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Fünftes Kapitel.

Zwei Jahre gingen dahin; im Wechsel der Jahreszeiten, im ewigen Einerlei der Dinge zogen sie vorüber mit der nämlichen Arbeit, dem gleichen Schlummer. Es befand sich in Rognes auf der Straße unten an der Ecke des Schulgebäudes ein stets fließender Brunnen, wo die Frauen ihr Trinkwasser schöpften; denn in den Gehöften gab's nur trübe Lachen für das Vieh und die Gärten. Um sechs Uhr abends war hier die Klatschstunde der Weiber. Die geringsten Ereignisse wurden besprochen; daß man in dem einen Hause eine Hammelkeule gegessen, daß in dem anderen die Tochter seit Maria Lichtmeß guter Hoffnung war, gab unerschöpflichen Gesprächsstoff. Während dieser zwei Jahre hatten dieselben Gegenstände mit den Jahreszeiten gewechselt, sich erschöpfend und ewig wiederholend: Kinder, die zu früh auf die Welt gekommen, betrunkene Männer, geprügelte Frauen, große Plage und mancherlei Elend. Soviel hatte sich zugetragen, und doch eigentlich nichts.

Die Fouans, deren Besitzabtretung eine Zeitlang die Gemüter bewegt, lebten so still vor sich hin, daß man sie vergaß. Es war beim alten geblieben: Buteau verweigerte hartnäckig die Annahme seines Teiles und heiratete noch immer nicht die Lise. Hans hatte man einst nachgeredet, er halte es mit der Mutter des kleinen Julius; vielleicht hielt er es nicht mit ihr; doch warum besuchte er noch immer das Haus der Geschwister? Die Sache schien verdächtig. Zuweilen hätte es fast der Plauderstunde am Brunnen an Unterhaltungsstoff gefehlt, wenn nicht die Gegnerschaft von Celine Macqueron und Flora Lengaigne gewesen wäre, welche die Bécu unter dem Vorwande, sie zu versöhnen, aufeinander hetzte. In der ruhigsten Zeit traten dann zwei große Ereignisse ein: die nächsten Wahlen und die Lösung der Frage des oft beredeten Weges von Rognes nach Chateaudun. Das gab Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen; stundenlang verharrten die streitenden Weiber neben den angefüllten Wasserkrügen; eines Samstags Abends wären sie fast handgemein geworden.

Gerade am nächsten Tage frühstückte der Abgeordnete Herr von Chédeville in der Borderie. Er befand sich auf einer Rundreise in seinem Wahlbezirk behufs der bevorstehenden Neuwahlen; er behandelte Herrn Hourdequin wegen des Ansehens, das dieser seitens der Bauern im Kreise genoß, mit besonderer Auszeichnung, trotzdem er dank seines Titels eines offiziellen Kandidaten der Wiederwahl ziemlich sicher war. Er war nämlich einmal in Compiègne zu Gaste gewesen; das ganze Land nannte ihn »den Freund des Kaisers«, und das genügte; man wählte ihn, als habe er seinen Wohnsitz in den Tuilerien.

Dieser Herr von Ghedeville war ein einstiger »Löwe«, eine hervorragende Salongröße vom Hofe Ludwig-Philipps, für dessen Familie er im Verborgenen seines Herzens noch heute eine gewisse Anhänglichkeit bewahrte. Er hatte sich mit den Weibern zugrunde gerichtet und besaß nichts mehr als das Gut Chamade unweit Orgères, wohin er nur in der Wahlzeit den Fuß setzte. Der Ertrag dieses Gutes verringerte sich mit jedem Pachtvertrage; ihr Besitzer aber hatte sich in seinen alten Tagen auf die Politik geworfen und nährte allerhand unklare Pläne von Unternehmungen, in denen er sein verlorenes Vermögen zurückgewinnen könne. Er war hoch und schlank gewachsen, trug einen Schnürleib, färbte sich das Haar, sah noch sehr elegant aus und starrte mit seinem glühenden Blick jede Schürze an, die ihm über den Weg lief. Er sagte, daß er sehr bedeutende Reden über die Ackerbaufrage vorbereite.

Am vorhergehenden Tage hatte Herr Hourdequin einen heftigen Streit mit Jacqueline gehabt, die darauf bestanden, dem Frühstück beizuwohnen.

»Dein Abgeordneter, dein Abgeordneter! Meinst du, daß ich ihn auffresse? Also du schämst dich meiner?«

Doch er blieb standhaft, es wurden nur zwei Gedecke aufgelegt. Sie schmollte trotz des liebenswürdigen Benehmens des Herrn von Chédeville, der die Sache durchschaut hatte und unausgesetzt nach der Küche hinüberschielte, wohin sie sich in ihrer gekränkten Würde zurückgezogen hatte.

Das Frühstück ging zu Ende; nach der Eierspeise gab es eine Aigreforelle und gebratene Tauben.

»Uns bricht das Genick«, sagte der Abgeordnete, »diese Handelsfreiheit, für welche der Kaiser eine solche Vorliebe gefaßt hat. Zweifelsohne schien nach den Verträgen von 1861 alles aufs beste geordnet; man versprach sich Wunder. Heute aber machen sich die Folgen fühlbar; sehen Sie, wie alle Preise zurückgehen. Ich bin für das Protektorat; man muß uns gegen das Ausland schützen.«

Hourdequin lehnte leeren Blickes in seinem Stuhle und sprach langsam:

»Das Korn, das zu achtzehn Franken der Hektoliter verkauft wird, kommt dem Landmann auf sechzehn zu stehen. Eine weitere Preissenkung bedeutet den Untergang ... Und jedes Jahr, sagt man, vermehrt Amerika seine Getreideausfuhr. Man bedroht uns mit einer vollkommenen Überschwemmung des Marktes. Was soll dann aus uns werden? ... Sehen Sie, ich bin stets für den Fortschritt gewesen, für Wissenschaft und Freiheit. Aber ich beginne, schwankend zu werden, mein Ehrenwort! Nein, nein, wir können nicht verhungern, man soll uns schützen!«

Er machte sich wieder an seinen Taubenflügel, dabei setzte er hinzu:

»Sie wissen, daß Ihr Gegner, Herr Rochefontaine, der Besitzer der Baugewerke von Chateaudun, ein leidenschaftlicher Anhänger des Freihandels ist?«

Sie plauderten einen Augenblick von diesem Industriellen, einem gescheiten und tätigen Manne, der ein großes Vermögen besaß und zwölfhundert Arbeiter beschäftigte. Er war ursprünglich durchaus geneigt gewesen, im Sinne der Regierung zu wirken; doch als der Präfekt sich nicht dazu verstehen wollte, seine persönlichen Bestrebungen zu unterstützen, trat er als unabhängiger Kandidat auf. Aber er hatte keinerlei Aussichten; die Wähler erklärten ihn für einen Volksfeind, weil er nicht auf der Seite des Stärkeren stand.

