Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Fouan stieg das Talgehänge hinab. Sein Zorn war plötzlich verschwunden. Unten am Wege hemmte er seinen Schritt; er blickte stumpf drein, als begreife er nicht, wie er sich so plötzlich auf der Straße befand, ohne zu wissen, wohin er gehen wolle. Es schlug drei Uhr am Kirchturm, ein feuchter Wind fegte eisig durch den grauen Novembernachmittag. Ihn fror, denn er hatte nicht einmal seinen Hut genommen; die Sache war zu schnell gekommen. Glücklicherweise hatte er seinen Stock. Eine Weile wandelte er nach Cloyes zu hinauf; dann fragte er sich, warum er eigentlich dorthin gehe, und er trat wieder in Rognes ein und schleppte sich mit seinem gewohnten müden Schritt durchs Dorf.

Vor Macquerons Kneipe kam ihm der Wunsch, ein Gläschen zu trinken; er hatte nicht einen Sou; und ihn faßte eine Scheu, sich zu zeigen; denn vielleicht mochte man schon wissen, was ihm widerfahren. Lengaigne stand in der Tür; es schien dem Alten, der Rasierer verfolge ihn mit jenem mißtrauischen Seitenblick, wie man den Landstreichern nachschaut. Lequeu sah hinter einem Fenster der Schule ihn an, ohne zu grüßen. Das war erklärlich; er ward von neuem von allen mißachtet, denn er besaß wieder nichts, war wiederum ausgeplündert, und diesmal bis aufs Hemd.

Bei der Aigre lehnte sich Fouan einen Augenblick an das Geländer der Brücke. Mit Schreck dachte er daran, daß es bald Nacht sei. Wo sollte er schlafen? Er hatte kein Obdach. Der Hund Bécus lief vorüber; er beneidete das Tier, denn es hatte sein Stroh und seine Hütte, wo es sich niederstrecken konnte. Er grübelte, wohin? Sein verrauchter Zorn ließ eine müde Schlaffheit in ihm zurück; die Wimpern fielen ihm zu; er versuchte sich eines gedeckten, gegen die Kälte geschützten Winkels zu erinnern. Seine Gedanken verwirrten sich; wie in einem Traume zog das ganze Land an seinem Geiste vorüber, und alles war nackt und kahl, nirgends ein Unterschlupf. Doch er raffte sich auf und schüttelte gewaltsam die Schwere von sich ab. Er durfte sich nicht so der Verzweiflung hingeben. Man werde einen Mann von seinem Alter nicht auf der Straße umkommen lassen.

Mechanisch ging er über die Brücke; jetzt stand er vor der kleinen Farm Delhommes. Sobald er sich dessen bewußt ward, schlich er zur Seite und drückte sich hinter das Haus, damit man ihn nicht sehe. An der Wand des Kuhstalles blieb er stehen; er vernahm die Stimme seiner Tochter Fanny. Hatte er denn den Gedanken gehabt, zu ihr zurückzukehren? Er selbst hätte es nicht zu sagen gewußt, seine Füße hatten ihn unbewußt hierher getragen. Jetzt ward das Innere der Wohnung vor ihm lebendig, als sei er hineingetreten; er sah die Küche zur linken Hand, sah seine Kammer im Hintergrund des Heubodens. Sein einstiger Groll war ganz geschwunden; eine Art wehmütiger Rührung faßte ihn; er wäre zusammengebrochen, wenn ihn die Mauer nicht aufrecht gehalten. Lange Zeit lehnte er so an dem Hause. Fanny sprach immer noch im Stall, ohne daß er die Worte unterscheiden konnte. Vielleicht brachte dies verworrene Stimmengeräusch seine Gemütsbewegung hervor. Die Frau mußte eine Magd zurechtweisen, ihre Stimme hob sich; Fouan hörte, wie Fanny trockenen und harten Tones, ohne Schimpfworte zu gebrauchen, dem Mädchen so verletzende Dinge sagte, daß jene zu weinen anhub. Auch er litt dabei; seine Rührung schwand; er richtete trotzig den Kopf auf; denn ihm fiel ein, wenn er jetzt die Tür öffnete, werde seine Tochter ihn mit dieser häßlichen Stimme empfangen. Er meinte zu hören, wie sie sagte: »Papa wird uns auf den Knien bitten, ihn wieder aufzunehmen«, jenes Wort, das für immer alle Bande zwischen ihnen zerrissen. Nein, nein, lieber in einem Graben schlafen, lieber Hungers sterben, als sie mit ihrem Stolz triumphieren sehen. Der Alte hob den müden Rücken von der Wand ab und schleppte sich weiter.

