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Viertes Kapitel.

Am nächsten Tage, einem Sonntag, sollten die Burschen von Rognes nach Gloyes zur Militärauslosung ziehen. Darum lärmte, während die Große und die Frimat die Verwundete abends entkleideten und zu Bette brachten, auf der Straße die Werbetrommel.

Hans, der vollkommen den Kopf verloren, spannte an, um Doktor Finet zu holen. Bei der Kirche aber begegnete er dem Tierarzt Patoir, der ins Dorf kam, um ein krankes Pferd des alten Saucisse zu besichtigen. Der Bauer zwang den sich Sträubenden, mit ihm zu kommen. Als jedoch der Tierarzt die klaffende Wunde gewahrte, verweigerte er jede Einmischung: da gab's nichts zu helfen. Zwei Stunden später brachte Hans Herrn Finet; auch dieser zuckte die Achseln und versicherte, er vermöge nichts zu tun, als der Kranken betäubende Mittel zu geben, um ihr das Sterben zu erleichtern. Die vorgerückte Schwangerschaft verwickelte den Fall, man fühlte die Bewegungen des Kindes, das am Tode seiner Mutter dahinstarb. Der Arzt legte einen Verband an; dann machte er sich auf den Heimweg, nachdem er dem unglücklichen Gatten mitgeteilt, seine Frau werde vermutlich nicht die Nacht überleben. Doch starb sie nicht so schnell; sie atmete immer noch, wie in tiefen Schlaf versunken, als am nächsten Morgen gegen neun Uhr die Trommel erschallte, welche die jungen Leute zum Abmarsch sammelte.

Die ganze Nacht hatte es geregnet, wie eine Sintflut war's vom Himmel herabgerauscht; Hans hatte beim Bette seiner Frau gesessen und geweint. Jetzt am Morgen hörte er den dumpfen Wirbel der Trommel durch die feuchte, laue Luft herauf tönen. Es regnete nicht mehr; der Himmel war noch immer bleigrau.

Der Tambour war ein Neffe Macquerons, der eben seine Militärzeit beendet; er trommelte, als gelte es, ein Regiment ins Treffen zu führen. Ganz Rognes war in Aufregung; die seit einigen Tagen umgehenden Kriegsgerüchte gaben dieses Jahr der Rekrutenauslosung noch ein ernsteres Gepräge. Neun Burschen mußten sich stellen, eine ungewöhnlich große Zahl: unter ihnen befanden sich auch Ernst und Delphin, die einst Unzertrennlichen, bevor noch Ernst bei dem Restaurateur in Chartres in Stellung getreten. Der junge Kellner war kaum wiederzuerkennen; er trug einen Spazierstock, einen Zylinder, eine blaue, in einen Ring geschürzte Krawatte. Er bestellte seine Kleider bei einem Schneider und lachte über die fertigen Anzüge von Lambourdieu; sein Hals schien noch länger geworden, der Nacken war glatt rasiert. Sein ehemaliger Kamerad, Delphin, hingegen schien noch mehr Bauer geworden; der stämmige Bursche war steif und schwer, sein Gesicht hart gedorrt von der Sonne. Beide knüpften in der ersten Stunde ihres Wiedersehens ihre alte Freundschaft wieder an. Nachdem sie einen Teil der Nacht miteinander verbracht, erschienen sie beim Schall der Trommel Arm in Arm vor dem Schulzenamt.

Die Verwandten der einberufenen Burschen hatten sich ebenfalls eingefunden. Delhomme und Fanny, welche die elegante Erscheinung ihres Sohnes Ernst ungemein stolz machte, wollten seinem Abmarsch beiwohnen; sie hegten keine Furcht, daß man ihn behalten werde, denn sie hatten bei Baillehache die Ablösungsprämie erlegt. Bécu, dessen Feldhüterschild blank geputzt war, zankte mit seiner Frau, die in Tränen schwamm: wie? war es nicht in der Ordnung, daß Delphin ein tüchtiger Soldat werde? Der Bursche übrigens erklärte zuversichtlich, ihm sei nicht bange, er wisse, daß er eine gute Nummer ziehen werde. Als nach einstündigem Warten die Neun versammelt waren, übergab Lequeu ihnen die Fahne. Gewöhnlich wurde der Größte und Stärkste ausersehen, sie zu tragen; man einigte sich nach einigem Hin und Wider auch diesmal dahin, daß Delphin diese Ehre zuteil werde. Er ward verlegen; seine Riesenfäuste griffen nur zaghaft zu, wenn ihm etwas neu war. Diese lange Fahne war höchst unbequem zu tragen; wenn sie ihm nur kein Unglück brachte!

An beiden Straßenecken fegten die beiden Wirtinnen Flora und Celine noch einmal ihre Schankstuben für den Besuch des Nachmittags rein. Macqueron stand mit finsterer Miene auf der Schwelle seiner Türe; Lengaigne erschien ebenfalls vor seiner Kneipe und blickte höhnisch hinüber. Er triumphierte; die Beamten der Steuerbehörde nämlich hatten in seines Rivalen Holzstall vier Stückfaß geschmuggelten Wein mit Beschlag belegt infolge einer namenlosen Anzeige, die, wie man wissen wollte, von Lengaigne ausgegangen. Die Stellung des Schulzen war durch diesen Vorfall ernstlich in Frage gestellt. Und noch etwas anderes machte ihm Sorge: seine Tochter Bertha hatte sich mit dem Sohne des Stellmachers eingelassen, daß er schließlich trotz seiner mehrjährigen Weigerung nicht umhin gekonnt, in das Bündnis einzuwilligen. Seit acht Tagen schwatzten die Frauen am Brunnen von nichts anderem wie von der Heirat der Tochter und dem Prozeß des Vaters. Sicherlich werde er zu einer Geldstrafe verurteilt, vielleicht bekomme er gar Gefängnis. Macqueron vermochte die schadenfrohe Fratze seines Nachbars nicht zu ertragen; er zog sich in sein Haus zurück.

Delphin hielt die Fahne, der Tambour begann zu trommeln, der Abmarsch der Rekruten begann. Knaben rannten neben dem kleinen Zuge her; einige Verwandte, Delhomme, Fanny, Bécu und andere gaben den jungen Leuten bis zum Ausgang des Dorfes das Geleite. Die Becu rannte in die leere Kirche; dort fiel die Frau, die nie fromm gewesen, auf die Knie und betete, der liebe Gott möge ihrem Sohne eine gute Nummer zuteil werden lassen. Mehr als eine Stunde lang blieb sie in inbrünstiger Andacht versunken. Auf der ebenen Landstraße nach Cloyes zu war die Fahne nach und nach verschwunden; der Schall der Trommel verhallte in der Luft.

Erst gegen zehn Uhr kam Doktor Finet wieder; er schien überrascht, Franziska noch am Leben zu treffen; denn er hatte gemeint, bereits die Bestattungserlaubnis ausfertigen zu können. Er untersuchte die Wunde und schüttelte den Kopf. Seit gestern ging ihm die Geschichte, die man ihm erzählt, im Kopfe herum; er schöpfte keinerlei Verdacht, doch unbegreiflich blieb es ihm, wie die Frau so unglücklich auf die Spitze der Sense hatte fallen können. Er machte sich endlich auf den Heimweg, sehr ärgerlich, daß er zur Ausstellung des Totenscheines noch einmal zurückkehren müsse. Hans saß brütend neben dem Bette, den forschenden Blick auf sein Weib geheftet, das unfähig zu reden, von Zeit zu Zeit die Augen öffnete und ihn fremd anblickte, als sei ihr Geist schon dem Irdischen entrückt. Er nährte einen unbestimmten Argwohn, irgendeine Vermutung unbekannter Umstände dämmerte in ihm auf. Bei Tagesanbruch hatte er sich einen Augenblick aus dem Zimmer gestohlen, war zu dem Kleefeld hinaufgerannt, um den Schauplatz des Unfalles in Augenschein zu nehmen. Nichts gab ihm eine Aufklärung: er sah vom Regen der Nacht verwischte Fußstapfen, sah den zertretenen Boden auf dem Fleck, wo er seine Frau gefunden, er vermochte keine Schlüsse hieraus zu ziehen. Nach der Entfernung des Arztes befand er sich mit Franziska allein; die Frimat war frühstücken gegangen, und die Große mußte einen Augenblick in ihrem Heim Nachschau halten. Die Sterbende öffnete wieder die Lider.