»Weiß der Himmel!« rief Herr von Chédeville. »Er verlangt nur eines, nämlich, daß das Brot billig ist, damit er seinen Arbeitern keine hohen Löhne zu zahlen hat.«

Der Gutsbesitzer setzte die Bordeauxflasche, aus der er im Begriff gewesen sein Glas zu füllen, wieder auf den Tisch.

»Das ist das Furchtbare!« entgegnete er lebhaft. »Auf der einen Seite wir, die Bauern, die unser Getreide zu einem lohnenden Preis verkaufen müssen; und auf der andern die Industrie, welche die Preissenkung anstrebt, um die Arbeitslöhne zu vermindern. Das ist ein erbitterter Krieg; wie wird er enden, sagen Sie es mir?«

Das war in der Tat die wichtigste Frage der Gegenwart, der Widerstand, der den sozialen Körper erschüttert. Die Frage ging um ein Bedeutendes über die Fassungskraft des einstigen Löwen hinaus; er begnügte sich, mit einer ausweichenden Miene das Haupt zu schütteln.

Hourdequin füllte sein Glas und leerte es mit einem Zuge.

»Da gibt's keinen Ausweg ... Wenn der Bauer an seinem Korn verdient, hungert der Arbeiter; hat der Arbeiter zu leben, geht der Bauer zugrunde ... Also was? Ich weiß nichts; vernichten wir uns gegenseitig!«

Beide Ellbogen auf den Tisch gestützt, begann er in erregten Worten seinen Gedanken Ausdruck zu leihen. Seine geheime Verachtung dieses Grundbesitzers, der nicht selbst wirtschaftete, der gar nichts verstand und nichts wußte von dem Boden, der ihn nährte, verriet sich in einem gewissen spöttischen Klang seiner Sprache.

»Sie wollen Tatsachen für Ihre Reden in der Kammer ... Wohlan, zunächst ist es Ihre Schuld, wenn die Chamade verkommt. Der Pächter, den Sie da haben, läßt sich gehen, weil der Kontrakt abläuft und er Ihre Absicht, ihn zu steigern, vermutet. Man sieht Sie niemals, man macht sich einen guten Tag aus Ihnen und bestiehlt Sie; nichts ist natürlicher als das ... Und dann besteht noch ein einfacher Grund für Ihren Ruin: wir ruinieren uns alle, die Beauce erschöpft sich, jawohl, die fruchtbare Beauce, die Amme, die Mutter krankt!«

Und er fuhr fort. In seiner Jugend, erzählte er, war die Perche jenseits des Loir ein armes Land mit geringem Erträgnis, fast ohne Getreideanbau; und die Bewohner verdingten sich zur Erntezeit in Cloyes, in Chateaudun, in Bonneval. Heute gedeiht die Perche dank des fortwährenden Steigens der Löhne für die Feldarbeit und wird bald die Beauce überflügeln. Dazu kommt, daß sich dieser Bezirk durch die Viehzucht bereichert hat; denn er hat die Pferde, Ochsen und Schweine für die Märkte von Mondoubleau, Saint-Calais und Courtalain geliefert. Die Beauce hingegen lebt von ihren Schafen; als vor zwei Jahren der Milzbrand die Herden dezimierte, machte sie eine furchtbare Krise durch, und sie wäre vernichtet worden, hätte die Seuche angehalten.

Jetzt ging er auf seine persönlichen Verhältnisse über, berichtete von seinem dreißigjährigen Kampfe mit der Erde, aus dem er ärmer hervorgegangen, als er gewesen. Immer hatte es ihm an den erforderlichen Kapitalien gefehlt; er war außerstande gewesen, gewisse Felder so ausgiebig zu düngen, wie er es gewünscht hätte; nur die Anwendung von Mergel, den übrigens niemand außer ihm benützte, gestaltete sich billiger. Der in jeder Wirtschaft geschaffte Mist erwies sich als unzureichend an Dungkraft; und doch beschränkten sich alle Nachbarn auf seine Verwertung und spotteten des Besitzers der Borderie, wenn er Versuche mit chemischem Dünger machte, Versuche, die allerdings infolge der schlechten Beschaffenheit nur zu oft den Lachern Recht gaben. Als Koppelwirtschaft hatte er, seit die Kultur der Kunstwiesen um sich gegriffen, das im Lande gebräuchliche Dreijahrsystem ohne Brache annehmen müssen. Von den Maschinen errang sich eine einzige, die Dreschmaschine, allgemeine Geltung. Die Gewohnheit ist zu mächtig; und wenn selbst er als verständiger Mann und Fortschrittsfreund den Mut verloren, wie erst steht's mit den Bauern, diesen harten, jeder Neuerung feindlich gesinnten Köpfen?

Ein Bauer verhungert lieber, ehe es ihm einfällt, eine Handvoll Erde seines Ackers zu einem Chemiker zu tragen, damit dieser sie zerlege, ihm sage, wovon sie zuviel habe, wovon zu wenig, welchen Dung sie verlange und welche Kultur ihr ersprießlich sei. Nein, der Bauer nimmt nur immerfort den Boden, ohne daran zu denken, ihm auch zurückzugeben; er kennt nichts als den Mist seiner zwei Kühe und seines Pferdes, mit dem er geizt; alles andere überläßt er dem Zufall, streut seine Saat in das erste beste Feld und wütet gegen den Himmel, wenn sie nicht gedeiht. Wenn er endlich einmal etwas lernt und sich zu einer wissenschaftlichen und vernünftigen Wirtschaft aufrafft, kann der Ertrag sich verdoppeln. Bis dahin wird er in seiner Unwissenheit und seiner Starrköpfigkeit und in der Ermangelung jedes Betriebskapitals die Erde abtöten. So kommt es, daß die Beauce, der einstige Kornspeicher Frankreichs, dieses flache, trockene Land, das nichts hat als sein Getreide, sich nach und nach erschöpft, müde, sich ewig schröpfen zu lassen und ein dummes Volk zu ernähren.

