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Fünftes Kapitel.

Am nächsten Vormittage wurde die Leiche Franziskas aufgebahrt. Man hatte eben den Sarg auf zwei Stühle inmitten des Schlafzimmers gelegt, als Hans mit Entrüstung gewahrte, wie Lise und Buteau hintereinander das Haus betraten. Sein erster Gedanke war, die beiden hinauszuwerfen, waren sie doch nicht gekommen, von der Sterbenden Abschied zu nehmen, sondern erschienen erst jetzt, nachdem der Sargdeckel geschlossen worden, als wenn sie den Anblick der Verunglückten gefürchtet hätten. Aber die anderen anwesenden Mitglieder der Familie, Fanny und die Große, beschwichtigten ihn: es bringe kein Glück, sich an einer Bahre zu streiten, und schließlich, was wolle man tun: man könne es der Lise nicht verwehren, wenn sie ihren Groll gegen die Schwester auslöschen wolle, indem sie an ihrer entseelten Hülle Leichenwache halte.

Die Buteau hatten darauf gerechnet, daß die Achtung, die man den Toten schuldet, eine Szene verhindern werde; sie ließen sich in dem Sterbezimmer nieder. Sie sprachen nicht aus, daß sie mit dieser Handlung wieder Besitzt von dem Hause ergreifen wollten; doch die Art und Weise, wie sie sich gebärdeten, verriet deutlich, daß ihnen diese Besitznahme natürlich und selbstverständlich erschien, da ja Franziska nicht mehr lebte. Zwar war Franziska noch gegenwärtig; doch man hatte sie schon eingesargt für die große letzte Reise; sie bedeutete in dieser Stunde nicht mehr als ein Möbel. Nachdem Lise eine Weile mit den anderen dagesessen, erhob sie sich, öffnete die Schränke und guckte in die Schubläden, ob noch alles an seinem Platze sei. Buteau strich im Hofe und Stall herum wie ein Hauswirt, der nach dem Rechten sieht. Abends schienen sie sich bereits vollkommen daheim zu fühlen; nur der Sarg dort mitten im Zimmer störte sie noch. Doch sie brauchten ja nur eine Nacht zu warten; früh am nächsten Morgen war die Luft rein.

Hans kam und ging, verstört und verlegen inmitten der Verwandten, als wisse er nicht recht, was mit sich anfangen. Zuerst waren ihm das Haus, die Möbel, die Leiche Franziskas als sein Eigen erschienen, doch je mehr die Stunden verflossen, desto mehr kam es ihm vor, als löse sich alles nach und nach von ihm los und falle den anderen zu. Als es Abend geworden, sprach niemand ein Wort mehr mit ihm; er spielte nur noch die Rolle eines geduldeten Eindringlings. Noch nie war ihm so klar und schmerzlich die Empfindung geworden, daß er ein Fremder unter diesen Leuten sei, daß er allein stehe, daß sich alle gemeinschaftlich verbündeten, um ihn aus ihrer Mitte auszuschließen. Selbst sein armes totes Weib schien mit ihnen im Bunde: als er sich neben ihrer Bahre niederlassen wollte, bedeutete ihm Fanny, er sollte sich nicht der Mühe der Nachtwache unterziehen, da der Wachenden schon genug seien. Er hatte auf seinem Rechte bestanden, kurz darauf aber erhob er sich wieder: ihm fiel das Bargeld in der Kommode ein, die hundertsiebenundzwanzig Franken; er mußte verhindern, daß dieser Sparpfennig abhanden komme. Lise mußte das Geld gesehen haben, als sie die Schubladen geöffnet; sie war auch das unbeschriebene Stempelpapier gewahr geworden, sie hatte darauf leise mit der Großen gewispert, und von jenem Augenblick an begann sie in dem Bewußtsein, daß kein Testament da sei, sich so recht wie in ihren eigenen vier Pfählen zu fühlen. Wenigstens sollte sie nicht das Geld bekommen, dachte Hans von einer Vorahnung beschlichen und steckte die kleine Summe zu sich. Danach verbrachte er die Nacht auf einem Stuhle neben dem Sarge seiner Frau.