»Hast du Schmerzen?«

Sie schloß die Augen und antwortete nicht.

»Sprich, verheimlichst du mir nichts?«

Franziska versank wieder in die unbewegliche Starre, in der sie seit dem vorigen Abend dalag; wenn nicht leises Atmen ihre Brust langsam auf und nieder bewegt, hätte man sie für tot halten können.

Seit gestern lag sie auf dem Rücken, wie von Unbeweglichkeit und Schweigen festgebannt. In dem glühenden Fieber, das sie verzehrte, schien ihr Wille sich gegen das Phantasieren aufzulehnen, so sehr fürchtete sie, daß sie sprechen könne. Sie hatte stets einen eigenartigen Charakter gehabt, einen vertrackten Schädel, den Schädel der Fouans; sie tat alles anders wie die anderen Leute und hatte immer Einfälle, die alle Welt verblüfften. Vielleicht gehorchte sie einem tiefen Familiensinn, der mächtiger war als der Haß und das Rachebedürfnis. Wozu sprechen? Mußte sie doch sterben! Es waren Dinge, die man unter sich begrub in dem Erdenwinkel, wo alle herangewachsen waren; Dinge, die man niemals, um keinen Preis, einem Fremden preisgeben durfte. Und Hans war ein Fremder, den sie nicht von Herzen hatte lieben können, dessen Kind sie ungeboren mit sich nahm, vielleicht zur Strafe, weil sie es empfangen.

Hans dachte jetzt an das Testament. Schon in der Nacht war ihm wiederholt eingefallen, daß ihm nichts als die Möbel und die in der Kommode liegenden hundertsiebenundzwanzig Franken Bargeld gehören würden, wenn sie ohne letzte Verfügung sterbe. Er liebte sie von Herzen; er hätte seine rechte Hand hergegeben, um sie sich zu erhalten; doch dieser Gedanke, daß er mit ihr Hof und Acker verlieren solle, vergrößerte noch seinen Schmerz. Nach einer Weile schien sie wieder aus ihrer Betäubung zu erwachen: ihre Hände griffen wieder in die Bettdecke, und die Augenlider öffneten und schlössen sich mehrmals in heftigem Wechsel. Er entschloß sich, einen Versuch zu machen.

»Vielleicht hast du noch irgend etwas zu erledigen?«

Hörte sie ihn? Verstand sie, was er wollte? Kein Merkmal verriet es.

»Du weißt, wegen deiner Schwester, im Falle dir ein Unglück zustoßen sollte ... Wir haben immer noch das Stempelpapier dort in der Kommode.«

Er brachte das Papier und setzte mit einer Stimme, die immer stockender und immer verlegener ward, hinzu:

»Soll ich dir helfen? ... Hast du die Kraft zu schreiben? ... Es geschieht nicht aus Interesse; ich mein' nur, es wird nicht dein Wunsch sein, denen, die dir so viel Leid zugefügt, dein Vermögen zu lassen?«

Es zuckte ihr in den halb geöffneten Lidern, sie schien ihn zu verstehen. Warum aber verhielt sie sich so ablehnend kalt? Er blickte sie starr an, ohne zu begreifen. Sie selbst hätte sich wohl nicht Rechenschaft zu geben vermocht über ihr Empfinden. Sie vergaß in diesem Augenblick ihre Feindschaft mit der Schwester, vergaß den letzten furchtbaren Kampf: sie dachte an das Haus, an das Ackerland, dessen er eben Erwähnung getan. Sie sollte es ihm lassen. Warum ihm? Was war er ihr? Was schuldete sie dem fremden Manne? Wird nicht ihr Kind mit ihr sterben? Also warum diesen Grund und dieses alte Stammhaus aus der Familie gehen lassen? Das war's und noch andere verschwommene, verworrene Gedanken, die vor ihrem Geiste auftauchten, das Bild eines andern Mannes, der sie so lange verfolgt und nie besessen, den sie so hartnäckig zurückgewiesen, und dessen sie doch in dieser letzten Stunde mit hoffnungslosem Weh gedachte.

In Hans aber stieg eine Erbitterung auf; die Furcht, seinen Besitz zu verlieren, riß ihn hin. Er hob Franziskas Oberleib, versuchte sie sitzend an ihre Kissen zu lehnen, legte ihr eine Feder in die Hand.

»Mein Gott, ist es denn möglich? Du solltest sie mehr lieben als mich? Diese Kanaillen sollten alles bekommen?«

Jetzt endlich öffnete Franziska die Augen, und der Blick, den sie auf ihn richtete, erschütterte ihn. Sie wußte, daß sie sterben müsse, die Verzweiflung, die in diesem starren Blick ruhte, sagte es deutlich. Warum quälte er sie? Sie konnte nicht, sie wollte nicht, das war ihre Sache. Ein dumpfes Stöhnen entrang sich ihren Lippen; dann sank sie wieder zusammen, ihr Haupt lag von neuem unbeweglich in den Polstern.

Hans überkam ein solches Unbehagen, er schämte sich dermaßen über die Unzartheit seines Vorgehens, daß er noch ratlos und bewegungslos das Papier in der Hand hielt, als die Große in das Zimmer trat. Sie verstand, zog ihn auf die Seite, um zu erfahren, ob ein Testament geschrieben sei. Stotternd gab er vor, er habe gerade das gestempelte Papier verstecken wollen, damit man die Sterbende nicht mit diesen Sachen quäle. Sie nickte zustimmend; sie war wieder auf der Seite der Buteau, ahnte allerhand Szenen, wenn diese erben sollten. Sie setzte sich an den Tisch, zog ihren Strickstrumpf hervor und sagte laut:

»Ich werde gewiß niemanden übervorteilen ... Mein Testament ist lange in Ordnung. Jeder wird sein Teil bekommen, ich würde es für eine Sünde halten, wenn ich irgendwen auf Kosten der anderen begünstigte ... Ihr kriegt jeder das eure, meine Kinder. Es wird schon der Tag kommen.«

Dies waren die Worte, mit denen sie immerfort die Glieder der Familie zu vertrösten pflegte; aus Gewohnheit wiederholte sie diese neben diesem Sterbebette; dabei lachte sie innerlich und freute sich im stillen über den Kampf, der infolge ihres verquickten Testamentes nach ihrem Tode unter den Verwandten entbrennen mußte. Nicht eine Klausel stand darin, die nicht einem Prozeß zum Vorwande dienen mußte.

»Ja, wenn man sein Eigentum mit ins Grab nehmen könnte!« schloß sie. »Aber da man das nicht kann, sollen die Nachkommen ihre Freude daran haben.«

Auch die Frimat kam jetzt zurück und setzte sich der Großen gegenüber. Sie strickte ebenfalls. Die Stunden des Nachmittags strichen vorüber; die beiden alten Frauen plauderten, während Hans, unvermögend auf einem Platze zu verharren, in furchtbarer Aufregung und banger Erwartung umherging, das Zimmer verließ und wieder eintrat. Der Arzt hatte gesagt, man könne nichts tun; man tat nichts.

Die Frimat klagte, daß man nicht nach Meister Sourdeau geschickt habe, einem Quacksalber in Bazoches, der auch sehr gut die Wunden zu behandeln verstand. Er sagte einen Spruch, blies über die wunde Stelle, und der Kranke war geheilt.

»Ein ausgezeichneter Mann,« versicherte die Große mit Überzeugung. »Er war's, der den Lovillon vom Magenkrampf befreit hat ... Plötzlich bekommt der alte Lovillon den Magenkrampf; es würgt ihn in den Gedärmen, drückt ihm auf den Bauch; er wird von Tag zu Tag elender. Und das Schlimmste: mit einemmal hat die Alte dieselbe Krankheit, denn sie ist ansteckend, wie ihr wißt. Ja, und ehe man sich's versieht, liegen alle darnieder, die Tochter, der Schwiegersohn, die drei Kinder ... Mein Wort, sie wären sämtlich drauf gegangen, wenn man nicht Meister Sourdeau geholt hätte, der das Übel vertrieben, indem er ihnen mit einem Schildpattkamm den Leib rieb.«

Die Frimat nickte zustimmend bei der Erzählung: die Sache war bekannt, da gab's keine Widerrede. Sie selbst gab eine andere Tatsache an.

