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Sechstes Kapitel.

Zwei Tage darauf, am selben Morgen, als der alte Fouan beerdigt werden sollte, erwachte Hans nach einer Nacht schweren Schlummers ziemlich spät in dem kleinen Kämmerchen, das er bei Lengaigne innehatte. Er war noch nicht nach Chateaudun gegangen, um den Prozeß einzuleiten, der allein ihn noch in Rognes festhielt. Jeden Abend hatte er die Sache auf den nächsten Tag verschoben; mehr und mehr zögerte er, je lauter sein Zorn ward. Noch in dieser Nacht war er in langen, schlaflosen Stunden mit sich zu Rate gegangen, was er tun solle.

Die Buteau! dieses Mordgesindel, das für das Schafott zu schlecht war! Als er den Tod des Alten erfahren, war ihm kein Zweifel geblieben, daß sie ihn ermordet; um zu verhindern, daß er sie angeben könne, hatten sie ihn lebendig verbrannt, die Sache unterlag keinem Zweifel. Der Mord Franziskas hatte den Vatermord nach sich gezogen. Wen werden sie jetzt umbringen? Es war ihm klar, daß sie jetzt daran denken mochten, sich auch seiner zu entledigen; sie wußten, daß er ihr Geheimnis kannte. Sicher würden sie ihm eines Tages irgendwo auflauern und ihn niederschießen, wenn er im Lande bleibe. Warum also sie nicht sofort anzeigen? Er entschloß sich, es ohne Verzug zu tun. Doch im nächsten Augenblick zauderte er schon wieder. Der Gedanke, in solch einem großen Gerichtssaal als Zeuge auftreten zu müssen, erschreckte ihn, er fürchtete allerhand Scherereien und Unannehmlichkeiten. Warum sich noch neue Sorgen aufladen? Gewiß war es nicht sehr tapfer gehandelt, wenn er schwieg; doch er beschwichtigte diesen Einwand durch die Erwägung, daß er durch sein Schweigen den letzten Willen Franziskas erfülle. Zwanzigmal in dieser Nacht wollte er handeln und wollte wieder nicht.

Als er um neun Uhr sein Lager verlassen, wusch er sich das Haupt in kaltem Wasser, und plötzlich war sein Entschluß gefaßt: Er wollte schweigen, nicht einmal einen Prozeß anstrengen, um die Hälfte der Möbel zu bekommen. Es lohnte nicht die Mühe. Etwas wie Stolz überkam ihn, er war froh, mit diesen Leuten nichts gemein zu haben, ein Fremder zu sein. Was gingen ihn diese Elenden an? Mochten sie sich alle untereinander umbringen, um so besser. Das Leid dieser zehn Jahre, die er in Rognes zugebracht, wühlte in seiner Brust, Ekel und Zorn erfaßten ihn. Wie frohen Mutes hatte er nach dem italienischen Kriege das Militär verlassen, wie glücklich hatte ihn das Bewußtsein gemacht, daß er keinen Säbel mehr tragen, kein Menschenschlächter mehr sein brauchte. Und von jenem Tage an erlebte er die unsaubersten Dinge und weilte unter einer Rotte Wilder. Seit seiner Hochzeit hatte ihm das Herz geblutet bei all dem Hader, all dem gehässigen Treiben; und jetzt raubten und mordeten sie gar! War es nicht, als bewohne eine Schar von Wölfen diese weite, stille Ebene? Nein, nein, er hatte es satt; dieses Volk reißender Tiere verleidete ihm das Land. Warum sollte er ein Paar von ihnen, diese Frau und diesen Mann, der Gerechtigkeit überliefern, wo doch die ganze Bande hätte ausgerottet werden müssen? Lieber wollte er fortziehen.

In diesem Augenblick fiel ihm eine Zeitung in die Augen, die er am vergangenen Abend aus dem Schankzimmer heraufgebracht. Ihn hatte ein Artikel über den bevorstehenden Krieg interessiert, diese Kriegsgerüchte, die seit einigen Tagen im Umlauf waren. Das, was unbewußt in ihm geschlummert, was diese Zeitungsberichte aufgerührt, ohne daß er es geahnt, diese nur halb in seiner Brust erlöschten Flammen brachen jetzt plötzlich hell hervor. Sein letztes Zaudern, ob er gehen solle oder nicht, da er doch nicht wisse wohin: es ward weggeweht wie von einem Winde. Er wollte sich schlagen, wieder Soldat werden! Zwar hatte er seiner Dienstpflicht genügt; doch wenn man kein Handwerk mehr hat, kein Brot, wenn das Leben einen nicht mehr freut, ist es da nicht das Beste, gegen den Feind hinauszuziehen, der das Land bedroht? Ihm ward leicht und frei. Er kleidete sich an, indem er laut das Feldsignal pfiff, das ihn in Italien in den Kampf geführt. Die Menschen waren zu erbärmlich; die Hoffnung dreinzuschlagen, Preußen zu töten, tat ihm wohl. Er hatte keinen Frieden gefunden in diesem Erdenwinkel, wo die Familien einander auf Tod und Leben befehdeten; drum war es besser, wieder ins Kampfgewühl des Krieges zurückzukehren. Je mehr Feinde er tötete, je mehr die Erde sich rötete, desto besser würde er sich gerächt haben für dies erbärmliche Leben voll Schmerz und Elend, das ihm die Menschen bereitet.

Hans ging in die Schenke hinab und ließ sich von Flora zwei Eier und ein Stück Speck auftragen; nachdem er dies Frühstück verzehrt, rief er Lengaigne und zahlte, was er ihm schuldig war.

»Geht Ihr fort, Korporal?«

»Ja.«

»Aber Ihr kommt doch wieder?«

»Nein.«

Überrascht blickte der Wirt ihn an. Sollte dieser Dummkopf darauf verzichten, sein Recht geltend zu machen?

»Was denkt Ihr denn zu tun? Werdet Ihr wieder Tischler?«

»Nein, Soldat.«

Lengaigne riß die Augen auf, dann lachte er verächtlich. War dieser Mensch ein Esel!

