Sagen aus Mecklenburg-Vorpommern
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Die Stadt Wineta

An der nordöstlichen Küste der Insel Usedom hat vor mehr als tausend Jahren eine große Stadt gestanden, Wineta genannt, mit einem großen Hafen. Diese Stadt ist aber umfangreicher gewesen, denn irgendeine andere in Europa. Bewohnt haben sie Griechen, Slawen, Wenden und andere Völker. Auch die Sachsen haben darin wohnen dürfen, doch das Christentum zu bekennen war ihnen nicht erlaubt, denn alle Bürger sind Heiden geblieben bis zur endlichen Zerstörung und dem Untergang der Stadt. Trotzdem sind aber die Einwohner in Zucht, Sitte und Herberge bescheiden und so fromm gewesen, als irgendeine andere Nation. Die Stadt ist aber stets voll gewesen von jeglicherlei Waren und hat alles gehabt, was nur seltsam, angenehm und nötig gewesen ist. Wann die Stadt untergegangen ist, weiß man nicht. Die Bewohner dieser Stadt waren aber durch ihren Handel so wohlhabend geworden, daß ihre Stadttore aus Erz und Glockengut, die Glocken aber aus Silber gemacht waren, und das Silber war überhaupt so gemein in der Stadt, daß man es zu den gewöhnlichsten Dingen gebrauchte und die Kinder auf den Straßen mit den harten Talern spielten. Allein durch diesen Reichtum und Luxus verschlimmerten sich auch die Sitten der Bürger, sie fingen an unter sich uneinig zu werden, weil jedes der hier wohnenden Völker den Vorzug vor dem andern haben wollte. Daher sollen die einen die Schweden, die andern die Dänen zu Hilfe gerufen haben und jene natürlich bereitwillig gekommen sein, nicht um ihnen zu helfen, sondern um die reiche Stadt zu zerstören und gute Beute zu machen. Dies soll zu den Zeiten Karls des Großen geschehen sein. Nach einer anderen Sage aber hätten nicht äußere Feinde, sondern die strafende Hand Gottes die üppige Stadt zerstört, sie wäre vom Meere verschlungen worden. Darauf seien die Schweden mit Schiffen aus Gotland gekommen, hätten aus dem Meere eine große Masse von Silber, Gold, Erz und andern Kostbarkeiten herausgefischt und wären dann mit den erzenen Stadttoren, die sie ganz wiedergefunden, nach Wisby auf Gotland geschifft, wohin sich denn auch der Handel Winetas gezogen habe.

Man erzählt nun aber jetzt noch wunderliche Dinge über das, was man bei stillem Wetter auf dem Meeresgrunde, wo die Stadt versunken ist, heute noch sehen kann. Man sieht dann unten auf dem Grunde des Wassers oft ganz seltsame Bilder; große, wunderliche Gestalten wandeln dort unten in weiten faltigen Kleidern durch die Straßen, oft sitzen sie auch auf großen schwarzen Pferden oder in goldenen Wagen. Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig einher, manchmal bewegen sie sich auch in langsamen Trauerzügen, und man sieht, wie sie einen Sarg zum Grabe begleiten. Die silbernen Glocken der Stadt kann man noch jeden Abend, wenn kein Sturm auf der See ist, hören, wie sie tief unten zur Vesper läuten. Am Ostermorgen, denn vom stillen Freitag bis zum Ostermorgen soll der Untergang von Wineta gedauert haben, kann man die ganze Stadt sehen, wie sie früher gewesen ist. Sie steigt dann als ein warnendes Schreckenbild zur Strafe für ihre Abgötterei und Üppigkeit, mit allen ihren Häusern, Kirchen, Toren, Brücken und Trümmern aus dem Wasser herauf und man sieht sie deutlich über den Wellen. Man sagt dann, sie wafele. Wenn es aber Nacht oder stürmisches Wetter ist, dann darf kein Mensch und kein Schiff sich den Trümmern der alten Stadt nahen. Ohne Gnade wird das Schiff an die Felsen geworfen, an denen es rettungslos zerschellt, und keiner, der darin gewesen, kann aus den Wellen sein Leben retten.

Von dem in der Nähe gelegenen Dorfe Leddin führt noch jetzt ein alter Weg zu den Trümmern, den die Leute in Leddin von alten Zeiten her den Landweg nach Wineta nennen.

 


 


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