»Ja, alles geht zum Teufel!« schrie Hourdequin auf. »Unsere Söhne werden sicher den Bankerott des Grundbesitzers erleben ... Wissen Sie denn, daß unsere Bauern, die früher Sou auf Sou gelegt, um ein Stück Feld zu erwerben, nach dem sie jahrelang Verlangen getragen, daß diese selben Bauern heut Staatspapiere kaufen, spanische, portugiesische Anleihen und selbst Mexikaner? Sie würden nicht hundert Franken riskieren, um Dung für ihren Acker zu beschaffen! Sie haben kein Vertrauen mehr, die Väter drehen sich wie müde Pferde in einem Göpel in dem engen Kreis des Althergebrachten; die Söhne und Töchter haben nur einen Traum: ihren Kühen Ade zu sagen, die Landarbeit abzuschütteln, um in die Städte zu ziehen ... Und das Böseste ist, daß der Unterricht, jene famose Bildung, wissen Sie, die alles retten sollte, zu dieser Auswanderung, dieser Verödung des Landes beiträgt, indem sie in den Kindern einen verkehrten Ehrgeiz, einen Durst nach bequemem Wohlleben weckt ... Da haben Sie Rognes! Dort unterrichtet ein gewisser Lequeu, ein Mensch, der sich vom Pflug geflüchtet hat und der einen verzehrenden Haß nährt gegen den Acker, den er von Haus aus zu bearbeiten bestimmt war. Wie kann dieser Jugendbildner seinen Schülern Liebe zu ihrem Berufe einflößen, wenn er sie täglich Wilde schilt, dumme Tölpel, die daheim bleiben sollten beim Misthaufen ... Und Abhilfe, mein Gott? Man müßte andere Schulen gründen, einen praktischen Unterricht einführen, landwirtschaftliche Lehrstühle errichten ... Dies, Herr Abgeordneter, ist eine Forderung, die ich stelle. Vertreten Sie die Sache; wenn's noch Zeit ist, sind vielleicht diese Fachschulen die einzige Rettung.«

Herr von Chedeville ward höchst unbehaglich zumute bei dieser auf ihn einstimmenden Masse von Tatsachen.

»Zweifelsohne, zweifelsohne«, warf er zerstreut hin.

Da gerade die Magd den Nachtisch brachte, wobei sie die Tür der Küche offen gelassen, bemerkte er das hübsche Gesicht von Jacqueline; er bog den Kopf hinüber, machte sich der liebenswürdigen Person bemerkbar und zwinkerte mit den Augen. Dann sprach er mit der flötenden Stimme jener Zeit, als er noch der unwiderstehliche Löwe gewesen:

»Aber der Kleinbesitz, Sie sprechen nicht vom Kleinbesitz, mein Herr?!«

Er brachte die allbekannten Dinge vor, erwähnte, daß im Jahre 1789 der Kleinbesitz geschaffen wurde, jene Maßnahme, die jeden Landbauer zum Grundbesitzer machte, ihm Gelegenheit gab, seinen Verstand und seine Kraft zur Bewirtschaftung der ihm gehörenden Parzelle zu verwenden. Das Gesetz begünstigte diese Einrichtung in der Hoffnung, dadurch den Ackerbau zu heben ... »Lassen Sie mich in Ruh' damit!« unterbrach ihn Hourdequin. »Zunächst bestand der Kleinbesitz fast in derselben Ausdehnung von 1789. Dann aber läßt sich über die Zerstückelung des Grund und Bodens sehr viel sagen, Gutes und Schlechtes.«

Wieder stützte er die Ellbogen auf den Tisch und erging sich beim Essen der Kirschen, deren Kerne er auf den Fußboden spie, in Einzelheiten.

In der Beauce machte der Kleinbesitz, der Besitz von weniger als zwanzig Hektar, achtzig Prozent des gesamten Grundbesitzes aus. Seit einiger Zeit erwarben fast alle Taglöhner, die auf den Höfen arbeiteten, kleine Stücke Land, Anteile der parzellierten Güter, die sie in ihren Mußestunden bebauten. Es war gewiß sehr heilsam, denn es band den Arbeiter an seine Scholle. Auch konnte man für diese Wirtschaft anführen, daß sie dem Mann des Feldes Würde und Selbstbewußtsein verlieh und ihn bildete. Endlich mußte zugegeben werden, daß der Boden sich ergiebiger erwies und seine Erträge an Güte gewannen, da der kleine Eigentümer mit äußerstem Kraftaufwand und größter Sorgfalt arbeitete. Doch wieviel Übelstände waren diesen Vorteilen gegenüberzustellen! Zunächst wurde das Mehrerträgnis nur erzielt dank einer übermäßigen Arbeitsleistung der ganzen Familie: Vater, Mutter, Kinder quälten sich bis zur Erschöpfung, um ihrem Stückchen Felde das tägliche Brot abzuringen; diese harte, undankbare Arbeit trug selbst Schuld an der Entvölkerung des Landes. Dann erheischte diese Zerstückelung des Bodens einen vermehrten Lastenverkehr auf den Straßen, worunter die Wege zu leiden hatten; die Kosten der Produktion wurden erhöht, und sehr viel Zeit ging verloren. Die Anwendung der Maschinen war untunlich auf diesen winzigen Parzellen; und schließlich waren sie auf das Dreijahrsystem angewiesen, eine Bewirtschaftung, die unbedingt verwerflich genannt werden muß, da es unlogisch ist, dem Boden zwei Getreidestände, Hafer und Korn, hintereinander zuzumuten. Kurz, der Kleinbesitz, dem man nach der Revolution das Wort geredet, um der Neubildung umfangreicher Güter zu begegnen, barg so ernste Gefahren, daß man bereits angefangen, die Wiedervereinigung der kleinen Parzellen zu begünstigen.

»Glauben Sie mir,« fuhr Hourdequin fort, »der Kampf zwischen Klein- und Großgrundbesitz beginnt von neuem und heftiger als je ... Die einen, wie ich, sind für den großen, weil er Hand in Hand geht mit der Wissenschaft und dem Fortschritt; weil er die immer allgemeinere Anwendung der Maschinen zur Tat macht und das Rollen großer Kapitalien ermöglicht ... Die anderen hingegen vertrauen nur der einzelnen Arbeitsleistung, sprechen dem Kleinbesitz das Wort, träumen von ich weiß nicht welcher Kleinkultur, wo jeder seinen Dünger selbst schafft, seinen Viertelmorgen selbst pflügt, seine Saaten mit eigener Hand, eine nach der andern, dem selbst gewählten Boden anvertraut und jede Pflanze einzeln unter einer Glasglocke, zieht! ... Welche von den beiden Parteien wird den Sieg davontragen? Hol' mich der Kuckuck, wenn ich eine Ahnung davon habe! Ich weiß eins, wie ich Ihnen schon sagte, daß die großen Besitzungen um mich herum zugrunde gehen und eine nach der andern in den Händen der Gerichtsvollstrecker zerkrümelt werden, daß also der Kleinbesitz unwiderlegbar Boden gewinnt. Ich kenne ferner in Rognes ein sehr merkwürdiges Beispiel: eine alte Frau, die aus weniger als einem Morgen soviel Gewinn herausschlägt, daß sie und ihr Mann ganz trefflich leben und sich sogar einige Genüsse verschaffen können. Ja, es ist Mutter Caca, wie man sie nennt, weil sie ihren Acker mit demselben Mist düngt, den die Chinesen benutzen sollen. Aber die Frau treibt eigentlich nur Gartenbau; ich kann mir Getreide nicht vorstellen auf kleinen Beeten wie die gelben Rüben. Wenn aber der Bauer, um zu leben, von allem bauen soll, was wird dann aus unseren Beauceronen, die nur Getreide bauen? ... Wir werden es ja erleben, wer recht behält, die Kleinen oder die Großen ...«