»Meister Soudeau heilte auch Budins Kleine vom Fieber, indem er eine lebende Taube mitten auseinander schnitt und ihr auf den Kopf legte.

Dann wandte sie sich zu Hans, der stumpf dreinstierend neben dem Bette saß.

»An Eurer Stelle ließe ich den Alten holen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«

Doch er schüttelte zornig das Haupt, mit dem Unglauben der Städter verachtete er diesen Hokuspokus. Die beiden Frauen fuhren fort, einander allerhand Heilmittel vorzuzählen. Petersilie unter die Matratze gelegt, hilft gegen Lendenschmerzen; drei Eicheln in der Tasche getragen, vertreiben jede Geschwulst; ein Glas Wasser, das man nachts im Mondenschein stehen läßt und frühmorgens auf nüchternen Magen trinkt, verjagt die Winde.

»Hören Sie,« rief plötzlich die Frimat, »wenn man nicht Meister Sourdeau holen läßt, könnte man vielleicht wenigstens nach dem Herrn Pfarrer schicken.«

Hans machte dieselbe ärgerlich abweisende Gebärde; die Große kniff die Lippen zusammen.

»Was soll der Pfarrer dabei?«

»Was er dabei soll! ... Er bringt den lieben Gott, das hilft zuweilen.«

Die Große zuckte die Achseln, wie um zu sagen, das seien veraltete Ansichten. Jedes gehört an seinen Platz: der liebe Gott in die Kirche, die Leute ins Haus.

»Übrigens,« bemerkte sie nach einem Stillschweigen, »der Pfarrer würde nicht kommen, denn er ist krank ... Die Bécu hat mir soeben erzählt, daß er am Mittwoch weggefahren sei, weil der Arzt erklärt hat, daß er in Rognes zugrunde gehen müsse, wenn man ihn nicht wegbringe.«

Es war, wie die Alte sagte. Seit den zwei Jahren und sechs Monaten, während welcher der Abbé Madeline hier das Seelsorgeramt ausübte, ging es mit ihm mehr und mehr bergab. Das Heimweh, die heftige Sehnsucht nach seinen Bergen der Auvergne nagten ihm am Herzen, erfüllten ihn mit unsäglicher Trübsal inmitten dieser flachen Beauce. Kein Baum, kein Fels, schmutzige Pfützen mit salzigem Wasser statt der lustig plätschernden Wasserfälle daheim. Die Augen des Geistlichen verblaßten, er magerte ab, es hieß, er habe die Schwindsucht. Wenn er wenigstens bei seinen Pfarrkindern Freude und Trost gefunden hätte. Doch aus seiner frommen Gemeinde in den Bergen war er unter dieses vom Unglauben verderbte Volk geraten, dessen ganze Religion in den äußeren Gebräuchen bestand. Die Weiber betäubten sein Ohr mit ihrem Geschrei und Gezänk, sie mißbrauchten seine Schwäche und leiteten buchstäblich an seiner Statt den Gottesdienst, was sein Gewissen mit der ewigen Angst beschwerte, er könne, ohne es zu wollen, eine Sünde begehen. Ein letzter Schlag aber hatte ihm den Rest von Mut genommen, der ihm noch geblieben: bei der Weihnachtsmesse bekam eine der Mutter-Gottes-Jungfrauen vor dem Altar Geburtswehen! Seit jener Zeit vermochte sich der Abbé nicht wieder zu erholen; man hatte den Entschluß fassen müssen, ihn todkrank in seine Auvergne zurückzusenden.

»Da sind wir also wieder einmal ohne Pfarrer!« meinte die Frimat. »Wer weiß, ob der Abbé Godard wird zurückkommen wollen.«

»Oh, der Wüterich,« versetzte die Große, »der ginge ja vor Gift und Galle zugrunde.«

Der Eintritt Fannys unterbrach ihr Gespräch. Sie war die einzige von der ganzen Familie gewesen, die schon am vorigen Abend nach der Kranken geschaut. Jetzt kam sie zum zweitenmal, nach ihrem Befinden zu fragen. Hans deutete mit seiner zitternden Hand stumm auf Franziska. Alle schwiegen gerührt. Dann erkundigte sich Fanny, die Stimme dämpfend, ob die Sterbende nach ihrer Schwester verlangt habe. Nein, durch kein Zeichen hatte sie ein solches Verlangen ausgedrückt, es war, als sei Lise nicht da für sie. Das war sehr befremdend; wenn man sich auch entzweit hat, der Tod ist der Tod: wann will man denn Frieden schließen, wenn nicht vor seinem Heimgange?

Die Große war dafür, man solle Franziska um ihre Meinung fragen. Sie erhob sich, neigte das Haupt über die Kranke.

»Sag', Kleine, willst du nicht die Lise sehen?«

Die Sterbende bewegte sich nicht. Nur ein kaum sichtbares Zucken flirrte in den geschlossenen Lidern.

»Sie wartet vielleicht, daß wir die Schwester holen. Ich will hingehen.

Doch immer noch, ohne die Augen zu öffnen, gab Franziska durch leises Bewegen des Kopfes zu verstehen, daß sie es nicht wünsche. Hans bestand darauf, daß man ihren Willen achte; die drei Frauen setzten sich wieder. Sie wunderten sich, daß Lise nicht aus eigenem Antriebe kam. Wie viel unversöhnlichen Haß gibt es doch in manchen Familien!«

»Man hat nichts wie Ungemach in der Welt,« begann Fanny seufzend wieder. »So bin ich seit heute früh wegen dieser Rekrutenauslosung in einer Aufregung, die fürchterlich ist, und ängstige mich eigentlich grundlos, denn ich weiß ja, daß Ernst nicht einrücken wird.«

»Ja, ja,« murmelte die Frimat, »immerhin greift's einen an.«

Von neuem ward die Sterbende vergessen. Man sprach vom Zufall, vom Glück: die einen losten sich frei, konnten bleiben, die anderen mußten fort. Es war drei Uhr, und obwohl die Burschen frühestens gegen fünf Uhr zurück erwartet wurden, wollte man schon allerhand wissen; Neuigkeiten gingen von Mund zu Mund, niemand konnte sagen, wer sie aus Cloyes gebracht; es mochte jener geheimnisvolle Lufttelegraph sein, der Dorf mit Dorf verbindet. Der Sohn Briquets hatte Nummer 13: kein Glück! Dem Ältesten Couillots war die Nummer 206 zugefallen, gewiß eine gute Nummer! Doch man war nicht einig über die übrigen; die Berichte widersprachen sich, und dies vermehrte die Erregung der Bewohner. Nichts verlautete weder über Delphin noch über Ernst.

»Ich hab' so heftiges Herzklopfen,« versicherte Fanny, »es ist zu dumm!«

Sie riefen die Bécu herein, die vorüberging. Sie war zum zweitenmal in der Kirche gewesen; wie seelenlos irrte die Frau umher, und ihre Beklommenheit war so groß, daß sie es nicht im Zimmer aushielt.

»Ich muß fort, ich will ihnen entgegengehen.«

Hans stand beim Fenster und schaute, ohne auf das Gespräch der Frauen zu achten, leeren Blickes ins Freie. Schon mehrmals hatte er Fouan um das Haus schleichen sehen. Plötzlich gewahrte er ihn von neuem; der Alte schlürfte heran, legte das Gesicht dicht an die Scheiben und versuchte zu unterscheiden, was im Zimmer vorgehe. Der Bauer öffnete das Fenster; erschrocken stotterte der Greis, er wolle nur nachfragen, wie es gehe. Sehr schlecht! Es geht eben zu Ende. Fouan reckte den Hals, blickte aus der Entfernung zu Franziska hinüber und starrte sie lange unverwandt an; es schien, als könne er sich nicht von ihrem Anblick losreißen. Als Fanny und die Große des Alten ansichtig wurden, kamen sie wieder auf den Gedanken zurück, Lise rufen zu lassen. Es müsse jeder seinerseits etwas nachgeben, das könne nicht so bleiben. Als man jedoch den Greis mit der Botschaft an Lise betrauen wollte, fuhr dieser erschrocken zurück und machte sich eiligst aus dem Staube, indem seine von ewigem Schweigen verpappten Lippen wiederholt die Worte hervorstießen:

»Nein, nein ... unmöglich, unmöglich ...«

Hans war überrascht von der hastigen Flucht des Alten; die Frauen zuckten die Achseln. Schließlich ging die Sache die Geschwister allein an; man könne sie nicht zwingen, einander zu umarmen. In diesem Augenblick kam ein Geräusch die Straße daher; erst war's ein dumpfes Gebrumm gleich dem Summen einer großen Fliege, dann ward es stärker und stärker; jetzt tönte es rollend durch die Luft, wie wenn ein Windstoß durch die Bäume bricht.