Hans befand sich schon auf der Landstraße nach Cloyes; da überkam ihn eine seltsame Rührung; er wandte den Schritt und ging zur Anhöhe; er wollte nicht Rognes verlassen, ohne von Franziskas Grab Abschied genommen zu haben. Noch etwas anderes zog ihn dort hinauf, der Wunsch, noch einmal dies Land zu überschauen, diese traurig ernste Beauce, die er in den langen Stunden einsamer Feldarbeit lieben gelernt hatte.

Hinter der Kirche lag der Friedhof, von einer halb zerfallenen Mauer umgrenzt, die so niedrig war, daß man von den Gräbern aus die weite Ebene überblicken konnte. Mit blassem Licht übergoß die Märzsonne den Himmel, den ein leichter Nebel verschleierte, matt glänzend wie weiße Seide, von einem zarten bläulichen Stich durchtönt. Unter diesem lächelnden Lichte schien die noch von der Kälte des Winters halb erstarrte Beauce zu schlummern, jenen Schläferinnen vergleichbar, die schon erwacht, mit noch geschlossenen Augen auf ihrem Lager ruhen. Den Horizont umschleierte eine verschwommene Helle, welche die Flur noch weiter erscheinen ließ; die schon grünenden Felder, der im Herbst gesäte Hafer und Weizen wechselte mit den braunen Äckern, in welche die Bauern die Frühjahrssaat streuten. Überall schritten über die Schollen die Sämänner mit der schleudernden Bewegung des Armes und dem träufelnden Fall der Körner. Ganz deutlich sah man bei den nächststehenden den goldigen Staub auf den Acker regnen. Weiter drüben wurden die Sämänner kleiner und kleiner, und immerfort umgab die schimmernde Saat sie, schien ganz in der Ferne nur noch wie das zitternde Licht des Tages sie zu umhüllen. Meilenweit in allen vier Windrichtungen der Ebene troff das Leben des kommenden Sommers auf die Erde.

Vor Franziskas Grab hielt Hans inne. Sie ruhte in der Mitte einer langen Gräberreihe, und die offene Grube des alten Fouan lag des Insassen harrend daneben. Unkraut überwucherte den Friedhof; niemals hatte der Gemeinderat sich herbeilassen wollen, die erforderlichen fünfzig Franken zu bewilligen, damit der Feldhüter das Gräberfeld säubere. Die Kreuze und Gitter verfaulten; ein paar verwitterte Grabsteine standen dazwischen. Und doch lag ein eigener heimlicher Zauber über diesem verlassenen Winkel, dessen einsame stille Ruhe nur das Krächzen der Raben unterbrach, die um die Spitze des Kirchturms kreisten. Die Toten schlummerten hier wie am Ende der Welt verlassen, vergessen. Hans aber blickte über den stummen Frieden der Gräber von neuem auf die Beauce hinaus, welche der befruchtende Regen der Saat mit neuem Leben zu durchschauern schien. Jetzt tönten langsam drei Schläge vom Kirchturm, dann noch zwei, dann läutete es stärker. Der alte Fouan trat seine letzte Reise an.

Der Totengräber, ein lahmer Alter, hinkte heran.

»Das Grab ist zu klein,« meinte Hans.

»Bewahre!« versetzte der Mann; »er ist zusammengeschmort im Feuer.«

Die Buteau hatten bis zum Erscheinen des Doktor Finet am Tage nach jener Schreckensnacht gezittert. Doch die einzige Sorge des Arztes war gewesen, recht schnell den Totenschein auszustellen, damit er nichts weiter damit zu tun habe. Er kam, besichtigte die Leiche und polterte gegen die Unvorsichtigkeit, einem Alten, der nicht mehr wisse, was er tue, ein Licht zu lassen. Ihm stieg wohl ein Verdacht auf, doch er war klug genug, ihn für sich zu behalten. Mein Gott, wenn sie wirklich den Vater, der durchaus nicht sterben wollte, ein bißchen geröstet hätten! Er hatte soviel unter diesem Volk erlebt, daß es kaum mehr in Betracht kam. In seiner Sorglosigkeit, in die Groll und Verachtung sich mischten, zuckte Finet einfach die Achseln: elendes Gesindel diese Bauern!

Von dieser Seite beruhigt, hatten die Buteau nur noch den Anprall der Familie auszuhalten; er war vorhergesehen und wurde festen Fußes erwartet. Zuerst erschien die Große: das Ehepaar brach in Tränen aus. Sie schaute beide prüfend an, befremdet von dem vielen Weinen, das ihr nicht sehr klug vorkam; übrigens war sie nur aus Neugierde gekommen, denn von der Erbschaft hatte sie nichts zu beanspruchen. Die Gefahr begann, als Fanny und Delhomme sich zeigten. Der letztere war kurz vorher an der Stelle Macquerons zum Schulzen ernannt worden; seine Frau platzte förmlich vor Stolz. Sie war ihrem Schwur treu geblieben: ihr Vater war gestorben, ohne daß sie sich mit ihm ausgesöhnt hatte; und doch vermochte sie noch heute nicht zu verzeihen, daß er einmal ihrer verletzten Eigenliebe zu nahe getreten; trockenen Auges stand sie vor dem Leichnam. Aber man vernahm Schluchzen im Zimmer; Jesus war eingetreten; die Rührung, die er am Boden der Weinflaschen schöpfte, machte sich Luft. Er netzte den Toten mit seinen Tränen und rief überlaut, das sei ein Schlag, von dem er sich nicht erholen werde.