Um neun Uhr früh fand die Beerdigung statt. Der Abbé Madeline, der am selben Tage die Pfarrei verlassen sollte, las die Totenmesse und begleitete die Leidtragenden zum Grabe; dort aber verließen ihn seine Kräfte, er fiel in Ohnmacht und mußte besinnungslos fortgetragen werden. Das Ehepaar Karl war erschienen, ebenso die Delhommes mit ihrem Sohne Ernst. Es war ein anständiges Leichenbegängnis, ohne jeden überflüssigen Kostenaufwand. Hans weinte. Auch Buteau wischte sich die Augen; doch sie waren trocken. Lise hatte im Augenblick des Aufbruches erklärt, sie fühle sich zu angegriffen, um den Resten ihrer Schwester das Geleite geben zu können; sie war also im Hause geblieben, während die Große, Fanny, die Frimat, die Bécu und andere Nachbarinnen den Trauerzug bildeten. Bei der Rückkehr vom Friedhofe verzögerten all diese Weiber auf dem Kirchplatze absichtlich ihre Schritte, um der Szene beizuwohnen, die folgen werde.

Bisher hatten die beiden Männer, Hans und Buteau, vermieden, einander anzublicken, als fürchteten sie, neben dem kaum erstarrten Leichnam handgemein zu werden. Jetzt wandten sich beide mit entschlossenem Schritt dem alten Stammhause zu, wobei einer den andern von der Seite anschielte. Schon von weitem sah Hans, warum Lise sich von der Trauerfeier ausgeschlossen: sie hatte die Zeit benutzen wollen, um wenigstens im Großen ihre Übersiedelung zu bewerkstelligen. Eine Stunde hatte ihr hierzu genügt. Wäsche und Bettzeug waren über die Mauer der Frimat geworfen worden; zerbrechliche Gegenstände hatte sie auf einem Schubkarren hergeführt; zum Schluß schob sie Laura und Julius in den Hof, wo sich die beiden Kinder bereits balgten, während der alte Fouan, den sie ebenfalls mit unsanfter Hast herüberbefördert, auf einer Bank saß. Das Haus war wieder erobert.

»Wohin willst du?« fragte Buteau, indem er Hans vor der Tür in den Wieg trat.

»Nach Hause.«

»Nach Hause? Wo ist das? ... Sicher nicht hier. Hier sind wir zu Hause.«

Lise kam herzu; sie stemmte die Hände in die Hüften und rief lauter und heftiger als ihr Mann:

»Was will er? Was hat der hier zu suchen? Hat nicht meine arme Schwester deutlich ausgedrückt, daß er nicht hierher gehört, indem sie ihm nichts hinterlassen? ... Schlag drein, Buteau, jag' ihn zum Teufel!«

Hans machte den Versuch, die Sache in Güte zu schlichten:

»Ich weiß wohl, daß Haus und Feld euch zukommen. Aber mir gehört die Hälfte der Möbel und der Tiere.«

»Die Hälfte?« versetzte Lise. »Unverschämter Lump, wie kannst du dich unterstehen, nur das Geringste zu fordern! Du Bettler hast ja nichts wie dein Hemd am Leib' gehabt, als du hierher gekommen. Mir scheint, du machst ein Geschäft mit dem Heiraten.«

Buteau stimmte ihr bei.

»Sie hat recht, troll dich weiter ... Du bist mit Wams und Hose gekommen, geh' damit deiner Wege.«

Die Familie, besonders die Frauen, Fanny und die Große standen an dreißig Meter von der Pforte entfernt und schienen durch ihr Schweigen das Vorgehen der Verwandten zu billigen. Hans aber erbleichte, als man ihm diese elende Berechnung vorwarf; ebenso laut wie die beiden gab er zurück:

»Ihr sucht Händel, gut! Zunächst bleib' ich hier; das ist mein Recht, solange die Teilung nicht geschehen. Dann aber werd' ich Herrn Baillehache holen, der alles versiegeln soll ... Ich bin hier in meinem Heim; ihr habt euch hinauszuscheren!«

Er ging mit so drohender Gebärde auf Lise los, daß sie von der Tür zurückwich. Buteau aber stürzte sich auf ihn; die beiden Männer gerieten einander drängend bis mitten in die Küche. Dort nahm der Streit seinen Fortgang; die Verwandten vor dem Hause warteten ab, wer hinausgeworfen würde, der Mann oder Schwager und Schwester.