Fanny sprang auf.

»Die Trommel! Sie kommen, lebt wohl!«

Sie verschwand, ohne sich Zeit zu lassen, ihre Base noch ein letztes Mal zu küssen.

Die Große und die Frimat traten vor die Tür, um den Zug ankommen zu sehen. Es blieben nur Franziska und Hans im Zimmer: sie unbeweglich und stumm, besinnungslos vielleicht, vielleicht noch ein dunkles Bewußtsein des um sie herum Geschehenden bewahrend, müde des Lebens, entschlossen zu sterben. Er stand am offenen Fenster, von einer peinigenden Ungewißheit geplagt, von einem tiefen Schmerz erschüttert, von einem unaussprechlichen Weh erfüllt, das von den Menschen auszugehen schien und von den Dingen, daß diese riesige traurige Ebene ihm ins Herz goß. Diese Trommel, wie ihr Schall lärmend wuchs, wie dieser grollende Klang ihm sein Tiefinnerstes durchdröhnte, neben der Trauer in seiner Brust die Erinnerung weckend an vergangene Zeiten, an Kasernen, an Schlachten, an das elende Leben der armen Soldaten, die nicht Weib noch Kind haben, die sie lieben.

Sobald die Fahne, von der Dämmerung verdunkelt, auf der flachen Landstraße sichtbar ward, rannte die Dorfjugend den Ausgehobenen entgegen; die Verwandten pflanzten sich beim Ausgang des Dorfes auf. Die neun Burschen und ihr Tambour waren schon sehr betrunken; mit heiseren Stimmen schrien sie ein Lied in das trübe Düster des Abends hinaus. Sie waren mit der dreifarbigen Kokarde geschmückt, die meisten hatten ihre Nummer an den Hut gesteckt. Wie sie sich dem Dorfe näherten, brüllten sie noch lauter und marschierten im Sturmschritt herein, um sich ein Ansehen zu geben.

Delphin hielt noch immer die Fahne, doch er hatte sie über die Schulter gelegt und trug sie wie einen lästigen Lappen, dessen Nützlichkeit ihm nicht einleuchtete. Er sah niedergeschlagen aus und schaute finster drein; an seiner Mütze steckte keine Nummer. Sobald die Bécu ihn gewahr wurde, stürzte sie zitternd zu ihm hin auf die Gefahr, von der Bande umgerissen zu werden.

»Nun?«

Wütend stieß er seine Mutter zur Seite, ohne seinen Schritt zu hemmen. Sie möge ihn in Ruhe lassen, schrie er. Auch Bécu war herzugetreten, als er die zornige Miene seines Sohnes sah, wußte er genug; trotz seiner patriotischen Großtuerei hatte er Mühe, bei den hervorbrechenden Tränen seiner Frau die eigene Bewegung zu meistern.

»Was willst du tun? Sie haben ihn genommen.«

Die beiden blieben hinter dem Zuge allein auf der öden Straße zurück; schweren Schrittes folgten sie in der Entfernung; er dachte an sein saures Soldatenleben, sie grollte laut dem lieben Gott, zu dem sie zweimal gebetet, und der sie nicht erhört hatte.

Ernst trug an seinem Hut eine prächtige Nummer 214 mit roten und blauen Verzierungen umgeben. Es war eine der höchsten Nummern; der Bursch triumphierte mit seinem Glück, er schwang seinen Spazierstock und schritt dem wilden Chor der anderen voran, indem er den Takt angab. Als Fanny die Nummer erblickte, malte sich statt der Freude ein lebhaftes Bedauern in ihren Zügen: wenn sie das geahnt hätten, würden sie nicht die tausend Franken bei Herrn Baillehache für die Freikauf-Lotterie erlegt haben. Nichtsdestoweniger umarmten Delhomme und seine Frau ihren Sohn, als sei er einer großen Gefahr entronnen.

»Laßt mich endlich los!« rief er, »das ist ja langweilig.«

Die Bande setzte ihren lärmenden Marsch durch das aufgeregte Dorf fort; aber die Eltern wagten sich nicht mehr zu ihren Söhnen heran, denn all' die jungen Leute, sowohl die freigelosten wie die anderen waren schlecht zugänglich. Auch hätten sie den Ihren nicht Rede stehen können; die Augen quollen ihnen aus dem Kopfe, sie waren total berauscht, teils vom Trinken in der Stadt, teils von dem überlauten Singen auf der Landstraße. Ein kleiner Spaßmacher, der mit seiner Nase Trompete blies, hatte eine schlechte Nummer gezogen; während zwei, die bleich und mit müden Augen einhertaumelten, sicher unter den Freigelosten waren. Alle trabten blind darauf los, waren so im Zuge, daß wenn der wütende Tambour an ihrer Spitze sie in die Aigre geführt hätte, sie einer nach dem andern ins Wasser gepurzelt wären.

Vor dem Schulzenamt gab Delphin die Fahne ab.

»Hol's der Teufel! Ich hab' diesen verwünschten Lappen satt, der mir Unglück gebracht hat.«

Er nahm den Arm seines Kameraden Ernst und zog ihn fort, während die anderen Burschen die Schankstube von Lengaigne bestürmten, wohin ihnen die Eltern und Verwandten folgten, um endlich das Schicksal der Ausgehobenen zu erfahren. Macqueron erschien auf der Schwelle seiner Tür; er war untröstlich, daß alles zu seinem Gegner strömte.

»Komm!« wiederholte Delphin mit rascher Stimme, als fasse er plötzlich einen Entschluß. »Ich werde dir mal was zeigen.«

Ernst ließ sich führen, man hatte ja nachher noch Zeit, mit den Kameraden zu zechen. Der verwünschte Tambour trommelte ihnen nicht mehr die Ohren voll; es war eine angenehme Erholung, so Arm in Arm die einsame Straße dahin zu wandeln, welche das nächtliche Dunkel mehr und mehr umschleierte. Delphin schwieg, wie es schien in ernstes Grübeln versunken. Ernst aber begann ihm von einem großartigen Geschäft zu erzählen. Zwei Tage früher, als er in Chartres zu seiner Unterhaltung in die Judengasse gegangen, hatte er dort in Erfahrung gebracht, daß Vaucogne der Schwiegersohn des Herrn Karl, das Haus verkaufen wolle. Die Sache konnte nicht mehr so weiter fortgehen mit diesem Menschen; welch ein prächtiges Geschäft aber vermochte ein fleißiger, gescheiter Mann dort zu erzielen, der die Kraft besaß, das Haus wieder auf seine einstige Höhe zu bringen, der ein strenges Regiment zu führen wußte und etwas von der Sache verstand. Ernst fühlte sich um so berufener für dieses Unternehmen, als er bei seinem Restaurateur besonders mit dem Nachtdienst in dem Tanzlokale betraut worden war, wo er gelernt hatte, mit den Mädchen umzuspringen und ihre sittsame Aufführung zu überwachen. Sein Plan also war, das Ehepaar Karl zu erschrecken, den beiden alten Leuten nachzuweisen, daß das Haus in der Judengasse über kurz oder lang von der Polizei gesperrt werden müsse, da das liederliche Treiben dort allgemeinen Anstoß errege. Hatte er in dieser Weise die Alten bearbeitet, so konnte er das Haus für ein Butterbrot von ihnen haben.

»Gelt, das ist mehr wert, als das Land ackern?« schloß er. »Ich wäre mit einem Schlage ein feiner Herr und ein gemachter Mann.«

Delphin, in seine Gedanken vertieft, hörte nur halb und halb dem Geplauder des Freundes zu. Er fuhr auf, als ihn dieser mit einem freundschaftlichen Rippenstoß ermunterte.