Der Gutsbesitzer unterbrach sich und rief:

»Wo bleibt der Kaffee? Bekommen wir den noch heute?«

Er zündete seine Pfeife an und sprach weiter: »Vorausgesetzt, daß man nicht beiden vor der Zeit den Garaus macht, was man zu tun im Begriff scheint. Lassen Sie sich das eine gesagt sein, Herr Abgeordneter, der Ackerbau siecht dahin und geht zugrunde, wenn man ihm nicht zu Hilfe kommt. Alles drückt auf ihn: die Steuer, der Wettbewerb des Auslandes, die fortgesetzte Steigerung der Arbeitslöhne, die Schwankung auf dem Geldmarkt, der seine Kapitalien der Industrie und den Finanzwerten zuwendet. O gewiß, man geizt nicht mit Versprechungen; jeder wirft damit herum, die Präfekten, die Minister, der Kaiser; doch es wächst Gras darüber, und nichts verwirklicht sich ... Wollen Sie die dürre Wahrheit hören? Ein Landmann, der sich heute behaupten will, setzt sein Geld zu oder das der anderen. Ich habe einige Sous hinter der Hand, da geht's noch an. Doch ich kenne Leute, die Geld zu fünf Prozent aufnehmen, während ihre Ländereien nur drei tragen; der Bankerott ist die unausbleibliche Folge dieses Tuns. Ein Bauer, der sich Geld borgt, ist verloren, er muß alles bis auf sein Hemd einbüßen. Noch in der letzten Woche hat man einen meiner Nachbarn, Vater, Mutter und vier Kinder auf die Straße gesetzt, nachdem die Männer des Gesetzes Vieh, Land und Wohnhaus aufgezehrt ... Und doch verspricht man uns seit Jahren die Errichtung einer landwirtschaftlichen Kreditanstalt, die einen annehmbaren Zinsfuß bieten soll. Ja, warten wir nur darauf! Unsere gegenwärtigen Zustände entmutigen selbst die tüchtigsten Arbeiter; sie überlegen sich's, ob sie ihre Familie vergrößern dürfen. Dank schön! Ein Esser mehr, ein Hungerleider, dem's mal leid tut, daß er geboren worden! Wenn das Brot fehlt, werden keine Kinder in die Welt gesetzt und das Land entvölkert!«

Herr von Chédeville langweilte sich herzlich; er lächelte gezwungen und murmelte:

»Sie sehen entschieden etwas schwarz.«

»Das ist wahr! Es gibt Tage, wo ich alles in die Luft sprengen möchte. Seit dreißig Jahren dauert diese Quälerei an ... Ich weiß nicht, warum ich mich eigentlich darauf versteift habe; ich hätte alles in Geld umsetzen und etwas anderes unternehmen sollen. Die Gewohnheit hält einen wohl; die Hoffnung, daß es besser werden müsse, und dann die Leidenschaft, warum es nicht eingestehen? Mutter Erde, wenn sie einen mal festhält, läßt nicht wieder los. Da, sehen Sie das da auf der Kommode! Es mag töricht scheinen, aber dies ist noch mein einziger Trost.«

Er deutete auf eine silberne Schale, die zum Schutz gegen die Fliegen mit einem Musselinnetz verhängt war. Es war ein Ehrenpreis, den er auf einer landwirtschaftlichen Ausstellung davongetragen; solche Anerkennungen schmeichelten seiner Eitelkeit und stählten seinen Mut.

Trotz der augenfälligen Ermüdung seines Gastes trank Hourdequin gemächlich den Kaffee. Bereits zum drittenmal hatte er sich Kognak in die Tasse geschüttet; da zog er seine Uhr und sprang empor:

»Teufel, zwei Uhr! Und ich habe eine Gemeinderatssitzung! ... Ja, es handelt sich um einen Straßenbau. Wir sind gern bereit, die Hälfte der Kosten zu bestreiten, doch wir möchten, daß der Staat den Rest decke.«

Froh, erlöst zu sein, erhob sich Herr von Chédeville rasch.

»Aber hören Sie, ich könnte Ihnen vielleicht nützlich sein; ich werde Ihnen die Unterstützung beschaffen ... Soll ich Sie in meinem Wagen nach Rognes führen, da Sie Eile haben?«

»Sehr gern!«

Der Gutsbesitzer ging hinaus, um den Wagen, der mitten im Hof geblieben, anspannen zu lassen. Als er zurückkam, war der Herr Abgeordnete verschwunden. Er fand ihn in der Küche. Der Löwe mußte die Tür geöffnet haben und stand jetzt lächelnd vor der überglücklichen Jacqueline, der er in so vertraulicher Weise Schmeicheleien sagte, daß ihre Gesichter sich fast berührten. Die beiden hatten einander verstanden und sagten es sich mit Blicken.

Während Herr von Chédeville seinen Wagen bestieg, hielt die Cognette ihren Herrn einen Augenblick zurück und flüsterte:

»Der ist liebenswürdiger als du; er findet nicht, daß man mich verstecken muß.«

Während das Gefährt zwischen den Getreidefeldern dahinrollte, kam Hourdequin wieder auf sein Sorgenkind, die Erde, zurück. Er stellte jetzt seinem Begleiter geschriebene Aufzeichnungen und Zahlen zur Verfügung, denn seit einigen Jahren führte er Buch. In der Beauce gab es nicht drei Gutsbesitzer, die ein gleiches taten; die Bauern zuckten sogar die Achseln, denn sie verstanden nicht, wozu das Geschreibsel dienen könne. Und doch gab allein die Buchführung ein Bild der Lage: sie zeigte an, bei welchen Erzeugnissen gewonnen, bei welchen verloren wurde; sie ergab ferner den Selbstkostenpreis und bestimmte infolgedessen den Verkaufspreis. Bei ihm hatte jeder Knecht, jedes Tier, jeder Acker, selbst jedes Werkzeug seine Seite mit den beiden Kolonnen Soll und Haben, so daß er sich jederzeit über das gute oder ungünstige Ergebnis seiner Arbeiten Rechenschaft ablegen konnte.