Inzwischen hatte Lise in der Küche Wein und Gläser hervorgeholt, und man begann zu plaudern. Die hundertfünfzig Franken Renten, die bei dem Verkauf von Fouans Hause herausgekommen, wurden sofort außer Frage gesetzt, denn man war übereingekommen, daß diese dem der Kinder zufallen sollte, das den Vater in seinen letzten Tagen erhalten hatte. Doch es blieb der Schatz, die allen bekannten dreihundert Franken Rente. Buteau erzählte seine Geschichte, wie der Alte die Papiere unter dem Marmor der Kommode gefunden und wie er nachts, als er sie durchgesehen, sein Lager in Brand gesteckt; man hatte die Asche am Fußboden gefunden, wie es die Frimat und die Bécu bezeugen könnten. Während dieser Worte blickten die anderen Buteau fest an; er geriet nicht aus der Fassung, er schlug sich auf die Brust, es sei die Wahrheit, so gewiß wie ihn die Sonne bescheine. Es war klar, die Familie durchschaute seine Lüge; ihm war es gleichgültig, wenn man ihn nur in Frieden ließ und er das Geld behalten konnte. Fanny übrigens lieh der Überzeugung aller in ihrer stolzen Freimütigkeit Ausdruck, indem sie die beiden Mörder und Räuber nannte: jawohl, sie hätten den Vater verbrannt und beraubt, das sei sonnenklar. In heftiger Gegenrede antworteten die Angegriffenen mit anderen abscheulichen Anklagen. So, man wolle ihnen Unannehmlichkeiten bereiten? Was sei es denn mit der vergifteten Suppe, die Fanny dem Alten gegeben und woran er beinah krepiert wäre? Wenn man etwas gegen sie aussage, würden sie die Schandtaten der anderen aufdecken. Jesus weinte wieder. Wie sei es möglich, heulte er, daß solche Scheußlichkeiten begangen würden? Sein armer Vater! Gebe es wirklich auf der Welt Söhne, die ihren eigenen Vater verbrennen? Die Große, deren Augen leuchteten, warf hier und da ein Wort dazwischen, das die Verwandten von neuem aufeinander hetzte, wenn ihnen der Atem ausgegangen war. Delhomme schloß Tür und Fenster; er hatte jetzt seine amtliche Stellung zu hüten; auch war er von jeher für die friedlichen Lösungen gewesen. Er meinte, dergleichen Dinge spreche man nicht aus; was habe man davon, wenn die Nachbarn es hörten? Man werde vor Gericht kommen, und die Gerechten würden vielleicht mehr dabei verlieren als die Ungerechten. Nein, wenn es in einer Familie Schurken gebe, so müsse man sie ihrer Schurkerei überlassen in der Hoffnung, daß sie sich selbst einst daran das Genick brechen. Alle schwiegen; er hatte recht, es war nicht wert, die Gerichte in ihre Familienangelegenheiten einzuweihen. Buteau flößte ihnen Furcht ein, dieser Schuft war imstande, ihnen allen zu schaden. Auch jener Charakterzug der Bauern machte sich geltend, der den Wilddieben, den Mördern der Feldhüter, all jenen schlechten Wesen die Stange hält, vor denen der Landmann sich fürchtet, und die er doch nicht dem Arm der Gerechtigkeit überliefert. Sie ließen die Sache auf sich beruhen und gaben Vatermord und Raub dem Vergessen anheim.

Die Große blieb, um den bei der Leichenwache vorgesetzten Kaffee zu trinken, die anderen entfernten sich unhöflich, wie man von Leuten aufbricht, denen man seine Verachtung bezeigen will. Die Buteau jedoch lachten darüber, sie hatten das Geld und waren sicher, daß man sie deswegen nicht mehr behelligen werde; mehr verlangten sie nicht. Lise gewann ihre laute, muntere Sprache wieder, und Buteau bestellte den Sarg und begab sich auf den Kirchhof, um zu sehen, auf welchem Platze man das Grab grabe.

In Rognes wollten die Bauern, die sich bei Lebzeiten gehaßt hatten, nicht Seite an Seite ruhen, wenn sie tot waren. Jetzt beerdigt man aber die Verstorbenen der Reihe nach, wie das der Zufall bringt; trifft es sich also, daß zwei Feinde unmittelbar hintereinander aus dem Leben scheiden, so ist die Behörde in nicht geringer Verlegenheit, denn die Familie des zuletzt Dahingegangenen pflegt zu erklären, daß sie die Leiche lieber behalte, ehe sie diese neben dem Verhaßten liegen lasse. Als Macqueron Schulze gewesen, hatte er seine Stellung benutzt, um sich außerhalb der Reihe einen Platz anzukaufen; dieser Platz aber stieß unglücklicherweise an ein Gebiet, wo der Vater Lengaignes begraben lag, und wo Lengaigne sich ebenfalls sein Plätzchen vorbehalten hatte; darum lebte der letztere seither in furchtbarer Aufregung, sein langer Kampf mit dem Gegner entflammte heftiger als je; der Gedanke, daß seine Gebeine einst neben den Gebeinen des Feindes verfaulen sollten, verbitterte ihm den Rest seines Lebens.

Dieselbe Empfindung war es, die Buteau aufs höchste in Erregung versetzte, nachdem er den seinem Vater zugeteilten Platz besichtigt hatte. Fouan hatte zur Linken Franziska, dagegen ließ sich nichts einwenden; doch der böse Zufall wollte, daß in der etwas höher gelegenen älteren Reihe gerade gegenüber das Grab der verstorbenen Frau des alten Saucisse lag, neben der ihr Mann sich eine Grabstelle vorbehalten hatte; wenn also dieser alte Gauner Saucisse endlich einmal krepierte, so würden seine Füße gerade oberhalb des Kopfes vom alten Fouan zu liegen kommen. Konnte man solch einen Gedanken nur einen Augenblick ertragen? Seit jener schmutzigen Geschichte mit dem Acker haßten sich die zwei Alten, und der schlechtere Kerl von den beiden, derjenige, der den andern übervorteilt, sollte ihm bis zum jüngsten Tage auf dem Kopfe tanzen? Ja, wenn die Familie herzlos genug wäre, so etwas zuzulassen, würden sich ja die Gebeine des Papa Fouan zwischen ihren vier Brettern umdrehen und gegen die Knochen von Saucisse auflehnen! Kochend vor Wut rannte Buteau zum Amte, um sich dort zu beschweren. Er stieß auf Delhomme und forderte ihn auf, er solle, da er jetzt Herr sei, eine andere Grabstätte bestimmen. Der Schwager weigerte sich, vom Brauch abzuweichen, indem er auf das bedauerliche Beispiel von Macqueron und Lengaigne hinwies; da nannte ihn Buteau eine Memme, einen Elenden, schrie inmitten der Dorfstraße, er allein sei der gute Sohn, denn die anderen Familienmitglieder ließen es sich nicht kümmern, ob ihr Vater in der Erde angenehm ruhe oder nicht. Er brachte das ganze Dorf in Aufruhr; entrüstet kehrte er heim.