Um nicht wieder die Chaussee zu passieren, weil er meinte, alle verfolgten ihn mit den Blicken, ging er hinter der Brücke stromaufwärts das rechte Ufer der Aigre entlang; bald war er bei den Weingärten. Sein Gedanke mochte sein, mit Umgehung des Dorfes die Ebene zu erreichen. Doch unbewußt kam er am Schloß vorüber; seine Füße mochten ihn hierher getragen haben mit jenem Instinkt, der alle Pferde in die Ställe zurückführt, wo sie gefüttert worden. Das Ersteigen der Berge hatte ihn erschöpft, er setzte sich schwer atmend abseits auf einen Stein und überlegte. Wenn er zu Jesus hineinginge und ihm sagte: »Ich will mich an die Gerichte wenden, hilf mir gegen Buteau,« der Bursche würde ihm mit offenem Hintern empfangen, und man wäre die halbe Nacht lustig und guter Dinge. Von dem Winkel, wo der Alte saß, roch er irgendeine Schmauserei, irgend so ein Festessen, wie es der Wilderer zuweilen veranstaltete, und wobei man von früh bis spät tafelte. Sein bereits leerer Magen zog ihn näher an das Gemäuer heran; er erkannte die Stimme von Canon und atmete deutlich den Geruch von roten Bohnen, die Dreckbatzen so ausgezeichnet zu dämpfen verstand, sobald Jesus die Rückkehr seines Freundes mit einem Mahle feiern wollte. Warum sollte er nicht eintreten, mit den beiden Strolchen essen und trinken und sich's wohl sein lassen? Er hörte sie schwatzen; sie hatten's so recht warm dort drinnen und schienen so prächtig betrunken. Die Versuchung ward zu mächtig; schon hob der alte Mann die Hand, um die Tür zu öffnen; da schrillte das durchdringende Lachen von Dreckbatzen an sein Ohr. Ihm sank aller Mut. Dies Mädchen flößte ihm eine schauerliche Furcht ein; er sah immer wieder ihre hagere Gestalt im Hemd sich wie eine Natter zu ihm hinanschleichen, sich auf ihn werfen, ihn durchsuchen, betasten, als wolle sie ihn auffressen. Was würde es ihm helfen, wenn der Vater ihm behilflich wäre, sein Geld wiederzuerlangen? Die Tochter war da, es ihm wieder zu stehlen. Plötzlich öffnete sich die Tür; das Mädchen mußte jemand gewittert haben und kam, einen Blick hinauszuwerfen. Fouan hatte gerade noch Zeit, sich hinter das Gestrüpp zu werfen; er sah ihre grünen Augen durch den dunkelnden Abend blitzen; schnell suchte er das Weite.

In der Ebene fühlte er sich mit einem Male leicht, erschien sich wie gerettet vor den Menschen, war glücklich allein zu sein, einsam zu sterben. Lange Zeit schritt er aufs Geratewohl dahin und kehrte wieder um, planlos, ziellos. Es war finster geworden; der kalte Sturm peitschte ihn: zuweilen, wenn ein besonders starker Windstoß daherfuhr, mußte er, nach Luft ringend, dem Sturm den Rücken zukehren; sein spärliches weißes Haar flatterte auf dem nackten Kopf. Es schlug sechs Uhr; alle aßen jetzt in Rognes; er fühlte eine solche Schwäche im Magen, eine solche Mattigkeit in den Beinen, daß er noch langsamer gehen mußte. Noch einmal entfernte er sich in der Richtung zur Borderie hin, bog dann plötzlich ab und stand unvermutet wieder am Rande des Aigretales. Einem wilden Wirbelsturme folgte ein Platzregen; dicht und schneidend kalt rauschte es herab. Der Alte ward durchnäßt; er ging wieder ein Stück; ein zweites und drittes Regenschauer klatschte ihm auf den Kopf. Ohne zu wissen wie, stand er jetzt auf dem Kirchplatze vor dem alten Stammhaus der Fouans, das Franziska und Hans gegenwärtig bewohnten. Doch nein! Er konnte dort keinen Schutz erbitten; sie hatten ihm ja auch die Tür gewiesen. Er stahl sich nebenan bis zur Tür der Buteau hinan und spähte nach der Küche hinüber, aus welcher ein Geruch von Kohlsuppe hervordrang. Sein zitternder armer Leib, das leibliche Bedürfnis zu essen, sich zu wärmen, drängten ihn, sich demütig zu unterwerfen. Aber zwischen dem Geräusch der kauenden Kinnbacken tönten ein paar Worte bis zu ihm hin und hielten ihn auf.

»Und wenn der Vater nicht wiederkäme?« fragte Lise.

»Laß gut sein,« antwortete Buteau, »er hält zu viel aufs Essen und Trinken; sobald er Hunger hat, kommt er.«

Leise schlich Fouan abseits; er wollte nicht, daß man ihn an dieser Tür überrasche wie einen geprügelten Hund, der zur Mahlzeit heimkehrt. Er schämte sich zu sehr; mit wildem Grimm nahm er sich vor, in irgendeinem Winkel zu sterben. Man solle sehen, ob er soviel aufs Essen und Trinken hält! Er wankte wieder das Gehänge hinab; auf einer gefällten Ulme, die vor der Schmiede Clous im Grase lag, ließ er sich nieder. Seine Füße trugen ihn nicht weiter, er blieb in der öden Finsternis des Weges dort sitzen, unbemerkt und einsam; denn die Spinnabende hatten angefangen, alle Häuser waren geschlossen wegen des schlechten Wetters, nicht eine Seele zeigte sich draußen. Der Regen stürzte jetzt scheitelrecht herab, ein ununterbrochener Guß, der den Wind erstickte. Fouan fühlte nicht die Kraft, sich zu erheben, um einen Unterschlupf zu suchen, das Dach eines Schuppens oder ein Loch in einem Schober. Seinen Stock zwischen den Knien, saß er unbeweglich da, wie verdummt von all dem Elend; und der Regen wusch seinen nackten Kopf. Er überlegte nicht einmal mehr; es war einmal so: wenn man keine Kinder hat, kein Haus und keinen Hof, nichts, so hungert man eben und bleibt im Freien. Es schlug neun Uhr, dann zehn. Der Regen nahm immer mehr zu und zermürbte ihm die alten Knochen. Jetzt wurden Laternen sichtbar und huschten vorüber: Die Leute gingen von den Abendplaudereien heim. Der Alte erkannte die Große, die vermutlich von Delhomme kam, wo sie ihr Talglicht erspart. Der Anblick der Schwester raffte ihn plötzlich aus seiner Stumpfheit auf; –mit einer letzten Anstrengung erhob er sich, daß alle seine Glieder krachten und knickten, und folgte ihrer Laterne. Er konnte sie nicht einholen; als er bei ihrem Hause anlangte, schloß sie gerade ihre Tür. Er zögerte mutlos; endlich klopfte er; er war zu unglücklich.