»Wenigstens«, rief der Gutsbesitzer mit seinem derben Lachen, »weiß ich, wie ich mich zugrunde richte.«

Aber er brach ab und fluchte zwischen den Zähnen. Seit einer Minute versuchte er zu unterscheiden, was eine Szene bedeute, die sich am Rande des Weges abspielte. Trotzdem es Sonntag war, hatte er in ein danebenliegendes Kleefeld eine neugebaute Wendemaschine beordert, die er kürzlich gekauft, und hatte den Auftrag gegeben, einen frischen Schnitt Klee umzulegen, den er raschmöglichst zu bergen wünschte. Der die Maschine bedienende Bursche aber, der in dem fremden Kutschierwagen nicht seinen Herrn vermutete, war im Begriffe, sich mit drei des Weges gekommenen Bauern über das Ding lustig zu machen.

»Ist das ein Gestell!« rief er ... »Das quietscht wie ein alter Flaschenzug! Der Bettel bricht das Gras entzwei und verstänkert es. Mein Wort, schon drei Schafe sind daran hingeworden.«

Die Bauern lachten und betrachteten die Maschine wie ein seltsames, böses Tier. Einer meinte:

»Das sind alles Erfindungen des Teufels gegen die armen Leut' ... Was sollen unsere Frauen anfangen, wenn man sie nicht mehr zum Heuen braucht?«

»Das ist den Herren verflucht egal«, hub der Knecht wieder an. Dann versetzte er der Maschine einen Fußtritt: »Hü, Geripp', quietsch doch!«

Hourdequin hatte kein Wort verloren. Rasch bog er den Kopf aus dem Wagen.

»Geh zum Hof heim, Zephyrin, und laß dir deinen Lohn auszahlen!« befahl er.

Der Bursche blieb verdutzt. Die drei Bauern lachten frech und gingen mit lauten Spottreden von dannen.

»Da haben Sie's gesehen«, wandte sich der Besitzer an Herrn von Chédeville ... »So weit sind die Menschen noch zurück; man sollte glauben, sie verbrennen sich die Finger an unseren verbesserten Werkzeugen. Dabei schimpfen sie mich Bürger, leisten mir weniger Arbeit als anderen, weil sie sagen, ich hätte Geld genug, um teurer zu zahlen. Meine Nachbarn unterstützen sie darin und behaupten, ich lehre die Leute im Lande schlecht arbeiten, und wenn's viele solche gäbe wie ich, könnten die Gutsbesitzer bald nicht mehr bestehen.«

Am Fuße des Abhanges fuhr die Kutsche auf der Chaussee Bazoches-le-Doyen in Rognes ein. Zur selben Zeit trat der Abbé Godard aus dem Laden Macquerons, wo er nach der Messe gefrühstückt hatte. Bei seinem Anblick wurde Herr von Chédeville an seine Wiederwahl erinnert.

»Wie ist es denn mit dem religiösen Sinn in dieser Gegend?« fragte er den Besitzer.

»In die Kirche rennen sie, aber es steckt nichts dahinter«, versetzte Hourdequin.

Er ließ vor der Schenke halten, wo der Wirt noch mit dem Geistlichen auf der Schwelle plauderte, und stellte seinen Schreiber vor, der in einem fettglänzenden Wams steckte. Doch Celine eilte in sehr sauberem Kattunkleide herbei und schob ihre Tochter Berta, den Stolz der Familie, vor sich her. Das junge Mädchen war einem Fräulein gleich in grau gestreifte Seide gekleidet. Das Dorf aber, das, von dem schönen Sonntagnachmittag eingeschläfert, eben noch tot geschienen, erwachte jetzt plötzlich, aufgeschreckt durch diesen außerordentlichen Besuch. Die Bauern traten unter ihre Türen; Kinder guckten hinter den Röcken der Mütter hervor. Besonders bei Lengaigne konnte man durch die Fenster eine große Bewegung wahrnehmen. Er streckte den Kopf hervor mit dem Rasiermesser in der Hand; Flora, die gerade für vier Sous Tabak abgewogen, ließ alles liegen und trat dicht an die Scheiben. Beide waren außer sich vor Erbitterung, daß der Herr Abgeordnete bei ihrem Gegner vorsprach. Nach und nach kamen die Leute näher; Gruppen bildeten sich auf der Straße; ganz Rognes von einem Ende zum andern kannte bereits das Ereignis.

»Herr Abgeordneter,« stotterte Macqueron sehr rot und verlegen, »die Ehre, die Sie mir erweisen ...«

Aber Herr von Chédeville vernahm nichts von dieser Anrede; er war damit beschäftigt, Berta zu mustern, deren blauumrandete Augen ihn keck anblickten. Die Mutter nannte das Alter der Kleinen, erzählte, wo sie ihre Studien gemacht, während das Fräulein selbst lächelnd den Herrn aufforderte, bei ihnen einzutreten, »wenn er die Gnade haben wolle«.

»Aber ohne Frage, mein schönes Kind!« rief er.

Während dieser Zeit hatte der Abbe sich Hourdequins bemächtigt und beschwor ihn, er möge doch den Gemeinderat bewegen, die nötigen Gelder zu bewilligen, damit Rognes sich endlich seinen eigenen Pfarrer halten könne. Alle sechs Monate pflegte er hierauf zurückzukommen. Beredt führte er die Gründe an: seine Arbeitsüberbürdung in Bazoches-le-Doyen, sein ewiger Hader mit dem Dorfe, dann das Interesse des Kultus.

»Sagen Sie nicht nein!« bat er lebhaft, als Hourdequin die Achsel zuckte. »Bringen Sie es wenigstens zur Sprache, ich werde auf die Antwort warten.«

In dem Augenblick, als Herr von Chédeville im Begriff stand, der Berta ins Haus zu folgen, stürzte er zu ihm hin.

»Verzeihung, Herr Abgeordneter! ... Die arme Kirche hier ist in einem solchen Zustand! ... Ich will sie Ihnen zeigen, Sie müssen mir Ausbesserungen erwirken; mich will man nicht anhören ... Kommen Sie, kommen Sie, bitte!« So bestürmte er den Löwen mit seiner gutmütigen Hartnäckigkeit.

Sehr gelangweilt, suchte der Abgeordnete Ausflüchte zu machen; doch Hourdequin, der von Macqueron erfahren, daß mehrere der Gemeinderäte ihn auf dem Schulzenamt erwarteten, rief ungeniert:

»So ist's recht, besichtigen Sie die Kirche ... Sie schlagen die Zeit tot, bis meine Sitzung beendet ist, und können mich dann wieder nach Hause fahren.«

Herr von Chédeville mußte dem Abbé folgen. Noch mehr Bauern sammelten sich in der Straße an; viele zogen hinter den beiden den Berg hinauf; alle hatten im Sinne, den Herrn Abgeordneten um etwas zu bitten.