Delhomme blieb eine noch viel ernstere Verlegenheit zu bekämpfen. Der Abbé Madeline hatte zwei Tage früher Rognes verlassen, und die Gemeinde war wieder einmal ohne Priester. Der Versuch, einen solchen auf eigene Kosten zu erhalten, dieser teure Luxus einer Pfarrei, hatte sich so schlecht bewährt, daß der Gemeinderat sich für die Streichung des Kredits ausgesprochen und die Rückkehr zum früheren Stande der Dinge beschlossen hatte, daß nämlich der Gottesdienst wieder von dem Pfarrer von Bazoches-le-Doyen versehen werde. Doch ob auch der Bischof den Abbé Godard zur Rede gestellt, schwur dieser nichtsdestoweniger, er lasse sich nimmermehr in diesem Dorfe sehen, wo man seinen Kollegen, den armen Abbé Madeline halb ums Leben gebracht nur einzig und allein, um ihn selbst zu zwingen zurückzukehren. Er versicherte heilig, Bécu könne am Sonntag die Messe bis zur Vesper läuten, er werde nicht kommen. Da verwickelte der Tod Fouans die Lage. Ein Begräbnis kann man nicht wie eine Messe beliebig vertagen. Delhomme begab sich sehr zufrieden mit dem Ereignis persönlich nach Bazoches zum Pfarrer; kaum hatte dieser ihn erblickt, so schwollen dem Geistlichen die Adern an den Schläfen, sein Gesicht wurde dunkelblau, und er schrie, bevor noch der Schulze den Mund geöffnet:

»Nein, nein! Lieber die Pfarrei verlieren.«

Als er erfuhr, daß man seiner bei einem Leichenbegängnis bedürfe, versagte ihm die Sprache vor Zorn. Diese Heiden starben geradezu, um ihn zur Rückkehr zu nötigen: wohlan, sie sollten sich allein verscharren, er werde ihnen nicht helfen, in den Himmel zu kommen. Friedfertig wartete Delhomme, bis dieser erste Sturm sich gelegt hatte; darauf brachte er seine Ansicht vor. Man versage keinem Christenmenschen das Weihwasser, meinte er, ein Toter könne nicht unbeerdigt liegenbleiben; schließlich machte er seine persönlichen Interessen geltend: der Dahingeschiedene sei sein Schwiegervater, der Schwiegervater des Schulzen von Rognes. Nicht wahr, bat er zum Schluß, der Pfarrer werde am nächsten Vormittag um zehn Uhr den Trauergottesdienst vornehmen? Nein! nein! nein! Der Abbé Godard wehrte sich verzweifelt, und der Bauer mußte abziehen, ohne ihn umgestimmt zu haben; ihm blieb nur die Hoffnung, der heißblütige Priester werde sich's am Abend überlegen.

»Ich sag' Euch nein!« rief ihm der Geistliche noch unter der Tür nach. »Laßt nicht läuten ... Nein! tausendmal nein!«

Am nächsten Tage erhielt Bécu vom Schulzen um zehn Uhr den Befehl zu läuten. Man werde sehen. Bei den Buteau war alles bereit; schon am Vorabend waren die Reste Fouans unter dem geübten Auge der Großen in den Sarg gelegt worden. Die Kammer hatte man bereits gewaschen, nichts blieb mehr von dem Brande übrig als der Vater zwischen seinen vier Brettern. Während die Glocke tönte, sah die zum Leichenbegängnis vor dem Hause versammelte Familie den Abbé Godard die Straße bei Macquerons Haus her auf stürmen. Er war so außer Atem, so rot und wutschnaubend, daß er seinen Dreimaster in der Hand hielt, aus Furcht, ihn könne der Schlag treffen. Er schaute niemanden an, stürzte in die Kirche und kam gleich darauf in seinem Meßgewand wieder zum Vorschein, gefolgt von zwei Chorknaben, von denen der eine das Kreuz, der andere den Weihkessel hielt. Hastig murmelte er einen Segen über den Sarg, und spornstreichs ging er zur Kirche zurück, unbekümmert, ob man ihm folge. Sodann begann er in überstürzter Eile seine Messe. Clou mit seiner Posaune, sowie die beiden Sänger, hatten Mühe ihm zu folgen. In der ersten Bank saß die Familie, Buteau, Lise, Fanny und Delhomme, Jesus und die Große. Herr Karl hatte nur allein die Trauerhandlung mit seiner Gegenwart beehren können; Frau Karl befand sich seit zwei Tagen mit Elodia und Ernst in Chartres. Dreckbatzen war, als sie im Begriff gewesen, sich zum Begräbnis zu begeben, gewahr geworden, daß ihr drei Gänse abhanden gekommen; schleunigst hatte sie sich auf den Weg gemacht, sie zu suchen. Hinter Lise saßen sehr artig die beiden Kinder, Laura und Julius, mit gefalteten Händen, die großen schwarzen Augen weit aufgesperrt. Auf den anderen Bänken drängte sich eine Menge Bekannter; besonders die Frauen waren zahlreich vertreten, die Frimat, die Bécu, Beline, Flora, mit einem Wort: eine so große Schar Teilnehmer, daß man allen Grund hatte, stolz zu sein. Bevor der Priester die geistliche Handlung begann, öffnete er, seine Gemeinde anblickend, die Arme mit einer so drohenden Gebärde, als wolle er alle Welt ohrfeigen. Bécu, der sehr betrunken war, läutete noch immer.

Es war alles in allem eine sehr schöne Messe, obwohl es etwas rasch ging. Niemand ärgerte sich über diese Eile; man lächelte heimlich über den Unmut des Priesters, den jedermann im Grunde entschuldigte, denn es war ebenso natürlich, daß er über seine Niederlage erbost war, wie Rognes sich seines Sieges freute. Ein Zug spöttischer Genugtuung malte sich auf allen Gesichtern. Man hatte ihn doch genötigt, den lieben Herrgott zurückzubringen, um den man sich übrigens wenig kümmerte.