Er traf es schlecht, denn die Große war in der bösesten Laune infolge einer unangenehmen Begebenheit der letzten Woche. Als sie sich eines Abends mit ihrem Enkel Hilarion allein befunden, war ihr der Gedanke gekommen, ihn noch Holz spalten zu lassen, bevor man sich schlafen legte. Er war etwas lässig bei dieser späten Arbeit, und im Hintergrund des Holzstalles überhäufte sie ihn mit Schmähungen. Bisher hatte der riesenstarke Bursche in seiner tierischen Stumpfheit alles über sich ergehen lassen, ohne daß er nur gewagt, seine Großmutter anzublicken; nur seit einigen Tagen blitzte es zuweilen unheimlich auf in seinen Augen, wenn sie ihn zu übermäßig quälte. Um ihn anzufeuern, hieb sie ihm mit ihrem Stecken über den Nacken. Er ließ das Beil aus der Hand gleiten und starrte die Alte an. Diese Haltung brachte sie außer sich; sie hob von neuem ihren Stock, prügelte unbarmherzig auf den Burschen los und traf seinen Rücken, seine Schenkel und Beine. Aber plötzlich warf er sich auf sie. Die Große hielt sich für verloren; sie meinte, er wolle sie erwürgen; doch es war etwas anderes. Den Narren hatte ein bestialischer Trieb gepackt; er vergaß das Alter, die verwandtschaftlichen Bande, er sah nicht den knochendürren Leib der Neunundachtzigjährigen; mehr Tier als Mensch hielt er sie gepackt und versuchte, ihrer Herr zu werden. Aber auch sie hatte stählerne Muskeln, sie verteidigte sich mannhaft, kratzte, schlug mit den Fäusten; und wie die Wildheit ihres entmenschten Herzens immer mehr zunahm, erfaßte sie plötzlich die Hacke und schwang sie mit wuchtigem Hieb; das Eisen sauste herab und spaltete den Schädel des Unholds. Die Große rief die Nachbarn herbei, erzählte den Vorfall. Hilarion starb am nächsten Tage. Das Gericht leitete eine Untersuchung ein, dann kamen das Begräbnis und allerhand Scherereien. Die Alte war erbittert gegen die Undankbarkeit der Welt und schwor sich heilig und teuer, nie mehr einem Mitglied der Familie den geringsten Dienst zu leisten.

Dreimal klopfte Fouan; er tat's so zaghaft, daß die Große nichts hörte. Endlich kam sie:

»Wer ist da?«

»Ich bin's.«

»Wer ich?«

»Ich, dein Bruder.«

Zweifelsohne hatte sie sofort die Stimme Fouans erkannt, doch machte es ihr Vergnügen, ihn länger warten zu lassen. Nach einer Pause fragte sie wieder:

»Was willst du?«

Er antwortete nicht, ein heftiges Zittern schüttelte ihn. Da riß sie die Tür auf. Aber wie er jetzt in den Flur treten wollte, versperrte sie ihm mit ihren mageren Armen den Weg und ließ ihn in dem strömenden Regen stehen, der immer noch so kalt und traurig vom Himmel herniederrieselte.

»Ich weiß, was du willst. Man hat uns die Sache in der Spinnstube erzählt ... Du bist also so recht dumm gewesen und hast nicht einmal verstanden, deine heimlichen Ersparnisse festzuhalten? Ich soll dich aufnehmen, wie?«

Er entschuldigte sich und brachte stotternd einige Erklärungen hervor; sie aber hob die Stimme:

»Wenn ich dich nicht gewarnt hätte! Aber ich hab' dir hundertmal wiederholt, man ist feig und dumm, wenn man seine Habe aus der Hand gibt! ... Jetzt ist's gekommen, wie ich's vorhergesagt; deine Kinder haben dich hinausgeworfen; wie ein Vagabund streichst du nachts über die Straße, wie ein Bettler, der nicht einmal einen Stein sein eigen nennt, auf den er sein Haupt legen kann.«

Er faltete die Hände, weinte und versuchte, sie beiseite zu schieben, den Eintritt zu erzwingen. Sie gab nicht nach, sie rief noch heftiger:

»Nein, nein! Geh', bitt' die um ein Nachtlager, denen zuliebe du alles hergegeben. Ich bin dir nichts schuldig. Die Familie würde mir noch nachsagen, ich mischte mich in ihre Angelegenheiten ... Du hast deine Habe hergegeben, das verzeih' ich dir nicht!«

Den dürren Vogelhals emporreckend, blitzte sie ihn noch ein letztesmal mit ihren bösen Geieraugen an; dann warf sie ihm die Tür vor der Nase zu.