Hourdequin und Macqueron trafen im Sitzungssaale des gegenüberliegenden Gemeindehauses drei Räte, Delhomme und zwei andere. Der ziemlich große Raum war weiß getüncht und enthielt klein anderes Mobiliar als einen langen Tisch aus weichem Holze und zwölf strohgeflochtene Sessel. Zwischen den beiden auf die Straße blickenden Fenstern befand sich ein in die Mauer eingelassener Schrank, in dem die Archive und allerhand Verwaltungsschriftstücke aufbewahrt wurden. An den Wänden stand auf hölzernen Regalen eine Anzahl leinener Löscheimer, das Geschenk eines Einwohners, mit denen man nicht wußte wohin, und die hier nutzlos herumlagen, da Rognes keine Feuerspritze besaß.

»Meine Herren,« begann; Hourdequin höflich, »verzeihen Sie, bitte, mein verspätetes Erscheinen, ich hatte Herrn von Chédeville zum Frühstück.«

Niemand antwortete; es war nicht zu entnehmen, ob sie diese Entschuldigung gelten ließen. Sie hatten durch die Fenster die Ankunft des Abgeordneten wahrgenommen und waren ihrerseits ebenfalls durch die bevorstehenden Wahlen aufgeregt. Aber es schien ihnen nicht zweckdienlich, zu früh eine Meinung zu äußern.

»Potz Blitz!« begann der Gutsbesitzer wieder. »Wenn wir nur fünf sind, können wir keinen Beschluß fassen.«

Glücklicherweise kam Lengaigne. Er hatte anfänglich die Absicht gehabt, der Sitzung nicht beizuwohnen; denn die Wegefrage interessierte ihn nicht, und er wünschte, durch sein Fernbleiben die Abstimmung zu vereiteln. Das Erscheinen des Abgeordneten jedoch bestimmte ihn: er ward neugierig, was es gebe.

»Gut, jetzt sind wir sechs und also beschlußfähig«, rief Hourdequin.

Mit finsterem, hochmütigem Blicke trat Lequeu ein, der das Amt des Sekretärs versah; er brachte die Tagesordnung: die Sitzung konnte eröffnet werden. Aber Delhomme plauderte mit seinem Nachbar, dem Hufschmiede Clou, einem dürren, schwarzen Menschen von hoher Gestalt. Sie schwiegen, als man auf sie aufmerksam wurde. Doch die anderen fingen den Namen des unabhängigen Kandidaten Rochefontaine aus ihrer Unterhaltung auf; sie wechselten einen kurzen Blick des Einverständnisses untereinander; dann fielen sie alle wie auf Kommando mit Spottreden, Achselzuckeln, Kopfschütteln über diesen Kandidaten her, der ihnen vollkommen unbekannt war. Sie waren für die Ordnung und Ruhe, für den Gehorsam gegen die Obrigkeit; das fördere das Geschäft. Glaube dieser Herr sich vielleicht stärker als die Regierung? Werde er das Korn wieder auf dreißig Franken den Hektoliter hinauftreiben? Es sei sehr keck, Programme zu versenden, mehr Butter als Brot zu versprechen, wenn man Land und Leuten so fern stehe! Sie gingen so weit, den Kandidaten einen Abenteurer, einen zweideutigen Patron zu nennen, der die Dörfer heimsuche, um sich ihre Stimmen anzueignen, wie er vielleicht ihr Geld nehmen werde, wenn's gehe.

Hourdequin hätte ihnen erklären können, daß Herr Rochefontaine ein Anhänger des Freihandels sei, der im Grunde die Ansichten des Kaisers teile. Aber er ließ es schweigend geschehen, wie Macqueron seinen bonapartistischen Feuereifer zum besten gab und Delhomme in seinem beschränkten, aber geraden Sinn dreinsprach; während Lengaigne, dem seine Stellung als Inhaber eines Tabakladens den Mund schloß, seine unbestimmten republikanischen Ansichten brummend in sich hinunterwürgte. Der Name des Herrn von Chédeville ward nicht ein einzigesmal genannt; doch alles, was gesprochen wurde, bezog sich auf ihn, huldigte seinem Titel eines offiziellen Kandidaten.

»Wie wär's, wenn wir anfingen?« mahnte der Vorsitzende.

Er hatte sich auf seinen Präsidentensitz niedergelassen, auf einen Stuhl mit etwas breiterem Rücken und mit Armlehnen. Nur der Schreiber nahm neben ihm Platz. Die vier Räte blieben stehen; zwei traten ans Fenster.

Lequeu überreichte Herrn Hourdequin ein Blatt Papier, flüsterte ihm etwas zu und verließ würdevoll das Gemach.

»Meine Herren,« begann der Präsident wieder, »hier ist ein Brief, den mir der Schulmeister soeben gegeben hat.«

Das Schreiben wurde verlesen. Es war ein sich auf Lequeus Leistungen berufendes Gesuch um eine Gehaltserhöhung von dreißig Franken jährlich. Die Gesichter der Versammelten verdüsterten sich; diese Leute waren so geizig mit dem Gelde der Gemeinde besonders zu Schulzwecken, als habe jeder von ihnen es aus seiner eigenen Tasche hervorziehen müssen. Es wurde nicht einmal besprochen; das Ansuchen ward ohne weiteres abgelehnt.

»Gut, gut, wir werden ihm sagen, er solle sich gedulden. Der junge Mann ist ungeduldig ... Gehen wir an unsere Wegfrage!«

»Entschuldigen Sie,« unterbrach ihn Macqueron, »ich möchte ein paar Worte betreffs der kirchlichen Angelegenheiten reden.«

Hourdequin war überrascht. Jetzt begriff er, warum der Abbé bei dem Schankwirte gefrühstückt hatte. Welcher Ehrgeiz trieb den Schreiber, sich so in den Vordergrund zu stellen? Macquerons Vorschlag teilte übrigens das Schicksal von des Schulmeisters Bitte um Zulage. Vergeblich machte er geltend, man sei reich genug, um sich einen eigenen Geistlichen zu halten, es sei schmählich, sich mit den Resten von Bazoches-le-Doyen zu begnügen: alle schüttelten den Kopf, fragten, ob die Messe vielleicht besser werde? Nein, nein! Sie wollten nichts davon hören. Man müsse das Pfarrhaus aufbessern, ein eigener Pfarrer komme zu teuer; jeden Sonntag eine halbe Stunde von dem andern, das genüge.

Verletzt von dem Vorgehen seines Schreibers, schloß der Vorsitzende die Besprechung:

»Wird nicht bewilligt, der Rat lehnt einstimmig ab. Und nun zu unserer Chaussee! ... Die Sache muß endlich erledigt werden ... Delhomme, seien Sie so gut, Herrn Lequeu zu rufen. Glaubt der Mensch, daß wir bis zum Abend über seinen Brief beraten?«

Lequeu, der im Treppenflur gewartet, trat mit ernstem Gesichte ein. Niemand gab ihm das Schicksal seines Gesuches bekannt; er blieb zugeknöpft und förmlich und verbiß stumm seinen Grimm: Diese Bauern, welch ein Gesindel! Er mußte aus dem Schranke den Plan der Straße holen und auf dem Tische ausbreiten.