Nachdem die Messe beendet war, ging der Weihwedel von Hand zu Hand; sodann bildete sich der Leichenzug: Voran das Kreuz, dann die beiden Sänger, Clou mit seiner Posaune, der immer noch nach Atem ringende Pfarrer, der von vier Bauern getragene Sarg, hierauf die Familie und endlich die Nachbarn und Freunde. Bécu begann von neuem so mächtig zu läuten, daß die Raben mit ängstlichem Gekrächze das Weite suchten. Man umging die Ecke der Kirche und betrat den Friedhof. Der Gesang und die Musik tönten heller inmitten der weiten, schweigsamen Flur unter der dunstverschleierten Sonne, die das traumhaft schlummernde Gräberfeld mit seinem Unkraut und seinen modernden Kreuzen durchhitzte. Hier erschien plötzlich der Sarg im vollen Taglicht so ungewöhnlich klein, daß alle verwundert waren. Zumal Hans, der noch dort stand, schien ganz verdutzt. Wie den armen Greis das Alter zusammengetrocknet, wie ihn der Jammer des Lebens aufgezehrt hatte, so daß er jetzt in dieser winzigen Schachtel Raum fand. Er nahm nicht viel Platz weg, lag der Erde, die er mit allen Fasern seines Ichs geliebt, nicht sehr im Weg! Der Sarg war bis an die offene Grube gekommen. Korporals Blick folgte ihm, dann schweifte sein Auge über die niedere Kirchhofsmauer wieder hinaus, schweifte von einem Ende der Beauce zum andern; überall sah er auf den Äckern bis zum Horizont hinaus die Säleute, sah den lebendigen Sprühfall der Saat in die offenen Furchen regnen.

Als die Buteau Hans erblickten, wechselten sie einen besorgten Blick. War der Schuft gekommen, um hier eine Szene zu machen? Solang' sie ihn in Rognes wußten, waren sie nicht ruhig. Der Chorknabe, der das Kreuz trug, steckte es am Fuße des Grabes in den Boden; während der Abbe Godard vor der ins Gras gestellten Bahre hurtig die letzten Gebete hersagte. Die Trauergäste aber wurden durch die Macqueron und Lengaigne abgelenkt, die erst jetzt ankamen und fortwährend den Blick seitwärts über die Ebene wandten. Alle drehten sich nach derselben Richtung herum und gewahrten einen dicken Rauch, der zum Himmel emporquoll. Es mußte von der Borderie kommen; vielleicht war dort ein Schober in Brand geraten.

»Ego sum ...« rief der Priester ärgerlich.

Die Augen hefteten sich von neuem auf den Sargdeckel. Nur Herr Karl fuhr in einer mit leiser Stimme mit Delhomme geführten Unterhaltung fort. Er hatte am Vormittag einen Brief seiner Frau bekommen, der ihn höchlichst befriedigte. Seit den vierundzwanzig Stunden, die Elodia in Chartres weilte, hatte sie bereits in erstaunlicher Weise Zeugnis gegeben von ihrer seltenen geschäftlichen Befähigung und sich als ebenso tatkräftig und klug erwiesen wie Ernst. Sie hatte ihren Vater zum Austritt überredet und war bereits Herrin des Hauses. Welch eine Begabung, welch ein Blick, welch kräftige Hand! Herr Karl meinte gerührt, fortan könne er in sorglosem Glücke sich seines Alters freuen; seine Rosen und Nelken würden ihm wieder das Auge erquicken; die Sänger in seinem Vogelhause schienen in den letzten zwei Tagen bereits ihre Stimmen wiedergewonnen zu haben, entzückten wieder mit ihren lieblichen Trillern sein Herz.

»Amen!« rief laut der Chorknabe, der den Weihkessel trug.

Der Abbé Godard begann in seiner grollenden Art:

»De profundis clamavi te, Domine ...«

Er fuhr fort, während Jesus seine Schwester Fanny auf die Seite zog und sich in heftigen Worten über die Buteaus ausließ.

»Wenn ich neulich nicht so betrunken gewesen wäre! ... Aber es geht nicht an, daß wir uns in solcher Weise bestehlen lassen.«

»Bestohlen, ja, das sind wir gründlich,« flüsterte Fanny.

»Denn diese Kanaillen haben die Rentenbriefe ... Schon lange stecken sie die Zinsen ein, sie haben sich mit Saucisse verglichen, ich weiß es ... Zum Henker auch, wir müssen ihnen einen Prozeß machen ...«

Sie schüttelte lebhaft das Haupt.

»Nein, nein, ich nicht! Ich hab' genug mit meinen Angelegenheiten zu tun ... Wenn du es willst, meinetwegen.«

Jesus machte eine verzagte Gebärde. Wenn er die Schwester nicht in den Vordergrund stellen konnte, schien ihm die Sache mißlich, denn seine persönlichen Beziehungen zur Behörde waren zu zweifelhafter Natur.

»Ich allein, das ist schwer, man redet mir allerhand nach ... Wenn wir sie nicht ins Gefängnis bringen, haben wir wenigstens das vor ihnen voraus, daß unser Gewissen rein ist und wir das Haupt frei und stolz erheben können.«

Die Große hörte diese Worte und sah, wie Jesus sich mit selbstbewußter Biederkeit in die Brust warf. Sie hatte diesen zerlumpten Wicht von jeher für einen Träumer gehalten; war es möglich, daß solch ein baumlanger Mensch nicht einfach bei seinem Bruder alles kurz und klein schlug, um in den Besitz seines Anteils zu gelangen? Um im Geheimen ihn und Fanny zum besten zu haben, wiederholte sie ihnen, ohne irgendwelche Anknüpfung, was sie schon so oft gesagt:

»Sicher; ich werd' dafür sorgen, daß niemand zu kurz kommt. Mein Testament ist vor langer Zeit gemacht. Jeder bekommt das Seine, ich könnte nicht ruhig sterben, wenn ich einen von euch begünstigt hätte. Hyacinth ist bedacht und du auch, Fanny ... Ich bin neunzig Jahre alt. Es wird schon der Tag kommen.«

Sie glaubte nicht ein Wort davon, es fiel ihr gar nicht ein, ans Sterben zu denken; sie wollte ihr Hab und Gut festhalten und hoffte, sie alle zu begraben. Wieder sah sie jetzt einen scheiden, ihren Bruder, und dieser Tote, den man dort gebracht, dieses offene Grab, diese Trauerfeier, das alles kam ihr wie etwas sie nicht Berührendes vor, etwas, das die Nachbarn anging, nicht sie. Hochaufgerichtet, den Stock unterm Arm, ragte ihre hagere Gestalt über die Gräber, keine Spur von Rührung wandelte sie an, mit kalter Neugier schaute sie zu und dachte, wie wenig angenehm es schließlich für die andern sein müsse, so zu sterben und sich begraben zu lassen.