»Dir geschieht recht, krepier' auf der Straße!«

Fouan stand ohne Bewegung vor dieser unbarmherzig geschlossenen Tür, während der Regen immer noch mit seinem eintönigen Geräusch zur Erde fiel. Endlich wandte er sich ab und verschwand in dem tintenschwarzen Dunkel der Nacht.

Niemals vermochte er sich recht zu erinnern, wohin er gegangen. Seine Füße glitten aus in den Wasserlachen am Boden; er tastete mit den Händen, um nicht an die Mauern und Bäume zu rennen. Er hörte auf zu denken, alles verschwamm vor seinem Geiste; dies Dorf, wo er jeden Stein kannte, erschien ihm wie ein unbekannter, schreckhafter Ort, darin er fremd und verloren war und unvermögend, sich zurechtzufinden. Er bog nach rechts ab; denn er fürchtete, er könne dort in Löcher fallen; dann irrte er wieder zur Linken hinüber und blieb am ganzen Leibe bebend stehen, als drohe ihm Gefahr auf allen Seiten. Er kam an einen Zaun, schritt ihn entlang und gelangte zu einer kleinen Tür, welche dem Druck seiner Hand nachgab. Er trat dort hinein; der Boden senkte sich plötzlich unter seinen Füßen, er rollte in eine Vertiefung. Hier war es gut sein; der Regen drang nicht herein, es war warm. Doch ein plötzliches Grunzen erschreckte den alten Mann –er lag neben einem Schweine. Das aus seinem Schlummer aufgestörte Tier meinte, man habe ihm Nahrung zugeworfen; es bohrte seinen Rüssel dem Unglücklichen in die Seite. Er wehrte den Angriff ab, doch er war zu schwach; er fürchtete, gefressen zu werden, raffte sich wieder auf und eilte ins Freie. Aber er konnte nicht weitergehen, er ließ sich vor der Tür auf die Erde gleiten und kauerte sich zusammen, damit das vorstehende Dach ihn gegen den Regen schütze. Die herabfallenden Tropfen näßten nur noch seine Füße; der Wind durchkältete sein nasses Gewand. Er beneidete das Schwein; er wäre wieder zu ihm hineingekrochen, wenn er nicht gehört hätte, wie es hinter seinem Rücken mit gierigem Schnüffeln an der Tür arbeitete.

Bei Tagesanbruch erwachte Fouan aus seiner schläfrigen Betäubung. Eine große Scham überkam ihn, als ihm einfiel, daß das ganze Dorf um seine Geschichte wissen müsse, daß alle erfahren würden, er habe wie ein Bettler auf der Straße übernachtet. Wenn man nichts mehr besitzt, hat man keine Gerechtigkeit zu erwarten und kein Mitleid. Er strich hinter den Hecken entlang; jeden Augenblick fürchtete er, ein Fenster könnte sich öffnen, jemand herausschauen und ihn in diesem elenden Zustande erkennen. Es regnete immer noch; er erreichte die Anhöhe und kroch dort in einen Schober. Nach kurzer Rast aber fürchtete er, man werde ihn hier noch finden, und suchte ein anderes Versteck. So irrte er den ganzen Tag ruhelos von einem Winkel in den andern. Der einzige Gedanke, der in seinem Hirn arbeitete, war die Erwägung, ob es wohl sehr lange dauere, so zu sterben. Er litt weniger von der Kälte; der Hunger marterte ihn am meisten; er werde vermutlich vor Hunger sterben, meinte er. Vielleicht währt's noch eine Nacht, vielleicht noch einen zweiten Tag. So lang' es hell war, blieb er seinem Entschlüsse treu; es war besser, hier zu sterben, statt zu den Buteau zurückzukehren. Aber als es zu dunkeln begann, kam ein furchtbarer Schreck über ihn, eine schauderhafte Angst erfaßte ihn bei dem Gedanken, noch eine zweite Nacht in diesem unaufhörlichen Regen zuzubringen. Jetzt fror er bis in die Knochen, und der Hunger nagte mit einem unerträglichen Schmerz in seinem Innern. Als der Himmel schwarz geworden, kam er sich wie ertränkt vor, wie hinweggeschwemmt von dieser rieselnden Finsternis. Sein Kopf bestimmte nicht mehr über ihn, die Füße bewegten sich ganz allein; das hungernde Tier in ihm lenkte seinen Schritt; und, ohne es zu wollen, stand er plötzlich vor der Küche Buteaus. Er öffnete die Tür.

Das Ehepaar verzehrte den Rest der gestrigen Kohlsuppe. Buteau blickte sich um beim Kreischen der Angeln, sah den Vater, der in seinen von der Feuchtigkeit dampfenden Kleidern stumm dastand. Eine geraume Weile sprach keiner: endlich sagte der Sohn spöttelnd:

»Ich wußte wohl, daß du kein Ehrgefühl hast.«

Der Alte antwortete keine Silbe; er sah wie versteinert aus mit seinen geschlossenen Lippen.