»Wer Glück hat, hat Glück,« murmelte er. »Du bist nun mal dazu geschaffen, was zu werden.«

Er versank wieder in sein Brüten; während Ernst ihm eifrig auseinandersetzte, wie er sich die Verbesserungen dachte, die er in dem Hause vornehmen werde, falls ihm seine Eltern das nötige Geld vorschießen wollten. Er war etwas jung, doch er fühlte, daß er das Zeug zu solch einem Unternehmen habe. In diesem Augenblick sah er Dreckbatzen, die im Dunkel an ihm vorüberschlüpfte. Er wollte zeigen, wie trefflich er mit dem andern Geschlecht umzugehen wisse, und versetzte ihr einen Klaps auf die Lenden. Das Mädchen gab ihm zunächst den Schlag zurück; dann erkannte sie die beiden einstigen Liebhaber und rief:

»Du bist's ... Wie du groß geworden bist!«

Sie lachte, vermutlich ihrer früheren Streiche gedenkend. Sie selbst hatte sich von den dreien am wenigsten verändert, trotz ihrer einundzwanzig Jahre sah sie noch heute wie ein unreifes Kind aus, so spindeldürr war sie geblieben. Sie küßte die beiden Burschen.

»Man ist doch immer noch gut Freund, nicht so?«

Sie wäre gleich dabei gewesen, wieder mit ihnen zu gehen; nur als alter Freundschaft, wie man zusammen ein Gläschen trinkt, wenn man sich nach langer Trennung wiedersieht.

»Weißt du,« sagte Ernst neckend, »ich übernehme vermutlich die Bude des Herrn Karl ... wenn du Beschäftigung suchst.

Ihr Lachen verstummte, sie brach in Tränen aus. Dann verschwand sie in der Finsternis, indem sie weinerlich rief:

»Die Gemeinheit! O die Gemeinheit! Ich lieb' dich nicht mehr!«

Delphin war stumm geblieben, wortlos zog er den Kameraden weiter.

»Aber sag', wohin führst du mich?« fragte Ernst. »Was willst du mir zeigen?«

»Komm nur, du wirst schon sehn.«

Er beschleunigte den Schritt, verließ die Straße und steuerte zwischen den Weingärten hindurch dem Häuschen zu, in welchem die Gemeinde den Feldhüter einquartiert hatte, seit der neue Geistliche das Pfarrhaus bezogen. Er ließ den Freund in die Küche treten und zündete ein Wachslicht an, augenscheinlich sehr zufrieden, daß die Eltern noch nicht heimgekehrt.

»Wir wollen eins trinken,« rief er und stellte zwei Gläser und einen Liter auf den Tisch.

Nachdem er getrunken, schnalzte er mit der Zunge und fing wieder an:

»Ich muß dir nämlich sagen, daß, wenn sie glauben, mich mit der schlechten Nummer gefangen zu haben, so irren sie sich ... Als ich beim Tode unseres Onkels Michel drei Tage in Orleans zubringen mußte, bin ich beinah krepiert, so krank hat mich die Entfernung vom Haus gemacht. Gelt? Du begreifst es nicht, aber, was willst du? Ich kann mir nicht helfen, ich bin wie ein Baum, der abstirbt, wenn man ihn aus seinem Boden reißt ... Sie würden mich nehmen, würden mich weiß Gott wohin schleppen, in Orte, die ich mein Lebtag nicht gesehen! Nein und nochmals nein, daraus wird nichts!«

Ernst, der ihn oft Ähnliches hatte vorbringen hören, zuckte die Achseln.

»Man redet so, und schließlich zieht man doch mit ... Es gibt eben Gendarmen.«

Ohne zu antworten, drehte sich Delphin um und griff mit der Linken nach einer kleinen Hacke, die zum Holzspalten diente. Darauf legte er mit größter Ruhe den Zeigefinger der Rechten auf den Tisch, hob das Beil; ein kurzer Schlag, und das Glied sprang zu Boden.

»Das wollt' ich dir zeigen. Jetzt kannst du den anderen erzählen, ob ich mich wie ein Feigling benommen oder nicht.«

»Donnerwetter, ist das ein Schafskopf!« rief Ernst entsetzt. »Mensch, wer um alles wird sich denn verstümmeln! Du bist ja kein Mensch mehr!«

»Mir gleichviel! ... Jetzt mögen die Gendarmen kommen! Ich weiß, ich brauch' nicht einzurücken.«

Er hob den Finger auf und warf ihn in die Kohlenglut des Herdes. Dann schüttelte er die blutende Hand, umwickelte sie mit seinem Taschentuch und band eine Schnur darüber, um die Blutung aufzuhalten.

»Das soll uns nicht hindern, die Flasche zu leeren, bevor wir zu den Kameraden zurückkehren ... Auf deine Gesundheit!«

»Deine Gesundheit!«

Im Schankzimmer bei Lengaigne sah und hörte man einander nicht mehr beim Rauch der Pfeifen und beim lauten Geschwätz der Zecher. Die Ausgehobenen waren dort, ihre Freunde und Verwandten. Auch Jesus und sein Freund Canon saßen bei einem Liter Branntwein und bemühten sich, den alten Fouan betrunken zu machen. Dem Feldhüter Becu hatte die unglückliche Losung seines Sohnes den Rest gegeben, er lag schnarchend, den Kopf auf dem Tisch. Delhomme und Clou spielten Pikett. Lequeu saß abseits, trotz des Lärmens in das Lesen eines Buches vertieft. Eine Schlägerei zwischen den Frauen der Schankwirte hatte noch mehr die Gemüter erhitzt. Flora nämlich, die zum Brunnen gegangen, um einen Krug Wasser zu holen, geriet dort mit Celine zusammen, die ihr voll Haß und Eifersucht ins Gesicht warf, Lengaigne lasse sich von den Spionen der Steuerbehörde bezahlen, um die Nachbarn zu verraten. Die beiden Weiber fielen übereinander her. Macqueron und Lengaigne eilten hinzu, um die Raufenden zu trennen; dabei wurden sie selbst fast handgemein; der erstere rief, er werde den Nachbar anzeigen, weil er den Tabak nässe; jener gab die höhnende Frage zurück, wann der Herr Schulze seine Entlassung einreiche? Alles strömte aus der Schenke dem Kampfplatz zu; Fäuste ballten sich, es wurde geschrien, geschimpft; fast schien es, als werde ein allgemeines Handgemenge entstehen. Jetzt war der Streit beigelegt, doch es blieb etwas wie ein unausgetobter Zorn, eine unbefriedigte Rauflust in den Gemütern zurück.

Zunächst schien es zwischen Viktor, dem Sohne des Hauses, und den Ausgehobenen zu Tätlichkeiten kommen zu wollen. Viktor, der bereits seine Dienstzeit hinter sich hatte, wollte den jungen Leuten imponieren, er schrie lauter als sie alle, forderte sie durch eigensinnig verteidigte Behauptungen heraus und schlug unsinnige Wetten vor; er werde einen Liter sich mit gehobener Flasche in den Schlund gießen, ohne daß die Flasche die Lippen berühre, oder den Inhalt eines Weinglases durch die Nase aufsaugen. Nur die Vermittlung der älteren Männer vermochte den ausbrechenden Streit beizulegen.

Plötzlich begann, weil gerade von Macqueron und der bevorstehenden Heirat seiner Tochter Bertha die Rede war, der junge Couillot die alten Späße über Bertha, die er »Fräulein Ohnedas« nannte. Man müßte ihren Mann nach der Hochzeitsnacht fragen, meinte er.

Zur Überraschung aller ereiferte sich Viktor, der ehemals zu den ärgsten Verleumdern Berthas gehört hatte.

»Jetzt ist's aber genug!« schrie er. »Sie hat!«

Ein allgemeines Gejohle folgte dieser Behauptung. Habe er es denn gesehen? Habe er mit ihr geschlafen? fragte man. Dagegen verwahrte er sich energisch, indem er auf seine Brust klopfte; man könne so etwas sehen, ohne daran zu rühren, versicherte er. Eines Tages, als ihn die Neugierde gar zu sehr plagte, habe er es so einzurichten gewußt, daß er sich Überzeugung verschaffte. Wie? das gehe niemanden an.

»Sie hat! Auf Ehrenwort!«

Der Streit verstummte; der kleine Couillot trollte sich von dannen.