Dem Gemeinderate war dieser Plan sehr wohl bekannt; denn seit Jahren trieb er sich im Saale herum. Doch traten nichtsdestoweniger alle Herren heran, lehnten die Ellbogen auf den Tisch und dachten wieder einmal über die Sache nach. Der Vorstand zählte die Vorteile auf, die Rognes aus der Anlage dieser Straße erwüchsen: ein mäßig ansteigender Fahrweg bis zur Kirche, zwei Meilen Wegkürzung gegenüber der alten Chaussee über Cloyes, und schließlich würde die Gemeinde nur drei Kilometer zu bestreiten haben, da ihre Nachbarn von Blanchy bereits die andere Hälfte der Strecke bis zur Verzweigung mit der Chaussee Chateaudun-Orleans bewilligt hatten.

Man hörte dem Sprecher zu; die Augen blieben auf das Papier geheftet; niemand öffnete den Mund. Bisher hatte die Landenteignung die Ausführung dieses Planes vereitelt. Jeder sah darin eine Gelegenheit, ein Vermögen zu erwerben, war besorgt, ob die neue Straße seinen Acker streife, ob er der Gemeinde ein Stück Feld für hundert Franken die Quadratrute verkaufen könne. Wenn der Weg nicht über seinen Besitz lief, warum ihn dann bewilligen? Damit andere sich etwa daran bereichern? Was kümmert es ihn, daß die Entfernung nach Chateaudun verringert wird? Sein Pferd muß einfach mehr arbeiten.

Diese persönlichen Interessen waren so allein maßgebend und waren so bekannt, daß Hourdequin nicht nötig hatte., seine Kollegen zum Sprechen zu bewegen, um ihre Meinungen kennen zu lernen. Er selbst wünschte sehnlich die neue Verbindung, weil sie an seinem Hof vorüberführte und mehrere seiner Felder berührte. Ebenso waren Delhomme und Macqueron für die Sache eingenommen; denn ein Teil ihres Besitzes streckte sich längs der zu erbauenden Linie hin. Das machte drei. Doch weder Clou noch der andere Rat waren bei der Lösung der Frage interessiert; und Lengaigne gar war dem Plane durchaus feindlich gesinnt, weil er selbst zunächst nichts daran gewinnen konnte, und weil es ihn andererseits im höchsten Grade verdroß, daß sein Gegner, der Schreiber, daraus einen Vorteil ziehen solle. Wenn Clou und der andere dagegen stimmten, war man drei gegen drei. Hourdequin wurde besorgt. Endlich begann die Besprechung.

»Wozu dient es? Wozu dient es?« wiederholte Lengaigne. »Wir haben ja einen Weg! Es ist rein, um das Vergnügen zu haben, Geld auszugeben, es aus der Tasche von Hans zu nehmen und in die Tasche von Peter zu tun. Übrigens hast du ja versprochen, dein Land umsonst herzugeben ...«

Das war auf Macqueron gemünzt. Diesem aber tat schon lange sein einstiger Anfall von Freigebigkeit leid; er leugnete keck:

»Ich? Ich hab' nichts versprochen ... Wer hat dir das gesagt?«

»Wer? Aber du, mein Gott! ... Und vor Zeugen! Richtig, Herr Lequeu war dabei, er kann's bestätigen. Nicht wahr, Herr Lequeu?«

Der Schulmeister barst vor Zorn, daß man ihm die Beantwortung seiner Eingabe solange vorenthielt. Er machte eine wütende Gebärde der Verachtung: was gingen ihre erbärmlichen Streitereien ihn an?

»Wahrhaftig,« fuhr Lengaigne fort, »wenn es keine Ehrlichkeit mehr auf der Welt gibt, da ist's schon gescheiter, in Urwäldern zu leben ... Nein, und noch einmal nein! Ich will nichts von eurer Chaussee wissen!«

Als er gewahrte, daß die Sache sich zum Üblen zu wenden drohte, beeilte sich der Präsident einzugreifen:

»Das sind Redereien. Wir haben hier nicht auf persönliche Zwistigkeiten einzugehen ... Das Gemeinwohl allein muß unsere Entschließungen leiten.«

»Ganz sicher«, erklärte Delhomme mit Ernst. »Der neue Weg wird der ganzen Gemeinde große Dienste leisten ... Allein wir müssen wissen, woran wir sind. Der Präfekt sagt, immer: ›Bewilligt eine Summe, dann werden wir sehen, was die Regierung für euch tun kann.‹ Wenn sie nichts tut, wozu sollen wir dann unsere Zeit mit der Beratung verlieren?«

Jetzt meinte Hourdequin mit der großen Neuigkeit herausrücken zu sollen, die er zurückgehalten hatte.

»Was das betrifft, meine Herren, so erkläre ich Ihnen., daß Herr von Chedeville sich verpflichtet, von der Regierung eine Unterstützung zu erlangen, welche die Hälfte der Kosten deckt ... Sie wissen, er ist der Freund des Kaisers. Er hat nur nötig, beim Nachtisch die Sache zur Sprache zu bringen ...«

Auf allen Gesichtern malte sich eine fromme Glückseligkeit, als sei das Allerheiligste vorübergezogen; selbst Lengaigne schien wankend zu werden. Die Wiederwahl des Abgeordneten war auf alle Fälle gesichert: der Freund des Kaisers, der Mann, der an der Quelle der Ämter und Gelder saß, dieser gekannte, ehrenwerte, mächtige Herr, das war der Rechte!«

Sie nickten stumm mit den Köpfen: die Sache ergab sich von selbst, das Reden war überflüssig.

Aber Hourdequin beunruhigte die stumme Haltung von Clou. Er erhob sich, warf einen Blick aus dem Fenster, gewahrte den Feldhüter, befahl ihm, zum alten Loiseau zu eilen und ihn tot oder lebend zur Stelle zu schaffen. Dieser Loiseau war ein tauber Bauer, den man aus Spaß zum Mitgliede des Gemeinderates ernannt hatte, wo er sich übrigens nie blicken ließ, da ihm das den Kopf verwirrte, wie er sich ausdrückte. Sein Sohn arbeitete in der Borderie; darum war der Alte dem Vorsitzenden vollkommen ergeben. Als er erschienen, begnügte sich Hourdequin denn auch, ihm ins Ohr zu schreien, es handle sich darum, den neuen Weg zu bewilligen.