»Also, Frau, weil ihn der Hunger zurückführt, gib ihm denn zu essen.«

Lise hatte bereits einen Napf Suppe herbeigebracht. Fouan aber nahm den Napf, hockte sich damit abseits auf einen Schemel, als vermöge er nicht, sich mit seinen Kindern an denselben Tisch zu setzen; dann begann er hastig mit vollem Löffel zu schlingen. Sein ganzer Körper zitterte vor übermächtigen Hunger. Buteau beendete gemächlich sein Abendmahl, wiegte sich auf seinem Stuhle, spießte mit weit langendem Arm Stückchen Käse an der Spitze eines Messers auf und schob sie so in den Mund. Das gierige Schlucken des Alten interessierte ihn; er verfolgte seinen Löffel mit den Blicken, dabei höhnte er:

»Hör' mal, die Promenade im Freien scheint dir den Appetit aufgefrischt zu haben. Aber du darfst es nicht alle Tage wiederholen; deine Nahrung käme zu teuer.«

Der Vater schlang und schlang mit einem dumpf glucksenden Geräusch; er entgegnete kein Wort. Und der Sohn fuhr fort:

»Ah, der alte Sünder bleibt die Nacht aus! Er ist am Ende gar zu den Mädeln gegangen ... Sage, Alter, hat dir das solchen Appetit gemacht?«

Noch immer keine andere Antwort, nichts als dasselbe starre Schweigen und das laute, gierige Schlingen.

»He! Ich spreche mit dir!« schrie Buteau gereizt. »Du könntest wohl so höflich sein, mir zu antworten.«

Fouan hob nicht einmal die stieren, toten Augen von seiner Schüssel. Er schien weder zu hören, noch zu sehen, als sei er selbst meilenweit entfernt, als sei nur sein Bauch hier, um sich zu füllen, doch nicht sein Herz. Jetzt kratzte er sorgsam seinen Napf aus, um nichts zu verlieren.

Lise ward gerührt durch den übergroßen Hunger.

»Laß ihn, wenn er nicht reden will,« beschwichtigte sie ihren Gatten.

»Aber er soll mich nicht ein zweites Mal zum besten halten!« fiel ihr Buteau wütend ins Wort. »Einmal läßt man's hingehen. Merke es dir, alter Dickschädel, wenn du wieder anfängst, laß ich dich auf der Straße verhungern.«

Fouan hatte sein Mahl verzehrt; mühsam hob er sich von seinem Schemel; immer noch mit diesem Grabesschweigen, das jeden Augenblick toter zu werden schien, wandte er sich ab und schlürfte mit seinen müden Schritten zu seinem Verlaß unter der Treppe; dort warf er sich angekleidet auf sein Lager. Wie niedergeschmettert vom Schlummer, schlief er sofort ein, ohne daß man ihn nur atmen hörte. Lise, die ihm nachgegangen, rief ihren Mann in der Meinung, der Alte sei vielleicht tot. Doch Buteau zuckte die Achseln, als er ihn wie erschlagen daliegen sah. Ach ja, tot; als ob das so rasch stürbe.

Als sie am nächsten Morgen Nachschau hielten, lag der Vater noch genau, wie er gestern gelegen; auch abends schlief er noch; erst gegen Sonnenaufgang des zweiten Tages erwachte der Greis aus seiner sechsunddreißigstündigen Erschöpfung.

»Da bist du ja wieder,« spöttelte Buteau. »Ich glaubte, es ginge so weiter fort, und du habest für immer das Essen verlernt.«

Fouan schaute ihn nicht an und antwortete nicht; er ging, sich vor das Haus in die Sonne zu setzen.

Von jener Stunde an blieb er sich gleich. Er schien die Papiere vergessen zu haben, die man ihm vorenthielt, wenigstens sprach er nicht mehr davon und suchte sie nicht mehr; vielleicht waren sie ihm gleichgültig geworden, jedenfalls hatte er sich in sein Schicksal ergeben. Doch sein Bruch mit den Buteau war vollständig; das Schweigen, in dem er verharrte, sonderte ihn von diesen ab. Niemals, bei keiner Gelegenheit, bei keinem noch so zwingenden Anlaß richtete er ein Wort an sie. Sie lebten zusammen; der Alte schlief unter demselben Dache, aß dort, sah sie, war von früh bis spät mit ihnen in Berührung; aber er hatte keinen Blick für sie, kein Wort; wie ein Blinder, wie ein Stummer wandelte er zwischen ihnen einem Schatten gleich, der unter Lebenden weilt. Als sie es müde waren, sich mit ihm zu beschäftigen, ohne jemals einen Ton aus ihm herauszubringen, überließen sie ihn sich selbst. Buteau und selbst Lise hörten ebenfalls auf, ihn zu beachten oder anzureden; sie duldeten ihn um sich herum wie ein Möbel und vergaßen schließlich seine Gegenwart. Das Pferd und die beiden Kühe zählten mehr als der Alte.