Der Priester sagte den letzten Vers des Psalmes her:

»Et ipse redimet Israel ex omnibus inquitatibus ejus.«

Er nahm den Weihwedel, besprengte den Sarg, indem er die Stimme hob.

»Requiescat in pace!«

»Amen!« antworteten die beiden Chorknaben.

Die Bahre wurde hinabgelassen. Der Totengräber befestigte die Stricke; zwei Männer genügten; der Tote wog nicht schwerer als ein Kind. Jetzt ging der Wedel von Hand zu Hand, jedermann trat an die Grube und beschrieb darüber das Zeichen des Kreuzes.

Hans, der ebenfalls hinzugetreten war, empfing den Sprengwedel aus der Hand des Herrn Karl; er schaute in das Grab hinab. Seine Augen waren noch geblendet von dem Blick über die weite Beauce zu den Säleuten hinüber, die das spätere Brot in den Boden versenkten, bis zum sonnenschimmernden Horizont, wo die Schattenbilder der säenden Männer sich verloren. Doch er unterschied jetzt dort unten den noch winziger scheinenden Sarg mit dem schmalen Fichtendeckel darauf, gelb gefärbt wie das reife Getreide. Fette Erdklöße rollten hinab, verdeckten ihn, bald gewahrte man nur noch einen gelben Fleck, gleich einer Handvoll von dem Korn, das die Kameraden dort drüben in die Ackerfurchen streuten. Er machte das Zeichen des Kreuzes und reichte den Wedel Jesus.

»Herr Pfarrer, Herr Pfarrer!« rief Delhomme halblaut.

Er eilte dem Abbé Godard nach, der, nachdem kaum das Traueramt vorüber, mit seinem hastigen Schritte davonstürmte, ohne sich selbst um seine Chorknaben zu scheren.

»Was gibt's noch?«

»Ich wollte Ihnen für Ihre Güte danken ... Also Sonntag läuten wir um zehn Uhr zur Messe wie gewöhnlich?«

Während der Geistliche, ohne zu antworten, ihn anblickte, beeilte er sich hinzuzusetzen:

»Wir haben eine arme, sehr kranke Frau im Dorfe; sie ist ganz allein, hat nicht einen Liard ... Rosalie, die Stuhlflechterin; Sie kennen sie ... Ich habe ihr Fleischbrühe geschickt, aber ich kann nicht alles tun ...«

Das Antlitz des Priesters gewann einen milden Ausdruck, ein rührender Zug von Mitleid verwischte den heftigen Jähzorn. Er suchte in seinen Taschen, fand aber nicht mehr als sieben Sous.

»Leiht mir zehn Franken, ich geb' sie Euch Sonntag zurück ... Also auf Sonntag!«

Von neuem packte ihn sein hastiges Ungestüm, und er verschwand. Sicher wird der liebe Gott all dies gottlose Volk von Rognes einst in der Hölle braten lassen, doch das ist am Ende kein Grund, ihnen nicht die Leiden ihres irdischen Lebens ein wenig zu erleichtern.

Als Delhomme zu den anderen zurückkam, geriet er mitten in einen lauten Streit. Zuerst hatten alle stumm zugeschaut, wie der Totengräber die Erde auf den Sarg schaufelte. Doch als der Zufall es fügte, daß Macqueron unmittelbar neben Lengaigne treten mußte, begann der letztere seinen Feind in schroffen Ausdrücken betreffs der von jenem erworbenen Grabstätte zur Rede zu stellen. Die Familie, die sich bereits zum Aufbruch anschickte, blieb stehen, hörte zu und nahm leidenschaftlich Anteil an dem Wortkampfe, den die regelmäßigen Schläge der fallenden Erdschollen begleiteten.

»Du hattest kein Recht dazu,« schrie Lengaigne; »du konntest zehnmal Schulze sein, es war deine Schuldigkeit, der Reihe nach zu gehen; um mich zu ärgern, hast du dir den Platz neben meinem Vater ausgesucht ... Aber zum Teufel auch, noch liegst du nicht da!«

Macqueron erwiderte:

»Wirst du mir Ruh' geben! ... Ich hab' bezahlt, der Platz ist mein, und ich werde ihn einnehmen; ein Schwein von deiner Sorte soll mich nicht abhalten, mich in mein angekauftes Grab zu legen.«

Sie hatten einander zu den Grabstellen hingedrängt, wo sie einst ruhen sollten.

»Aber, elender Feigling, macht es dir denn nichts, daß wir da mal wie ein paar Freunde nebeneinander schlafen sollen? Mir vergällt der Gedanke das Blut ... Wie? Das ganze Leben hat man einander in den Haaren gelegen, und da unten sollte man Frieden schließen, sich einer gemächlich neben den andern betten? ... Nein! nein! keine Versöhnung, kein Vergessen, niemals!«

»Mensch, mir bist du so schnuppe! Krepiere, laß dich verscharren, wo du willst; ich schau' mich nicht mal danach um, ob du neben mir verfaulst.«

Diese Verachtung brachte Lengaignes Zorn aufs höchste. Wutschäumend stieß er hervor: wenn er den Feind überlebe, werde er nachts dessen Knochen ausgraben und sie auf den Mist werfen. Macqueron versetzte spöttelnd, das wolle er sich mal mit ansehen. Die Frauen mischten sich jetzt in den Streit. Die hagere, schwarze Celine griff keifend ihren Gatten an.

»Du bist im Unrecht: ich hab's dir oft gesagt, dir fehlt das richtige Gefühl in der Sache ... Wenn du bei deinem Willen bleibst, gut laß dich allein da begraben; ich geh' anderwärts hin, ich will nicht neben diesem stinkenden Saumensch liegen.«

Das war auf Flora gemünzt, diese aber gab in ihrer weinerlichen Art zurück:

»Reg' dich nicht auf, meine Liebe, ich leg' mich schon gar nicht neben dich; das fehlte noch, daß deine Knochen den meinen die Krankheit bringen.«

»Was? Welche Krankheit?«

»Die Krankheit, mein Gott! Du verstehst schon.«

Die Bécu und die Frimat mußten sich ins Mittel legen, um beide zu trennen.

