, und weil ich ihn liebe, möchte ich ihn verhindern, Unheil zu stiften. Ihr kennt seine Beziehung zu Miß Haredale und habt ihm dabei Vorschub geleistet, was jedenfalls sehr freundlich von Euch war. Ich bin Euch sehr verbunden – ungemein verbunden für die Theilnahme, welche Ihr ihm erweist; aber ich versichere Euch, meine theure Ma'am, sie war am unrechten Orte angebracht.«

Frau Varden stammelte, daß es ihr Leid thue.

»Leid, meine theure Ma'am?« fiel er ihr in's Wort. »Warum leid um Etwas, was so gar freundlich und in der besten Absicht gemeint, ja, so ganz Eurer würdig war? Aber es gibt ernste und gewichtige Gründe, dringende Familienrücksichten, und außerdem noch religiöse Meinungsverschiedenheiten, welche als Hemmsteine im Wege liegen und eine Verbindung unmöglich machen – durchaus unmöglich. Ich würde dieser Umstände gegen Euren Gatten erwähnt haben, aber er besitzt – entschuldigt, daß ich so frei herausspreche – er besitzt weder Eure rasche Auffassungsgabe, noch Euren tiefen, moralischen Sinn. – Welch ein ungemein helles Haus dieß ist, und wie schön gehalten! Für einen Mann wie ich – einen vieljährigen Wittwer – haben diese Merkmale einer sorgfältigen, leitenden Frauenhand einen unaussprechlichen Zauber.«

Frau Varden fing unwillkürlich an zu glauben, der junge Herr Chester habe Unrecht, und der alte Herr müsse nothwendig Recht haben.

»Mein Sohn Ned,« nahm der Versucher in seiner gewinnendsten Weise wieder auf, »hat, wie ich höre, durch Eure liebenswürdige Tochter und Euren offenherzigen Gatten Vorschub erhalten.«

»Weit mehr als von mir, Sir,« versetzte Frau Varden; »bei weitem mehr. Ich habe oft mein Bedenken darüber gehabt. Es ist –«

»Ein schlimmes Beispiel,« ergänzte Herr Chester. »Ja. Kein Zweifel. Eure Tochter steht in einem Alter, wo man besonders unüberlegt handelt, wenn man vor ihren Augen junge Leute ermuthigt, in diesem höchst wichtigen Punkte gegen die Aeltern zu rebelliren. Ihr habt ganz Recht. Ich hätte selbst daran denken sollen, aber ich gestehe, es entging mir; – so weit ist Euer Geschlecht im Punkte des Scharfsinns und des durchdringenden Blicks über das unsrige erhaben, meine theure Ma'am.«

Frau Varden sah so weise darein, als ob sie wirklich etwas gesagt hätte, um dieses Compliment zu verdienen – kurz, sie glaubte fest, daß dieß wirklich der Fall sey – und ihr Vertrauen zu ihrer eigenen Schlauheit gewann einen beträchtlichen Zuwachs.

»Meine theure Ma'am,« fuhr Herr Chester fort. »Ihr ermuthigt mich, daß ich mich frei gegen Euch ausspreche. Mein Sohn hat in diesem Punkte ganz andere Ansichten, als ich, und ein Gleiches ist auch bei der jungen Dame und ihrem natürlichen Beschützer der Fall. Und doch läuft Alles darauf hinaus, daß mein Sohn durch sein Pflichtgefühl gegen mich, durch seine Ehre, und überhaupt durch jedes feierliche und heilige Band gehalten ist, eine Andere zu heirathen.«

»Schon mit einer andern Dame versprochen?« rief Frau Varden, ihre Hände erhebend.

»Meine theure Ma'am, aufgewachsen, erzogen und gebildet ausdrücklich für diesen Zweck – ausdrücklich für diesen Zweck. – Miß Haredale soll ein sehr bezauberndes Wesen seyn?«

»Ich bin ihre Pflegemutter und muß sie daher wohl kennen – die beste junge Dame von der Welt,« sagte Frau Varden.

»Ich zweifle nicht im Mindesten daran. Ja, ich bin überzeugt, daß es so ist. Und Ihr, die Ihr in dieser zarten Beziehung zu ihr steht, seyd verpflichtet, ihr Glück in's Auge zu fassen. Kann ich nun – wie ich auch zu Haredale gesagt habe, der ganz meiner Ansicht ist – kann ich nun möglicherweise zusehen und dulden, daß sie sich, obgleich sie einer katholischen Kirche angehört, an einen jungen Menschen wegwirft, der zur Zeit noch nicht das mindeste Herz hat? Ich will ihm damit keinen besondern Vorwurf machen! denn man trifft selten ein Herz bei jungen Menschen, die sich tief in den Leichtsinn und in das conventionelle Treiben der Gesellschaft gestürzt haben. Ihre Herzen wachsen eigentlich erst nach dem dreißigsten Jahre, meine theure Ma'am. Ich glaube nicht – nein, ich glaube wirklich nicht, daß ich selbst eines hatte, als ich in Ned's Alter war.«