Im ganzen Hause hatte Fouan nur einen Freund, den kleinen Julius, der eben sein neuntes Jahr zurückgelegt. Während die vierjährige Laura sich mit dem der ganzen Familie eigenen harten Blick aus seinen Armen losmachte, tückisch und boshaft, als begreife sie bereits, daß er ein unnützer Esser sei, gefiel sich Julius in seiner Gesellschaft und vertrug sich sehr gut mit ihm. Das Kind war das einzige Band, das ihn noch mit dem Leben der anderen verknüpfte; es wurde sein Botschafter, wenn der Austausch eines Nein oder Ja unvermeidlich ward. Die Mutter schickte dann den Knaben, dem allein der Greis Rede stand, und er vermittelte die Antwort. Der Junge half ferner dem vollkommen sich selbst Überlassenen wie eine kleine Hausmutter sein Lager aufbetten, brachte ihm seine Suppe, die er auf seinen Knien am Schemel nahe dem Fenster verzehrte, denn er hatte nie mehr seinen Platz am Familientische einnehmen wollen. Auch spielten sie miteinander, und das größte Glück Fouans war, wenn er Julius außerhalb des Hauses begegnete; dann nahm er ihn bei der Hand und machte lange Spaziergänge mit ihm. In solchen Stunden pflegte er alles, was er in sich verschloß, auszusprechen; ohne aufzuhören, redete er, daß dem Kinde ganz wirr davon ward; denn bei dem langen Schweigen hatte er das Sprechen verlernt, und die Worte kamen ihm nur mühsam und unklar über die Lippen. Doch der stotternde Greis und der Knabe, der nur Sinn hatte für die Vogelnester und die wilden Maulbeeren, verstanden sich trefflich und plauderten stundenlang miteinander. Papa Fouan lehrte den Kleinen Leimruten stellen und baute ihm einen kleinen Käfig für die Heimchen, die er fing. Wenn er durch die öden Wege dieses Landes streifte, wo er kein Feld, keine Familie mehr sein nannte, war es allein die zarte Kindeshand, die er in der seinen fühlte, welche ihn noch aufrecht hielt und ihn den Wunsch empfinden ließ, noch ein wenig zu leben.

In Wirklichkeit war Fouan wie aus der Liste der Lebenden gestrichen. Buteau vertrat ihn, kassierte für ihn ein und unterzeichnete in seinem Namen unter dem Vorgeben, der Alte sei nicht mehr im Vollbesitze seiner Vernunft. Die Rente von hundertfünfzig Franken, die der Verkauf von Fouans Hause seinerzeit ergeben, wurde von Herrn Baillehache dem Sohne ausgezahlt. Unbequemer war Delhomme, der sich standhaft weigerte, seine zweihundert Franken anders als in die Hände des Vaters zu erlegen. Fouan mußte also jedesmal gegenwärtig sein, kaum jedoch hatte der Schwiegersohn den Rücken gekehrt, so steckte der Sohn das Geld ein. Dies machte dreihundertfünfzig Franken, zu denen, wie Buteau jammernd versicherte, er noch die gleiche Summe hinzutun müsse, um den Unterhalt des Vaters zu bestreiten. Niemals sprach er von den Staatspapieren; das ruhte einstweilen, später werde man schon sehen. Die Zinsen gab er vor, immer noch zu den Ratenzahlungen an Papa Saucisse zu verwenden, täglich fünfzehn Sous, wogegen nach dem Tode von Saucisse Fouan ein Morgen Acker zufiel. Buteau versicherte, man könne diesen Kontrakt nicht brechen, weil bereits eine zu große Summe darauf gezahlt sei. Das Gerücht allerdings wollte wissen, daß Saucisse auf der Drohung, man werde seinem Leben nachstellen, sich bereitgefunden, selbst jene Verbindlichkeit zu lösen, indem er an Buteau die Hälfte des bereits eingenommenen Geldes, nämlich tausend Franken, zurückerstattete. Wenn dieser alte Spitzbube hierüber schwieg, geschah es aus Eitelkeit; er mochte nicht, daß das Dorf erfahre, er habe sich seinerseits ebenfalls überlisten lassen. Daß Fouan früher sterben müsse als Saucisse, dessen war Buteau gewiß; der Alte konnte sich ja kaum noch auf den Beinen halten; hätte man ihm einen Nasenstüber gegeben, er wäre liegengeblieben.

Ein Jahr verfloß, und Fouan lebte immer noch, obwohl er täglich schwächer wurde.

Er war nicht mehr der saubere, alte Bauer mit dem gut rasierten Gesicht, den sauber gestutzten Hasenpfoten auf beiden Wangen, mit der neuen Bluse und den schwarzen Beinkleidern, In seinem spitz gewordenen, abgemagerten Antlitze hatte sich nur die knochige Nase erhalten, die sich immer tiefer zur Erde bückte. Jedes Jahr hatte sich der Alte mehr vornüber, geneigt; jetzt ging er rechtwinkelig geknickt, er hatte nur noch nötig, den letzten Purzelbaum zu schlagen, um in das Grab zu fallen. Er schleppte sich auf zwei Stöcken, das Gesicht von einem langen, schmutzig weißen Barte umwuchert; er trug die zerrissenen, fleckigen Kleider seines Sohnes, in denen er so erbärmlich aussah wie jene zerlumpten Wegelagerer, denen man nicht zu begegnen liebt. Bei all dieser Hinfälligkeit und Verkommenheit lebte der tierische Mensch in ihm fort und klammerte sich mit gieriger Zähigkeit an seine Selbsterhaltung. Mit einem wahren Heißhunger warf er sich auf seine Suppe, bekam niemals genug, stopfte sich mit Brot, sobald er allein im Hause war, stahl selbst dem kleinen Julius seine Butterbrote, wenn das Kind nicht darauf achtgab. Das hatte zur Folge, daß man ihn knapp nährte; unter dem Vorwande, er esse mit unnatürlicher Gefräßigkeit und könne sich schaden, wurden seine Mahlzeiten beschränkt. Buteau warf ihm vor, er habe sich im Schloß in Gesellschaft von Jesus verdorben; das war nicht unrichtig, denn der einst so mäßige Bauer, der sich so hart jeden überflüssigen Genuß versagte und von Brot und Wasser gelebt, hatte sich bei dem Wilderer an Fleisch und Branntwein gewöhnt, und es kam ihm sehr schwer an, jetzt beides zu entbehren. Das Laster ist bald erlernt, selbst wenn es ein Sohn den Vater lehrt. Lise mußte den Wein einschließen, weil er verschwand. An den Tagen, wo man eine Fleischsuppe am Feuer hatte, mußte die kleine Laura beim Kochtopfe Wache halten. Seit es einmal vorgekommen, daß der Alte bei Lengaigne eine Tasse Kaffee auf Borg getrunken, wurden beide Schankwirte unterrichtet, daß man für nichts aufkomme, falls sie ihm Getränke ohne Bezahlung verabfolgen sollten. Er bewahrte immer das gleiche Schweigen; doch zuweilen, wenn sein Suppennapf nicht voll war, oder wenn man den Wein vom Tische nahm, ohne ihm davon zu geben, heftete er in der ohnmächtigen Qual seines ungestillten Appetits seine trüben Augen auf Buteau. Wollten sie ihn langsam verhungern lassen?