Flora brachte mehr Wein herauf; scheinbar versöhnt stießen alle miteinander an. Niemand dachte daran, zum Abendessen heimzugehen; wenn man trinkt, hat man keinen Hunger. Die Ausgehobenen stimmten einen patriotischen Gesang an, wobei sie so mutig mit den Fäusten auf die Tische hieben, daß die an der Decke hängenden drei Petroleumlampen flackernd tanzten. Es wurde erstickend heiß; Delhomme und Clou öffneten das Fenster, vor dem sie saßen. In diesem Augenblick schlich Buteau ins Lokal. Er trug nicht die gewohnte, kecke Miene zur Schau; er blinzelte mit seinen trüben, kleinen Augen umher, schielte die Anwesenden einen nach dem andern verstohlen an, als wolle er erraten, was sie dächten. Zweifelsohne kam er, um zu hören, ob man irgend etwas vermute; es hatte ihn nicht länger in seiner Wohnung gelitten, die er seit dem vorherigen Abend noch nicht verlassen. Die Gegenwart von Jesus und Canon schien ihn noch mehr einzuschüchtern; er sagte ihnen kein Wort, als er gewahrte, daß sie den alten Fouan betrunken gemacht hatten. Lange sah er Delhomme mit forschendem Blick an. Besonders beschäftigte ihn Bécu, der trotz des tobenden Lärmes immer noch über den Tisch gebeugt lag. Schlief er wirklich, oder tat er nur so? Buteau stieß den Feldhüter mit dem Ellbogen; es beruhigte ihn, als er sah, wie jenem in seiner Trunkenheit der Geifer über den Ärmel floß. Fortan richtete sich seine ganze Aufmerksamkeit auf den Schullehrer, dessen Aussehen ihn verdutzte; was hatte der Mensch nur, daß er nicht wie alle Tage ausschaute?

In der Tat verriet, obwohl Lequeu sich scheinbar in seine Lektüre vertiefte, sein heftiges Mienenspiel eine innere Erregung. Die Ausgehobenen mit ihrem Gesang, mit ihrer törichten Freude empörten ihn.

»Dumme Bengel!« murmelte er, sich noch beherrschend.

Seit einigen Monaten schien seine Stellung in der Gemeinde erschüttert. Er war stets roh mit den Schulkindern gewesen, die er bei dem geringsten Vergehen mit Schlägen behandelte; doch letzthin hatte er einem kleinen Mädchen mit dem Lineal ein Ohr gespalten; das hieß der Langmut der Bauern zuviel zumuten. Man hatte eine Anzeige erstattet und um einen andern Schulmeister gebeten. Dazu kam die Heirat Berthas, welche die geheimen Hoffnungen zerstörte, die Lequeu so nah ihrer Erfüllung geglaubt. Diese Bauern, diese elende Rotte! Sie verweigerten ihm ihre Töchter und trieben ihn wegen des Ohres eines kleinen Mädchens aus Amt und Brot.

Plötzlich klatschte er mit seinem Buch in die Handfläche und schrie die jungen Leute an:

»Etwas Ruhe, alle Wetter! ... Es scheint euch ja ungeheuer lustig vorzukommen, daß euch die Preußen die Schädel spalten werden.«

Verwundert blickten sie sich nach ihm um. Allerdings lustig war es keineswegs, sie gaben es zu. Delhomme wiederholte seine Gedanken, jeder müsse sein eigenes Gehöft verteidigen, wenn dann die Preußen in die Beauce kämen, würden sie schon sehen, daß sie es mit keinen Memmen zu tun hätten. Aber fortziehen, sich für das Eigentum anderer schlagen, nein, das war zu dumm.

Ernst trat ein mit Delphin, der sehr rot im Gesicht aussah und fieberbrennende Augen hatte. Sie vernahmen die Worte Delhommes. Delphin rief:

»Sie sollen kommen, die Preußen, man wird ihnen schon heimleuchten!«

Er wurde gefragt, was seiner verbundenen Hand fehle. Nichts, eine Schnittwunde, meinte er, hieb mit der linken Faust auf den Tisch und verlangte einen Liter.

Canon und Jesus blickten mitleidig auf die laute Gesellschaft der Ausgehobenen. Mußte man jung und töricht sein! Canon, der sehr betrunken war, begann mit gerührter Stimme seine Gedanken allgemeiner Volksbeglückung vorzutragen. Er sprach laut, das Kinn in die Hand gestützt.

»Der Krieg! Teufel, es ist Zeit, daß wir das Heft in die Hand nehmen ... Ihr kennt meinen Plan, keinen Militärdienst mehr, keine Steuern, jedem vollkommene Gewähr dessen, was ihn glücklich machen kann, und so wenig Arbeit wie möglich ... Ihr werdet zugreifen, denn ihr müßtet ja blind sein ... Und es kommt! der Tag rückt heran, wo ihr euer Geld in den Taschen und eure Söhne daheim behaltet, wenn ihr mit uns seid.«

Jesus nickte zustimmend. Lequeu aber vermochte nicht mehr an sich zu halten.

»Jawohl, Schwätzer! Euer Paradies auf Erden, eure Art, die Welt zum Glück zu zwingen! Welch ein Schwindel! Ist denn so was bei uns denkbar? Sind wir nicht schon viel zu angefault dazu? Erst müssen die Wilden, die Kosaken oder Chinesen kommen und gründlich unter uns aufräumen.«

Die Überraschung ward so groß, daß alles verstummte. Wie? Dieser Duckmäuser, der niemals seine Meinung verraten, tat mit einemmal den Mund auf? Dieser Mensch, der aus lauter Angst vor seinen Vorgesetzten sich zur Seite schlich, sobald es galt, ein Mann zu sein, hielt plötzlich eine Rede? Alle fragten, besonders Buteau wartete mit besorgter Spannung, was der Schullehrer sagen werde, als könnten diese Dinge irgendeine Beziehung zu seiner Angelegenheit haben. Durch das offene Fenster hatte sich der Tabaksqualm verzogen, die Feuchtigkeit der Nacht drang herein, man fühlte in der Ferne den tiefen Frieden der schlummernden Flur. Der Schulmeister, den heute, wo seine Zukunft vernichtet war, nichts mehr beengte, machte sich endlich Luft und tobte den in zehnjährigem Schweigen angesammelten Haß aus.

»Glaubt ihr, die Leute hier im Land sind dümmer als ihre Kälber, daß ihr euch untersteht, ihnen vorzureden, die gebratenen Tauben werden ihnen in den Mund fallen? ...

Dummkopf, eh' ihr euer System verwirklicht seht, ist die Erde in Milliarden kleinster Teile zerstoben!«

Bei diesem heftigen Angriff geriet Canon, der noch nie seinen Meister gefunden, sichtlich aus der Fassung. Er wollte seine Geschichte wiederholen von der großen wissenschaftlichen Bodenkultur, wo aller Boden Staatseigentum sei, doch der andere schnitt ihm das Wort ab.

»Bekannt! Dummheiten! ... Wenn ihr eure Kultur versuchen werdet, sind schon lange die Äcker Frankreichs in der Überschwemmung amerikanischen Getreides untergegangen ... Seht, gerade dieses kleine Buch, das ich da lese, sagt vieles darüber ... Ja, ja, unsere Bauern können heimgehen, wir sind fertig.«

Mit einer Stimme, als unterweise er seine Schulkinder, begann er von dem Getreide da drüben zu reden. Dort gab's ungeheuere Ebenen; meilen- und meilenweit dehnten sich die Äcker und deckten Flächenräume wie Königreiche groß, daneben die Beauce wie eine Handvoll Sand ausschaute. Der Boden war so fruchtbar, daß, statt ihn zu düngen, man ihn vielmehr durch eine Vorernte zu schwächen suchte, und trotzdem trug er zweimal jährlich das herrlichste Korn. Die Güter faßten oft dreißigtausend Hektar, waren in Hälften geteilt und diese wieder in Viertel; jede Hälfte hatte ihren Direktor, jedes Viertel seinen Inspektor; für die Menschen, Tiere, Werkzeuge, Küchen waren Baracken errichtet. Jedes Frühjahr wurden ganze Bataillone von Ackerknechten angeworben, Trupps, die wie ein Heer im Kriege zusammengestellt waren, im Freien kampierten, verpflegt, bekleidet, in Krankheitsfällen ärztlich behandelt und im Herbste wieder entlassen wurden. Da galt es, kilometerlange Felder zu pflügen, zu säen, unabsehbare Ozeane von Ährenhalmen mußten abgemäht werden; bei all' diesen Verrichtungen wurden die Menschen nur als Aufseher verwendet, die eigentliche Arbeit verrichteten Maschinen: doppelte Pflüge, Säe-, Jät-, Mähmaschinen, Lokomobilen zum Dreschen und so weiter. Die Arbeiter waren Mechaniker, eine Abteilung berittener Handwerker befand sich im Gefolge der Maschinen, jeden Augenblick bereit, vom Pferd zu springen, um eine Schraube zu befestigen, einen Bestandteil zu ergänzen oder neu zu schmieden. Der Ackerboden war mit einem Wort eine Art Bank geworden, wurde von Finanzleuten bewirtschaftet, in genauer Regelmäßigkeit in riesigen Massenernten seiner Frucht entkleidet, gab der materiellen und unpersönlichen Herrin Wissenschaft das Zehnfache dessen, was ihm die schwerste Müh' und Sorgfalt des Bauern abzuringen vermag.