»O, Sir,« sagte Frau Varden, »ich denke, Ihr müßt eines gehabt haben. Nicht möglich, daß ein Mann, der jetzt so viel hat, je ganz ohne Herz gewesen wäre.«

»Ich hoffe,« antwortete er mit einem bescheidenen Achselzucken, »daß ich ein wenig habe; ich hoffe, ein ganz klein wenig, der Himmel weiß es! Um jedoch auf Ned zurückzukommen – ohne Zweifel habt Ihr wohl gedacht und Euch deßhalb so wohlwollend für ihn interessirt, daß ich gegen Miß Haredale etwas einzuwenden hätte. Ich finde das ganz begreiflich. Aber nicht gegen sie, meine theure Ma'am, sondern gegen ihn habe ich Einwendungen zu machen – recht viele Einwendungen gegen Ned.«

Frau Varden war eigentlich entsetzt über diese Mittheilung.

»Wenn er die feierliche Verpflichtung, von der ich Euch gesagt habe, ehrenhaft erfüllt – und er muß sich ehrenhaft benehmen, meine theure Frau Varden, oder er ist nicht mein Sohn – so steht ihm ein Vermögen in Aussicht. Er hat sehr kostspielige, zum Ruiniren kostspielige Liebhabereien, und wenn er in einem Augenblick der Laune und des Eigensinnes diese junge Dame heirathen würde, wodurch er sich natürlich der Mittel beraubte, seinen alten Gewohnheiten nachzuhängen, so müßte – meine theure Ma'am, ja, es müßte dem zarten Wesen das Herz brechen. Meine gute Frau Varden, redliche Seele, ich gebe es Eurem Urtheil anheim – kann man ein solches Opfer gestatten? Darf man mit einem weiblichen Herzen also sein Spiel treiben? Fragt Euer eigenes – ich bitte, fragt Euer eigenes.«

»In der That, dieser Gentleman ist ein Heiliger,« dachte Frau Varden. »Aber,« fügte sie laut und mit einer sehr natürlichen Regung bei, »wenn Ihr Miß Emma den Geliebten nehmt, Sir, was soll dann aus dem Herzen des armen Kindes werden?«

»Das ist eben der Punkt,« entgegnete Herr Chester, nicht im Mindesten betroffen, »worauf ich Euch zu führen wünschte. Eine Heirath mit meinem Sohne, den ich in diesem Falle verstoßen müßte, hätte nur Jahre voll Elend zur Folge, und in zwölf Monaten würden sie wieder getrennt seyn, theure Ma'am. Eine Lösung dieses Verhältnisses, welches, wie wir Beide recht wohl wissen, mehr ein eingebildetes, als ein wirkliches ist, wird dem lieben Mädchen ein paar Thränen kosten, und sie ist wieder glücklich. Machen wir eine Anwendung des Falls auf Eure eigene Tochter – die junge Dame drunten, die Euer leibhaftiges Ebenbild ist.« – Frau Varden hustete und zimperte, – »Da ist ein junger Mensch (ich bedaure, es sagen zu müssen, ein ausschweifender Bursche von sehr zweideutigem Charakter) über den ich Ned habe sprechen hören – ich glaube, Bullet heißt er – Bullet – Mullet –"

»Es gibt einen jungen Menschen, Namens Joseph Willet, Sir,« sagte Frau Varden, voll hohen Geistes ihre Hände faltend.

»Ja, ganz richtig,« rief Herr Chester. »Angenommen, dieser Joseph Willet trachtete nun nach der Liebe Eurer bezaubernden Tochter und träte mit ihr in ein Verhältniß.«

»Es sähe seiner Unverschämtheit gleich,« unterbrach ihn Frau Varden, sich in die Brust werfend, »sich eines solchen Gedankens zu erfrechen!«

»Meine theure Ma'am, da haben wir ganz denselben Fall. Ich weiß, er wäre im Stande, seine Unverschämtheit so weit zu treiben. Auch Ned war unverschämt genug, zu thun, wie er gethan hat; aber um deßwillen, oder wegen einiger Thränen aus den Augen Eurer schönen Tochter würdet Ihr doch nicht anstehen, die aufkeimende Neigung in ihrer Geburt zu ersticken. Ich gedachte, diese Gründe Eurem Gatten vorzulegen, als ich ihn diesen Abend bei Frau Rudge sah.«