»Ja, ja, schau mich an,« schrie Buteau. »Meinst du, ich mäste die Faulenzer? Wenn man das Fleisch liebt, verdient man es. Alter Freßsack, der sich nicht schämt, in dem Alter sich dem Suff und der Völlerei zu ergeben!«

Jenes Wortes eingedenk, das einst seine Tochter ausgesprochen, blieb Fouan in verbissenem Eigensinn dabei, nicht zu den Delhommes zurückzukehren. Von den Buteau aber erlitt er geduldig die groben Worte und selbst gelegentliche Püffe. In stumpfer Lässigkeit ließ er alles über sich ergeben; er dachte nicht mehr an seine anderen Kinder; der Wunsch, sich dieser Behandlung zu entziehen, kam ihm nicht: er hatte andernorts kein besseres Los zu erwarten; also warum fortziehen? Wenn Fanny ihm begegnete, ging sie steif vorüber; sie hatte geschworen, nimmermehr das erste Wort an ihn zu richten. Jesus hatte im Grunde mehr Herz; er verzieh dem Vater schließlich, daß er ihn verlassen, und machte sich eines Tages den Ulk, den alten Mann bei Macqueron schauderhaft betrunken zu machen und ihn dann in diesem Zustande heimzubringen. Die Sache wurde entsetzlich; Lise mußte die Küche waschen, Buteau schwor, ein andermal könne sein Vater auf dem Misthaufen schlafen. Infolge dieses Abenteuers mißtraute der Greis seinem Ältesten und fand in seiner Furcht, es könne ihm ein zweites Unglück passieren, sogar den Mut, die Erfrischungen, die Jesus ihm anbot, auszuschlagen. Zuweilen stieß Dreckbatzen mit ihren Gänsen auf ihn, wenn er irgendwo am Rande eines Weges saß. Sie blieb dann vor ihm stehen, schaute ihn mit dem forschenden, durchdringenden Blick ihrer kleinen Augen an und plauderte einen Augenblick, während ihre Tiere auf einem Beine stehend und den Hals wachsam seitwärts gestreckt, hinter ihr warteten. Doch eines Morgens entdeckte der alte Mann, daß ihm das Frauenzimmer sein Taschentuch gestohlen, und hob seit dieser Zeit abwehrend seine Stöcke, sobald er sie in der Entfernung gewahr wurde. Sie verspottete ihn, hetzte ihre Gänse auf ihn und hörte erst dann mit ihren Neckereien auf, wenn ein Vorübergehender ihr mit Schlägen drohte, falls sie ihren Großvater nicht zufrieden lasse.

Bisher hatte Fouan mit Hilfe seiner beiden Stöcke gehen können, und das war ein Trost für ihn gewesen; denn ihn interessierte das Land immer noch, er besuchte noch immer seine einstigen Felder, gleichwie alte Wüstlinge ihre ehemaligen Geliebten nicht vergessen können. Langsam ging er durch die Wege mit seinem holperigen Greisenschritt, als schleppe er eine Wunde mit sich herum; am Rande eines Feldes blieb er stehen und blickte stundenlang, auf seine Stöcke gelehnt, über die Schollen; dann schleppte er sich zu einem anderen Acker und vergaß sich dort auch wieder unbeweglich gleich einem alten vertrockneten Baum. Seine leeren Augen unterschieden nicht mehr deutlich Roggen, Hafer oder Weizen. Alles verschleierte sich vor seinem Blick, und unklare Erinnerungen stiegen aus der Vergangenheit empor: jenes Stück Land hatte in dem und dem Jahre soundsoviel Hektoliter getragen. Selbst die Daten und Zahlen verwirrten sich untereinander. Ihm blieb nur ein unklares Empfinden übrig: Mutter Erde, die Erde, die er so sehr geliebt, der er sechzig Jahre lang alles gewidmet, seine Kraft, sein Herz, sein Leben, die undankbare Erde, die sich einem anderen hingegeben, für den anderen ihre Ernten trug, ohne ihm nur das Geringste zu lassen! Eine große Traurigkeit packte ihn bei diesem Gedanken, daß ihn Mutter Erde nicht mehr kenne, daß ihm nichts von ihr übriggeblieben, nicht ein Sou, nicht ein Stück Brot, daß jetzt sein Los sei zu sterben, zu verfaulen im Schoße der gleichgültigen Undankbaren, die aus seinen verwitternden Knochen noch neue Jugendfrische ziehen werde. Wahrlich, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, war's nicht der Mühe wert, sich so zu Tode zu schinden mit der Arbeit. Wenn der Alte von solchen Wanderungen durch seinen einstigen Besitz heimkam, sank er so erschöpft auf sein Lager, daß man ihn nicht einmal atmen hörte.