»Und ihr,« fuhr er fort, »die ihr nichts kennt, nichts wißt, noch lernen wollt, die ihr immer und ewig am Althergebrachten klebt, ihr bildet euch ein, dagegen ankämpfen zu können mit eurem armseligen Viersoushandwerkzeug? ... Wahnsinn! Schon überschwemmen sie euch mit ihrem Getreide, und es wird immer mehr kommen, immer neue Massen schleppen die Schiffe herüber. Jetzt steckt ihr schon bis zum Bauch in dem fremden Korn; wartet nur, bald reicht's euch bis an die Schulter, dann bis an den Mund, dann schlägt's über euren Köpfen zusammen. Ein gewaltiger Strom, eine Sintflut, in der ihr alle umkommen müßt.«

Die Bauern sperrten die Augen auf bei dieser Mär von der Überschwemmung des überseeischen Getreides. Schon litten sie unter dem Übel, sollten sie wirklich darin untergehen, wirklich hinweggerissen werden von der Riesenflut? Das Schreckgespenst gewann Form und Gestalt vor ihren erschreckten Sinnen, schon sahen sie Rognes, ihre Felder, die ganze Beauce verschlungen.

»Nein, nein, niemals!« rief Delhomme entsetzt. »Die Regierung wird uns beschützen.«

»Ein netter Hanswurst, die Regierung!« versetzte Lequeu verächtlich. »Sie soll zunächst sich selbst beschützen! ... Spaßig ist, daß ihr Herrn Rochefontaine gewählt habt. Der Besitzer der Borderie blieb wenigstens konsequent, indem er für Herrn von Chedeville stimmte ... Übrigens der eine oder der andere: es ist alles dasselbe Pflaster auf ein hölzernes Bein. Keine Kammer wird den Mut haben, für einen ausreichenden Schutzzoll zu stimmen. Ihr seid geliefert, meine Besten!«

Es entstand ein großer Lärm unter den Zuhörern. Alle sprachen gleichzeitig. Gab es kein Mittel, die Einfuhr des fremden Getreides zu verhindern? Man müsse die Schiffe in den Häfen versenken, die Landenden mit Flintenschüssen empfangen. Ihre Stimmen zitterten; sie hätten mit aufgehobenen Händen, mit Tränen flehen mögen, daß man sie von dieser Einfuhr befreie, die dem Lande mit dem Verderben drohte. Der Schulmeister stand hämisch lächelnd unter ihnen und fuhr fort: Das Übel sei nie dagewesen und sei unheilbar; früher war die einzige Bange, welche den Landmann geschreckt, die Hungersnot. Immerwährend fürchtete man, nicht genug Korn zu ernten; wenn man heute besorgt, zuviel zu haben, so bedeute das einfach das Ende von allem.

Der bleiche Mann berauschte sich selbst an seinen Worten, er überschrie die verzweifelten Entgegnungen der anderen.

»Ihr seid ein dem Untergange geweihter Stamm; eure närrische Liebe zur Erde hat euch zugrunde gerichtet; ja, nichts anderes als diese Affenliebe zu eurer Scholle, der ihr euch zu Sklaven gemacht, die euren Verstand beengt hat, für die ihr imstande seid zu morden. Seit Jahrhunderten habt ihr euch der Mutter Erde zu eigen gemacht, und sie hat euch betrogen ... Seht, in Amerika ist der Landmann der Herr des Bodens, kein Band fesselt ihn an denselben, keine Familie, keine Erinnerungen. Ist sein Feld ausgebeutet, so zieht er weiter. Erfährt er, daß man dreihundert Meilen nach Süden oder Norden ein fruchtbares Land entdeckt hat, so bricht er seine Zelte ab und siedelt sich in den neuen Gebieten an. Er ist es, der gebietet, der den Willen hat und dank seiner Maschinen die Kraft. Er ist frei, bereichert sich, während ihr Gefangene seid und im Elend verkommt.«

Buteau erbleichte, denn Lequeu hatte ihn angeblickt, als er von Mord gesprochen. Er versuchte, unbefangen zu scheinen.

»Man ist, wie man ist. Wozu sich aufregen? Sagen Sie doch selbst, daß es nichts hilft.«

Delhomme gab ihm recht, Lengaigne, Clou, Fouan lachten; Delphin selbst und die Ausgehobenen stimmten ein, die Sache machte ihnen Spaß, sie hofften im stillen, es werde Schläge absetzen. Canon und Jesus waren mißgelaunt, daß der Tintenscheißer, wie sie ihn nannten, sie mit seiner lauten Rede überboten. Sie höhnten und schlugen sich auf die Seite der Bauern.

»Es ist blödsinnig, sich so in die Hitze zu schwatzen,« rief Canon achselzuckend. »Man muß sich zusammentun.«

Lequeu hob drohend die Faust.

»Wohlan, ich hab's satt! ... Ich möchte, daß alles zugrunde gehe!«

Er war erdfahl geworden, als hätte er sie niedermachen mögen, so wild schrie er sie an:

»Feiges Gesindel, ihr Bauern! Alle, alle, elende Memmen! ... Wenn man bedenkt, daß ihr die Stärksten, die Zahlreichsten seid! Und ihr laßt euch von den Bürgern, von den Handwerkern in den Städten aussaugen. Wahrhaftig, mir tut nur leid, daß auch mein Vater und meine Mutter Bauern gewesen. Vielleicht deshalb flößt ihr mir noch mehr Ekel ein ... Denn eins ist gewiß. Ihr könntet die Herren sein. Aber ihr versteht euch nicht untereinander, ihr seid selbstsüchtig, mißtraut einer dem andern, wißt und versteht nichts; all euer Witz beschränkt sich auf das Bestreben, euch gegenseitig zu vernichten ... Was schlummert eigentlich hinter euren starren Gesichtern? Ihr gleicht jenen faulenden Wassertümpeln: man meint, sie sind tief, und man kann nicht mal eine Katze drin ersäufen. Mein Gott, die Kraft darstellen, die Kraft, von der man das Heil der Zukunft erwartet, und sich nicht mehr rühren wie ein Holzscheit! ... Dabei habt ihr aufgehört, dem Pfarrer Glauben zu schenken; ja, alle Wetter, wenn es keinen lieben Gott gibt, was hält euch dann zurück? Solange ihr euch vor der Hölle gefürchtet habt, begreift man, daß ihr knechtisch am Boden gekrochen seid; aber jetzt schlagt doch los, plündert alles, brennt alles nieder! ... Und seht, was noch leichter und noch drolliger wäre: streikt! Ihr habt alle etwas Geld beiseite gebracht, könnt aushalten, solange es sein muß. Arbeitet nur für euch, baut nur für euren Bedarf; tragt nichts mehr auf die Märkte, nicht einen Sack Getreide; nicht einen Scheffel Kartoffeln. Ha, wie die in Paris verhungern müßten! Wie das aufräumen würde unter der Bande!«

Es war, als sei ein eisiger Hauch aus ferner schwarzer Finsternis durchs offene Fenster hereingezogen. Die Petroleumlampen rauchten. Niemand unterbrach mehr den Tobenden trotz der Schmähungen, mit denen er sie überhäufte.