»Aber, aber!« begütigte die erstere, »ihr seid ja einig, ihr legt euch nicht nebeneinander und damit ist's gut ... Jeder hat seine Ansichten und hat das Recht, sich seine Nachbarschaften zu wählen.«

Die Frimat stimmte ihr bei:

»Das ist ganz natürlich ... So mein Alter, der bald sterben wird: ja ich möchte ihn lieber bei mir im Hause behalten, ehe ich ihn neben Couillot begraben ließe, mit dem er in Feindschaft gelebt hat.«

Ihr waren die Tränen in die Augen getreten bei diesen Worten. Sie dachte daran, daß ihr gelähmter Mann vielleicht nicht mehr die Woche überleben werde. Am Vorabend, als sie ihn ins Bett legen wollte, war sie mit ihm zu Boden gestürzt; gewiß, wenn er sie verlasse, werde sie ihm bald nachfolgen.

Lengaigne aber wandte sich jetzt an den wieder hinzutretenden Delhomme.

»Sag', man hält dich für einen gerechten Mann, kannst du eine solche Ungerechtigkeit zugeben? ... Jetzt, wo du Schulze bist, kannst du Saucisse zwingen, daß er sich in Reih und Glied begraben läßt.«

Macqueron zuckte die Achseln, und Delhomme erklärte, sobald jener den Platz bezahlt habe, gehöre er ihm. Um solchem Streite in Zukunft vorzubeugen, werde man nicht wieder außer der Reihe liegende Grabstätten verkaufen, und damit sei es gut. Buteau war bisher der Trauerfeier zuliebe ruhig geblieben; denn noch immer fielen mit dumpfem Schall die Erdklöße auf den Sarg des Vaters. Jetzt aber verlangte seine Entrüstung das Wort. Auf Delhomme deutend, rief er zu Lengaigne hinüber:

»Prosit, wenn du darauf rechnest, daß der da was von Gefühl versteht! Er hat ja seinen eigenen Vater neben einem Betrüger einscharren lassen.«

Jetzt nahm die ganze Familie an dem Gezanke teil. Fanny nahm ihren Gatten in Schutz, indem sie meinte, die Sache sei von der Familie verschuldet, man hätte beim Tode der Mutter einen Platz für den Vater erwerben sollen. Jesus erschien die Nachbarschaft des alten Saucisse eine unerhörte Sache, die durch nichts entschuldigt werden könne; auch Herr Karl schloß sich, wenn auch in maßvoller Rede, dieser Meinung an.

Es wurde so laut, daß niemand mehr sein eigenes Wort verstand. Buteau aber überschrie sie alle und rief:

»Ja, ihre Knochen werden sich in der Erde gegeneinander umkehren, um sich noch weiter anzufeinden.«

Da mischten sich die Freunde und alle Bekannten in den Familienzwist. Ja, das war es, die Knochen stehen im Grabe auf, und der Kampf dauert dort unten fort. Die Fouans werden in der Erde noch einander befehden, Lengaigne und Macqueron werden sich noch als Gerippe in den Haaren liegen; die Frauen Celine, Flora, die Bécu werden sich noch nach ihrem Ableben raufen und beschimpfen. Das war die allgemeine Meinung in Rognes, und darum legten sich die Feinde nicht nebeneinander, denn der Haß stirbt nicht aus, er lebt noch im Grabe fort, lebt bis zum jüngsten Tage; unter all diesen sonnenbeglänzten Gräbern kämpften die Toten unablässig denselben Kampf weiter, der in diesem Augenblick die zwischen den Hügeln stehenden Lebenden mit geballten Fäusten, mit wutschnaubenden Lippen gegeneinander hetzte.

Doch ein Ruf Korporals machte plötzlich dem Lärm ein Ende:

»Es brennt in der Borderie!«

Alle blickten hinüber. Jeder Zweifel war ausgeschlossen: die im hellen Tageslicht erbleichenden Flammen schlugen flackernd zum Dache des Gutshofes hinaus, eine große rußige Rauchwolke zog langsam nach Norden.

Im selben Augenblicke sah man Dreckbatzen, die laufend von dem Gutshofe daherkam. Als sie ihre Gänse gesucht, hatte sie die ersten Flammen entdeckt, sich eine Weile an dem Schauspiel ergötzt, bis der Gedanke, als erste die Neuigkeit zu erzählen, sie hierher getrieben. Sie sprang rittlings auf die niedrige Mauer und schrie mit ihrer dünnen Knabenstimme:

»Wie das brennt! –Dieser große Tölpel, der Tron, hat sich eingeschlichen und es angesteckt; an drei Stellen hat er das Feuer gelegt, in der Scheune, im Pferdestall und in der Küche. Man hat ihn ergriffen, wie er gerade das Stroh ansteckte, die Knechte haben ihn beinahe totgeprügelt ... Und die Pferde, die Kühe und Schafe brennen. Man muß sie schreien hören; in eurem Leben habt ihr nicht solch ein Gebrüll gehört.«

Ihre grünen Augen blitzten; jetzt lachte sie hell auf.

»Und die Cognette! Ihr müßt wissen, seit dem Tode des Herrn war sie krank; man hatte sie in ihrem Bette vergessen ... Sie fing schon an zu braten und hat just noch die Zeit gehabt, im Hemde auf und davon zu laufen. Es war zum Totlachen, wie sie so über das Feld stürmte, das Hemd hinaufgerafft, so daß sie alles zeigte hinten und vorn; die Leute schrien hu! hu! hinter ihr her, denn niemand mag sie leiden ... Nur ein Alter sagte, sie geht, wie sie gekommen, mit einem Hemd am Leibe.«

Ein neuer Anfall unbändiger Heiterkeit schüttelte sie.

»Kommt euch das ansehen, es ist zu lustig... Ich lauf wieder hin!«

Sie sprang hinab und rannte, wie sie gekommen, zu dem brennenden Hof zurück.

Herr Karl, Delhomme, Macqueron und fast alle Bauern folgten ihr, während die Frauen –die Große an ihrer Spitze –ebenfalls den Kirchhof verließen und auf den Weg hinaustraten, um besser zu sehen.