Doch dieser letzte Anteil, den er am Leben nahm, ging mit dem Gebrauch seiner Beine verloren. Bald wurde es ihm so schwer zu gehen, daß er kaum über das Dorf hinauskam. An schönen Tagen machte er drei oder vier Stationen, an denen er mit Vorliebe rastete: die Balken vor der Hufschmiede Clous, die Aigrebrücke, eine Steinbank nahe der Schule. Langsam zog er von einem dieser Ruhepunkte zum anderen, brauchte eine Stunde, um zweihundert Meter zurückzulegen, schleppte seine Holzschuhe wie einen schweren Wagen, wackelte gebrochen wie lendenlahm. Zuweilen vergaß er sich einen ganzen Nachmittag und kauerte auf einem gefällten Baum in der Sonne. Mit offenen Augen saß er da stumpf und unbeweglich. Leute gingen vorüber, ohne ihn zu grüßen; denn er war eine Sache geworden. Selbst seine Pfeife ward ihm eine Ermüdung; sie hing so schwer an seinen Lippen, das Stopfen und Anzünden wurde ihm so mühsam; er hörte fast zu rauchen auf. Er hatte nur den einen Wunsch, sich nicht mehr vom Flecke zu rühren; ihn fror selbst in der brennenden Mittagssonne, sobald er sich bewegte. Nachdem sein Wille und sein Ansehen erloschen, geriet er jetzt vollkommen in Verfall: ein altes Tier, das einmal ein Mensch gewesen und jetzt verlassen verkommt. Aber er beklagte sein Geschick nicht; der Gedanke, daß man einen Gaul tötet, wenn er keine Arbeit mehr leisten kann und nutzlos seinen Hafer frißt, dieser Gedanke war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Die Alten dienen zu nichts und kosten Geld, man hat nur den einen Wunsch, sie loszuwerden. Er selbst hatte den Tod seines Vater ersehnt. Wenn seine Kinder jetzt darauf warteten, daß auch er sterbe, so wunderte er sich weder darüber, noch bereitete es ihm Schmerz. Das mußte so sein.

Wenn ein Nachbar ihn fragte:

»Nun, Papa Fouan, es geht immer noch?«

So brummte er grollend:

»Ach, das Krepieren dauert verflucht lang, und es fehlt doch wahrhaftig nicht am guten Willen.«

Er sagte die Wahrheit; der Bauer in seiner Ergebenheit sträubt sich nicht gegen den Tod, im Gegenteil, er sehnt ihn herbei, sobald er nichts mehr sein nennt und die Erde ihn zu sich zurückruft.

Eine Bitternis harrte noch seiner. Julius, von Laura aufgereizt, entzog ihm seine Freundschaft. Die kleine Schwester schien eifersüchtig, wenn sie den Bruder mit dem Großvater beschäftigt sah; mit häßlicher Stimme rief sie ihn dann zu sich, und ihre schwarzen Augen schauten böse drein. Wenn ihr Brüder ihrem Rufe nicht folgte, hängte sie sich an seine Schultern und zog ihn gewaltsam fort. Darauf aber schmeichelte sie ihm und machte ihn den Alten vergessen. Nach und nach kettete sie ihn vollständig an sich, eine kleine Kokette, die es sich zur Aufgabe gemacht, diese Eroberung durchzusetzen.

Eines Nachmittags wartete Fouan beim Schulhause auf Julius; er fühlte sich so schwach, daß ihm der Gedanke gekommen war, sich von dem Kinde die Straße hinauf geleiten zu lassen. Doch Laura trat gleichzeitig mit ihrem Bruder aus der Schule, und als der Alte mit zitterndem Griffe nach der Hand des Kleinen faßte, lachte das Mädchen boshaft auf.

»Da ist er schon wieder und will dich langweilen; laß ihn doch laufen!«

Dann wandte sie sich an die anderen Knaben:

»Ist der Julius dumm, sich immer von dem Alten langweilen zu lassen!«

Die Kinder lärmten höhnend, Julius errötete, wollte den Helden spielen und machte sich mit einem Satze von seinem Großvater los, indem er ihm das Wort der Schwester zurief:

»Du langweilst mich!«

Verstört sah ihm Fouan nach, Tränen kamen ihm in die Augen; er stolperte, als weiche der Boden unter ihm, wie sich diese kleine Hand von ihm zurückzog. Die Kinder aber machten sich noch lauter über ihn lustig; von Laura angeführt, nahmen sie einander bei der Hand und begannen singend und höhnend um ihn herumzutanzen.

Fouan brauchte mehr als zwei Stunden, um allein heimzukehren, so kraftlos schleppten ihn seine Füße. Jetzt war alles vorüber. Das Kind reichte ihm nicht mehr seinen Suppennapf, richtete nicht mehr sein Lager her, dessen Matratze kaum einmal jeden Monat gewendet wurde. Der Alte hatte nicht mehr den Knaben, mit dem er hätte sprechen können; er verstummte vollkommen; er war jetzt ganz einsam inmitten der anderen, ganz abgeschlossen und auf sich selbst angewiesen. Nie mehr kam ein Wort über seine Lippen!


 << zurück weiter >>