Schon schrieb jeder seinen Stimmzettel, das Gesicht bis aufs Papier herabgebückt, die Ellbogen gespreizt, damit der Nachbar nichts lesen könne. Hierauf wurden die Stimmzettel in eine hölzerne Büchse getan, die einem Opferstock ähnlich sah. Es stellte sich eine prächtige Mehrheit heraus; sechs Ja und nur ein einziges Nein, die Stimme Lengaignes. Clou hatte also mit Ja gestimmt. Die Sitzung ward aufgehoben, nachdem ein jeder seinen Namen unter das vom Schulmeister vorher abgefaßte Protokoll gesetzt, in dem das Ergebnis der Abstimmung ausgefüllt worden. Schweren Schrittes, ohne Gruß, ohne Händedruck entfernten sich die Gemeinderäte.

»Ach, ich vergaß,« rief Hourdequin, auf der Treppe umkehrend, dem immer noch auf Antwort wartenden Lequeu zu, »Ihr Gesuch ist zurückgewiesen ... Der Rat findet, daß schon genug Geld für die Schule verausgabt wird.«

»Blöde Bestien!« schrie der junge Mann auf, als er sich allein befand. »In den Schweinestall gehört diese Bande!«

Die Sitzung hatte zwei Stunden gewährt. Hourdequin fand vor dem Gemeindehaus Herrn von Chedeville, der eben erst von einem Rundgang durchs Dorf zurückkehrte. Zunächst hatte ihm der Pfarrer die Besichtigung aller Schäden seiner Kirche aufgenötigt: das verwitterte Dach, die zerbrochenen Fensterscheiben, die fleckigen Wandmalereien. Nachdem der Löwe sich endlich in der Sakristei losgerissen, wo ihm der Abbé die Unentbehrlichkeit eines neuen Farbanstrichs vorgeführt, machten sich die Dorfbewohner an den einflußreichen Mann heran, nahmen ihn einer nach dem andern in Beschlag, um eine Beschwerde vorzutragen oder eine Gunst zu erbitten. Ein Bauer führte ihn zum Gemeindeteich und klagte, daß dieses nützliche Gewässer infolge Geldmangels vernachlässigt werde; ein zweiter verlangte ein bedecktes Waschhaus an der Aigre an einer von ihm bezeichneten Stelle; ein dritter erbat die Erweiterung des Fahrweges vor seinem Hause, damit er sein Fuhrwerk besser wenden könne, und eine alte Frau zog den Herrn Abgeordneten in ihre Wohnung, um ihm dort ihre geschwollenen Beine zu zeigen, und fragte, ob es in Paris kein Mittel dafür gebe. Vollständig betäubt und erschöpft, lächelte er zu allem, spielte den Mann, der niemandem etwas abschlagen kann, und versprach alles, was man verlangte. Ein braver Herr, der nicht stolz tat mit dem armen Volke.

»Nun, fahren wir?« fragte Hourdequin. »Man erwartet mich auf dem Hof.«

Aber Celine und ihre Tochter Berta erschienen in diesem Augenblick auf der Schwelle des Hauses und baten Herrn von Chédeville, doch wenigstens einen Augenblick bei ihnen einzutreten. Er atmete auf, wie er wieder in die hellen, blauumrandeten Augen des jungen Mädchens sah; mit Vergnügen hätte er ihre Einladung angenommen. Doch der Gutsbesitzer wollte es anders.

»Nein, nein!« versicherte er. »Wir haben keine Zeit; ein andermal.

Damit nötigte er den verdutzt dreinschauenden Löwen in das Wägelchen, rief dem Abbé zu, die Kirchenfrage sei vertagt; der Kutscher schwang die Peitsche, und der Wagen rollte an den beglückten Gesichtern der gesamten Bevölkerung vorüber zum Dorfe hinaus. Ganz allein schlecht gelaunt unter all den zufriedenen Menschen, begann der Pfarrer die drei Kilometer nach Bazoches-le-Doyen heimzugehen.

Vierzehn Tage später wurde Herr von Chédeville mit einer großen Mehrheit wiedergewählt; gegen Ende August hatte er sein Versprechen eingelöst: die Unterstützung für den neuen Weg war der Gemeinde bewilligt. Die Arbeiten begannen ohne Verzug.

Am Abend des ersten Spatenstiches stand die hagere Celine am Brunnen und hörte der Bécu zu, die mit den Händen unter der Schürze unaufhörlich auf sie einredete. Seit einer Woche regte das Ereignis die wasserschöpfenden Frauen auf, man sprach von nichts anderem mehr wie von dem Gelde, das die einen bekommen, oder von der Gift und Galle speienden Wut der anderen. Die Bécu hinterbrachte der Macqueron jeden Tag, was die Lengaigne über sie geredet hatte; sie tat's nicht, um die beiden gegeneinander aufzuhetzen, im Gegenteil, damit sie sich aussprächen, das einzige Mittel, sich zu verständigen. Mit leeren Händen standen die Frauen daneben, die Krüge an ihrer Seite.

»Hernach hat sie gesagt, es sei zwischen dem Schreiber und dem Schulzen eine abgekartete Sache, um Geld zu schneiden; und euer Mann hat sein Wort gebrochen, hat sie gesagt.«

Während die Bécu so sprach, trat die feiste Flora mit dem Krug in der Hand aus ihrer Haustür und schlürfte heran. Sofort fiel Celine mit den Händen an den Hüften in ihrer bissigen Art über sie her, übergoß sie mit einem Strom von Schmähreden, warf ihr das liederliche Weibsbild, ihre Tochter, ins Gesicht, und beschuldigte sie sogar, es mit den Gästen in ihrer Schenke zu halten.

Die andere antwortete in ihrer weinerlichen Art:

»Ist das ein Schlampen! Ist das ein Fetzen!«

Die Frau des Feldhüters warf sich zwischen die beiden und wollte sie zwingen, sich zu küssen; da erhitzten sie sich noch mehr, so daß sie einander beinahe in die Haare gerieten. Dann rief die Bécu:

»Was ich sagen wollte, wißt ihr, daß die Schwestern Mouche fünfhundert Franken bekommen?«

»Nicht möglich!«

Auf der Stelle war der Streit vergessen. Alle Weiber drängten sich zwischen den Wasserkrügen heran und erörterten den Fall. Der neue Weg streifte das Gebiet der Mädchen und schnitt fünfhundert Meter von ihm ab: zu zwanzig Sous den Meter, das machte in der Tat fünfhundert Franken; außerdem wurde der übrigbleibende Acker durch die Nähe der Chaussee wertvoller. War das ein Glück!

»Da ist also die Lise mit ihrem Kinde noch eine gute Partie geworden«, meinte Flora. »Dieser Tölpel, der Korporal, hat eine gute Nase gehabt.«

»Falls nicht Buteau in den Platz einrückt«, versetzte Celine boshaft ... »Sein Anteil gewinnt auch ein nettes Sümmchen durch die neue Straße.«

»Pst! ... still!« machte die Bécu und stieß sie mit dem Ellbogen an.

Lise kam frohen Sinnes mit ihrem Krug daher. Das Geschwätz verstummte.


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