Jetzt kreischte seine Stimme, er hieb mit seinem Buche auf den Tisch, daß die Gläser tanzten.

»Ich sag' euch das alles, aber ich bin unbesorgt ... Mögt ihr auch feig sein, wenn die Stunde kommt, werdet ihr dreinschlagen wie Helden. Das ist oft so gewesen, es wird wieder so kommen. Wartet nur, bis euch Elend und Hunger gleich Wölfen auf die Stadt werfen ... Und die Einfuhr des fremden Getreides wird vielleicht als Anstoß dienen. Mag noch soviel herüberkommen, es wird doch mal wieder zu wenig sein, Hungersnot und Mangel werden ins Land einziehen. Immer ist das Getreide die Veranlassung, daß man sich empört und tötet ... Ja, ja, die Städte werden eingeäschert und geschleift werden, die Dörfer verwüstet, die Äcker werden brach liegen, Blut, Ströme Blutes werden fließen, aus dem unseren Nachkommen neues Brot erwachsen wird.«

Er verstummte, riß die Tür auf und verschwand. Bestürzt schaute man ihm nach, und ein Schrei erhob sich. Der Bandit! Man hätte ihn niedermachen sollen! Und der Mensch war immer so still gewesen! Er mußte den Verstand verloren haben! Delhomme, der sonst so wortkarge, stille Mann, erklärte, er werde an den Präfekten schreiben, und die anderen bestärkten ihn in diesem Vorsatz. Besonders aber waren Jesus und Canon aufgeregter denn je, der erste mit seinem 89, seinen Reden von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, der andere mit seiner sozialen Umgestaltung. Die beiden waren blaß vor Unwillen, daß sie kein Wort der Entgegnung gefunden; lauter als die Bauern gaben sie ihrer Empörung Ausdruck, erklärten, einen Frevler solcher Art müsse man köpfen. Buteau hatte sich mit einem Schauer erhoben, als jener mit seiner zornigen Miene Ströme Blutes auf die Erde herabbeschworen. Wie unbewußt zustimmend, nickte der Bauer bei diesen Worten; dann schlich er längs der Wand dahin, blickte sich um, ob ihm niemand folge, und schlüpfte ins Freie.

Die Ausgehobenen fuhren in ihrem Gelage fort; sie lärmten, schrien, verlangten, Flora solle ihnen Würste kochen. Plötzlich aber drängte sich Ernst zwischen ihnen hervor und sprang über eine Bank auf Delphin zu, der ohnmächtig zusammengebrochen war. Der Bursch war kreideweiß. Sein Taschentuch hatte sich gelöst; es war mit Blut durchtränkt. Man weckte den immer noch schlummernden Feldhüter auf; der trunkene Alte gewahrte die verstümmelte Rechte seines Sohnes, er schien zu verstehen; Wut übermannte ihn, er schwang seinen Liter, indem er rief, er müsse den Elenden umbringen. Hierauf hob er Delphin auf, schleppte den Taumelnden hinaus, und man hörte, wie er zwischen Flüchen und Verwünschungen in Tränen ausbrach.

Abends beim Essen erfuhr Hourdequin von dem Unglück, das Franziska widerfahren; aus Freundschaft zu Hans machte er sich auf den Weg nach Rognes, um sich nach dem Befinden der Verwundeten zu erkundigen. Er ging, seine Pfeife rauchend, zu Fuß durch die dunklen Wege; inmitten der todstillen Nacht dachte er an seinen eigenen Kummer; um den Weg zu verlängern, ging er ins Tal hinab, bevor er bei seinem einstigen Knechte vorsprechen wollte. Vor der Kneipe Lengaignes vernahm er die unheilverkündende Stimme Lequeus, die durch das offene Fenster hallte. Er blieb stehen und verweilte lange Zeit unbeweglich in der finsteren Straße. Endlich stieg er wieder bergan; doch die Sprache des Schulmeisters tönte hinter ihm her; noch vor dem Hause Korporals hörte er sie immer deutlich vernehmbar, dünn und schneidend klingend, wie geschärft durch die Entfernung, als wenn Messer schnitte die Finsternis durchhieben.

Hans stand vor der Tür ans Haus gelehnt. Er vermochte nicht im Zimmer zu bleiben, ihm ward zu bange darin, sein Schmerz war zu furchtbar.

»Nun, armer Kerl, wie geht's bei Euch?«

Der Unglückliche machte eine verzweifelte Gebärde.

»Herr, sie stirbt!«

Keiner der beiden Männer sprach ein Wort mehr; in der Stille der Nacht drang nur die Stimme des Schulmeisters immer noch mit zitterndem Klang durch das Dorf herauf.

Nach einigen Minuten rief der Hofbesitzer, der unfreiwillig gehorcht hatte:

»Hört Ihr ihn kläffen? Wie das tröstlich klingt, was er sagt, wenn man das Herz voll hat.«

All sein alter Schmerz wachte auf, wie er hier bei der sterbenden Frau die schreckliche Stimme aus der Schenke vernahm. Die Mutter Erde, die er liebte mit einer empfindsamen, fast durchgeistigten Leidenschaft, sie richtete ihn seit den letzten Ernten vollends zugrunde. Sein ganzes Vermögen war ihr anheimgefallen; bald warf ihm die Borderie nicht mehr das tägliche Brot ab. Nichts hatte ihm geholfen; seine Willenskraft, die neuen Bewirtschaftungsarten, die Versuche mit allerhand Dünger, die Maschinen, alles war unnütz gewesen. Er meinte, der Mangel an ausreichenden Kapitalien habe seine Niederlage verschuldet; und doch wieder mußte es nicht das sein, denn das Unglück war allgemein; die Robiquels waren letzthin behördlich aus der Chamade ausgewiesen worden, die Coquarts mußten demnächst ihr Gut Sankt Justus verkaufen. Kein Ausweg, keine Möglichkeit, seine Ketten zu sprengen, mehr als je war er heute der Gefangene seines Grund und Bodens; das Tag für Tag hineingesteckte Geld, die unaufhörlich darauf verwandte Arbeitskraft fesselten ihn mehr und mehr an seine Scholle. Immer näher rückte die Katastrophe heran, die den hundertjährigen Widerstreit zwischen Klein- und Großgrundbesitz beenden sollte, indem er beide vernichtete. Schon stellten sich die deutlichen Vorboten ein, das Getreide stand unter sechzehn Franken und wurde mit Verlust verkauft; der Bankerott des Landbesitzes stand vor der Tür, herbeigeführt von sozialen Ursachen, die stärker sind als der Wille der Menschen.

In dem ohnmächtigen Schmerz seiner Niederlage rief Hourdequin:

»Lequeu hat recht! ... Mag denn alles zugrunde gehen, mögen wir alle umkommen, mag das Unkraut auf unseren Äckern wuchern, unser Geschlecht hat ausgelebt, und der Boden ist erschöpft.«

Ihm fiel Jacqueline ein, und er setzte hinzu:

»Ich hab', Gott sei Dank, ein anderes Leid in der Brust, das mich hinrafft, ehe es so weit kommt.«

Aber im Hause hörte man jetzt die Große und die Frimat hin und her eilen und flüstern. Hans blieb, schreckerbebend bei diesem Geräusch, regungslos an die Wand gelehnt. Endlich raffte er sich auf und trat ein. Franziska war tot. Sie hatte die Augen nicht wieder aufgeschlagen, die Lippen nicht mehr geöffnet. Die Große, die eben ihre Hand berührt, sah, daß sie gestorben; ihr Tod mochte schon vor einer Weile eingetreten sein. Sie war sehr weiß, ihr Gesicht war dünn und spitz, sie schien zu schlummern. Am Fußende des Bettes, blickte Hans sie an; verworrene Gedanken bewegten sich in seinem Hirn: sein Schmerz, die Überraschung, daß sie kein Testament hatte machen wollen, die Empfindung, wie etwas in seinem Dasein jäh zerbrach.

Hourdequin grüßte stumm und verließ das Zimmer, noch immer von seinem Kummer bedrückt. Vor dem Hause sah er, wie ein Schatten sich am Fenster löste und in das Dunkel dahinstürmte. Er meinte, es sei ein herumirrender Hund gewesen. Es war Buteau, der gelauscht hatte und jetzt heimrannte, um Lise den Tod der Schwester zu melden.


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