»Mein Mann würde viel besser thun,« fiel ihm Frau Varden aufgeregt in's Wort, »wenn er zu Hause bliebe, als daß er so oft zu Frau Rudge hinläuft. Ich weiß nicht, was er dort zu schaffen hat, und sehe keinen Grund ein, warum er sich überhaupt mit ihren Angelegenheiten befassen mag, Sir.«

»Wenn ich mit Euren Ansichten nicht so ganz übereinzustimmen scheine,« erwiederte Herr Chester, »als Ihr wünschen möchtet, meine theure Ma'am, so liegt der Grund einzig darin, daß ich ihn dort traf und sehr unzugänglich fand, weßhalb ich hierher kam und mir das Glück einer Unterredung mit einer Frau verschaffte, in der sich, wie ich bemerke, die ganze Leitung, das Gedeihen und der Wohlstand ihrer Familie vereinigt.«

Mit diesen Worten ergriff er abermals Frau Vardens Hand, und nachdem er sie mit der ganzen preziösen Galanterie jener Tage an die Lippen gedrückt hatte – sogar mit ein Bischen Uebertreibung, um sie für das Auge der nicht daran gewöhnten Dame noch bestechender zu machen – fuhr er in demselben Tone der Sophistik und Schmeichelei fort, sie zu bitten, daß sie ihrem äußersten Einflusse aufbieten möchte, eine weitere Begünstigung von Edwards Bewerbung um Miß Haredale durch ihren Gatten und ihre Tochter zu hemmen und zu vermeiden, daß dem Liebespärchen in irgend einer Weise Beihülfe oder Vorschub geleistet werde. Frau Varden war nur ein Weib und hatte daher ihren guten Antheil von Eitelkeit, Eigensinn und Herrschsucht. Sie ging daher mit ihrem gewinnenden Gaste ein geheimes Schutz- und Trutzbündniß ein und glaubte dabei wirklich (wie es vielen Anderen, die ihn gesehen und gehört hatten, gleichfalls ergangen wäre), daß sie durch diese Allianz die Sache der Wahrheit, Sittlichkeit und Gerechtigkeit in ungemein hohem Grade fördere.

Hoch erfreut über den glücklichen Erfolg seines Geschäftes und in seinem Innern gewaltig amüsirt, führte sie Herr Chester in der früheren preziösen Weise die Treppe hinunter. Sofort wiederholte er die frühere Begrüßungsceremonie, in welche er Dolly gleichfalls wieder mit einschloß und verabschiedete sich, nachdem er zuvor auch Miß Migg's Herz vollständig durch die Frage erobert hatte, ob wohl diese »junge Dame« so gefällig seyn möchte, ihm nach der Thüre hinunterzuleuchten.

»O, Madame,« sagte Miggs, als sie mit dem Lichte zurückkehrte. »O, barmherziger Himmel, Madame, das ist einmal ein Gentleman! Hat es einen gegeben, der so ganz wie ein Engel redete, als er – und dabei ist er ein so süß aussehender Mann! So aufrecht und edel, daß er sogar den Boden, auf dem er geht, zu verachten scheint, und doch so mild, und herablassend, als wollte er sagen: ›auch von dem Boden will ich Notiz nehmen.‹ Wenn ich nur daran denke, daß er Euch für Miß Dolly, und Miß Dolly für Eure Schwester hielt. O du meine Güte, wenn ich der Meister wäre, würde ich eifersüchtig auf ihn seyn!«

Frau Varden verwies ihrem Kammermädchen dieses eitle Gerede – aber nur ganz sanft und mild, sogar lächelnd, indem sie bemerkt, sie sey ein thörichtes, schwindelköpfiges leichtsinniges Mädchen und ihr Geist führe sie über alle Schranken hinaus; sie meine aber nicht halb, was sie sage, sonst müßte man ihr ihm Ernste böse werden.

»Ich für meinen Theil,« sagte Dolly gedankenvoll, »glaube fest, daß Herr Chester in dieser Hinsicht viel Aehnlichkeit mit Miggs hat. Trotz seiner Höflichkeit und seiner glatten Zunge bin ich überzeugt, daß er sich mehr als einmal über uns lustig machte.«

»Wenn du dich noch einmal erdreistest, etwas Solches zu sagen und in meiner Gegenwart von den Leuten hinterrücks übel zu sprechen, Jungfer,« sagte Frau Varden, »so werde ich darauf bestehen, daß du dein Licht nimmst und augenblicklich zu Bette gehst. Wie kannst du dich unterstehen, Dolly? Ich bin ganz erstaunt über dich. Du hast dich diesen ganzen Abend höchst roh und anstößig benommen. Hat man je gehört,« rief die entrüstete Matrone, in Thränen ausbrechend, »daß eine Tochter ihrer Mutter sagte, man habe sich lustig über sie gemacht!«

Wie gar wetterwendisch war Frau Vardens Charakter.



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