Buteau und Lise waren zurückgeblieben; die letztere hielt Lengaigne an und fragte ihn über Hans aus, sie gab sich den Anschein, als komme ihr die Frage nur so beiläufig. Er habe wohl Arbeit gefunden, daß er noch immer im Lande weile?

Als der Schankwirt erzählte, daß Korporal fortziehe, um sich wieder in der Armee anwerben zu lassen, antworteten Lise und Buteau, plötzlich von einer großen Sorge befreit, wie aus einem Munde:

»Der Dummkopf!«

So war es also vorüber, sie konnten wieder anfangen, glücklich zu leben. Einen letzten Bück warfen sie auf das Grab des Vaters, in welches der Totengräber die letzten Schaufeln Erde warf; da die Kinder immer noch dastanden und dem Manne zusahen, rief die Mutter sie heran:

»Julius, Laura, kommt! ... Seid artig und folgsam, oder der Totengräber holt euch, und scharrt euch auch in die Erde ein.«

Die Buteau verließen den Friedhof, die Kinder vor sich hertreibend, die alles wußten und doch mit ihren großen, schwarzen, stummen und tiefen Augen ruhig dreinblickten.

Es befanden sich nur noch Jesus und Hans auf dem Gräberfeld.

Der erstere stand zwischen zwei Gräbern und blickte nach dem Feuer hinüber, seine Augen verschleierten sich wie in einem Traume, sein versoffenes Gesicht drückte den trübseligen Abschluß aller Philosophie aus; vielleicht dachte er, daß alles Bestehende sich einst in Rauch auflöst. Weil die ernsten Gedanken ihn immer sehr aufregten, hob er das Bein und ließ hintereinander drei mächtige fahren. Langsam schlenderte er dann dem Dorfe zu.

Hans war allein. In der Ferne stiegen aus dem vollkommen zerstörten Gutshofe nur noch mächtige, schwarze Rauchgarben empor und warfen gleich finstern Wolken ihren Schatten über die Ackerfelder, über die Sämänner, die unaufhaltsam mit ihrem stetigen gleichmäßigen Schritt die Felder durchmaßen. Langsam senkte sich sein Auge und blickte auf die frischen Hügel, unter denen Franziska und Fouan schlummerten. Der Zorn, der ihm noch heute früh die Brust geschwellt, sein Ekel vor allen Menschen und allen Dingen lösten sich in einem Gefühl friedfertiger Beruhigung auf, unbewußt goß die warme Sonne Milde und Hoffnung in sein Herz.

Jawohl! sein Herr, der Gutsbesitzer Hourdequin, hatte sich wacker gequält und gesorgt mit seinen neuen Erfindungen und hatte nicht viel erreicht mit seinen Maschinen, seinen Dungversuchen, mit all diesen noch unrichtig angewandten Errungenschaften des Fortschritts. Dann war die Gognette gekommen und hatte ihm den Rest gegeben, und jetzt ruhte auch er dort auf dem Friedhofe, und der Wind zerstreute die Asche seines Hofes.

Und doch, die Mauern mochten verbrennen, die Erde blieb; die Erde, die Urmutter wird immer bestehen, wird immer die nähren, die sie befruchten. Sie herrscht über Raum und Zeit, sie gibt uns Getreide fort und fort, wie sie es bisher getan, geduldig die Zeit erwartend, wo wir verstehen werden, ihr noch mehr abzugewinnen.

Das ist gerade so wie diese Geschichten von Revolutionen, von politischen Umwälzungen, von denen man spricht. Der Boden, heißt es, wird in andere Hände übergehen, die Ernten der andern Welt werden die unseren überfluten und ersticken, so daß auf unseren Feldern nur noch Gestrüpp wuchern wird.

Was macht's, kann man der Erde schaden? Wird sie nicht immer irgendwem gehören, der sie bebauen wird, um nicht Hungers zu sterben? Wenn jahrelang das Unkraut darauf wächst, erholt sie sich, wird jung und fruchtbar. Sie bekümmert sich nicht um unsere elenden Kämpfe und Zwiste, wir gelten ihr, der ewig fleißig schaffenden Arbeiterin nicht mehr als die Ameisen.

Er dachte auch an das Leid, das Blut, die Tränen, an all das, was wir dulden, was uns das Herz zerfleischt, an Franziska, die sie ermordet, an Fouan, den sie umgebracht, und wie die Schurken triumphieren, wie das blutdürstige Gezücht auf dem Lande den Mutterboden der Erde befleckt, besudelt.

Doch, wer weiß?

Wie der Frost, der die Ernten vernichtet, der Hagelschlag, der sie zerstampft, Blitz und Gewitter, die sie niederwerfen, vielleicht notwendige Übel sind, so ist es wohl möglich, daß die Welt Blut und Tränen gebraucht zu ihrem Fortbestehen. Was wiegt unser Unglück in dem unendlichen Getriebe der Sterne und der Sonne?

Der liebe Gott hat andere Sorgen als wir. Wir danken unser tägliches Brot nur einem schrecklichen, unaufhörlichen Kampfe auf Tod und Leben, einem Kampfe, der keinen Tag rasten darf, keine Stunde.

Nur die Erde bleibt, die Mutter, von der wir alle herstammen, zu der wir alle zurückkehren, sie, die wir lieben bis zum Verbrechen, die selbst aus unseren Missetaten und unserem Elend immerfort neues Leben schafft zu ihren unbekannten Endzwecken.

Lange schwirrten die unklaren, schlecht entwickelten Gedanken durch sein Gehirn. Da tönte ein Trompetenstoß in der Ferne, die Trompete der Feuerwehr von Bazochesle-Doyen, die zu spät im Sturmschritt daherkam. Bei diesem Mahnrufe erwachte Hans. Die Stimme, die dort durch den Rauch herüberscholl, bedeutete für ihn den Krieg mit seinen Pferden, Kanonen, seinem Schlachtgetümmel.

Potz Blitz! wenn er nicht mehr Lust hatte zur Arbeit, so wollte er den alten Boden Frankreichs verteidigen helfen.

Er machte sich auf den Weg. Noch einen letzten Blick auf die nackten Gräber, auf die endlosen Äcker der Beauce, welche die Sämänner mit ihrem weitstreuenden Arme befruchten. Tote und Saatkorn! und das Brot entsprießt dem Schoße der Mutter Erde.


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