»Zeigt mir das Papier, das euch hier zu Herren einsetzt.«

»Wir brauchen kein Papier, es genügt, daß wir in unserm Rechte sind.«

»So kommt mit Gerichtsvollzieher und Gendarmen, wie wir es getan haben.«

»Gendarmen? Gerichtsvollzieher? Nur die Halunken brauchen das. Wenn man ehrenhaft ist, macht man seine Sache allein ab.«

Hans stemmte sich an den Tisch und klammerte sich fest; er wollte nicht hinaus, er mußte um jeden Preis der Stärkere sein, durfte nicht dies Haus verlassen, in welchem seine Frau gestorben, und wo das ganze Glück seines Lebens gewohnt hatte. Buteau auf der andern Seite des Tisches wollte den eroberten Platz nicht preisgeben: er sah, daß es so nicht ging; plötzlich sprang er vor:

»Genug der Redereien! Hinaus Schuft!«

Der andere ergriff einen Schemel und schleuderte denselben seinem Gegner zwischen die Beine. Buteau stolperte; Hans aber schlüpfte in das zweite Zimmer, um sich dort zu verbarrikadieren. Da erinnerte sich Lise plötzlich des in der Kommode gesehenen Geldes; sie meinte, jener wolle es nehmen, sie stürzte sich auf das Möbel, öffnete die Schublade:

»Heiland der Welt, der Räuber hat das Geld gestohlen!«

Jetzt war Hans verloren, denn er mußte seine Tasche verteidigen. Er schrie, das Geld sei sein, er wolle mit ihnen abrechnen, sicher müßten sie ihm noch mehr draufzahlen. Doch seine Angreifer hörten nicht; beide fielen über ihn her, Lise hieb auf ihn ein, Buteau drängte ihn; plötzlich war er wieder in die Küche hinausgeschoben, und dort wälzten sich alle drei in einem Knäuel, daß die Möbel polternd hin und her fielen. Mit einem Fußtritt befreite sich Hans von der Frau. Noch wütender fiel sie von neuem über ihn her, krallte ihre Nägel in seinen Nacken; Buteau aber beförderte ihn mit einem mächtigen Stoß jählings durch die Hoftür hinaus, so daß er vor dem Hause zu Boden stürzte.

Jetzt versperrten Mann und Frau den Eingang, indem sie schrien:

»Räuber, Räuber! Er hat unser Geld gestohlen, der Räuber! der Räuber!«

Hans erhob sich. Er fieberte vor Zorn und Schmerz.

»Gut,« rief er, »ich gehe zum Richter in Chateaudun, der wird mir zu meinem Rechte verhelfen; mit Gewalt müßt ihr wieder hinaus, und ich verklag' euch auf Entschädigung ... Lebt wohl!«

Er hob zum letztenmal drohend die Faust und verschwand gegen die Anhöhe hin. Die Familie hatte sich vorsichtig zurückgezogen, als die Balgerei begonnen; denn niemand mochte in einen möglichen Prozeß als Zeuge verwickelt werden.

Die Buteau aber erhoben ein wildes Siegesgeschrei. Endlich hatten sie den Fremden, den Eindringling hinausgeworfen, waren wieder eingezogen in ihr Haus. Sie hatten ja vorhergesagt, daß sie das alte Haus wieder ihr eigen nennen würden! Das Haus! Das Haus! In dem Bewußtsein, diesen ehrwürdigen Stammsitz, den einst einer der Vorfahren gebaut, von neuem in ihren Händen zu haben, überkam sie eine närrische Freude, sie sprangen und rannten durch die Räume, jauchzten, schrien, lärmten wie toll: sie waren in ihrem Heim! Die Kinder, Laura und Julius, kamen herzu und trommelten lustig auf einem alten Eisentopfe. Nur der alte Fouan war auf seiner Steinbank am Hofe geblieben und blickte mit seinen trüben Augen stumpf und ernst auf dies laute Treiben.

Mit einemmal hielt Buteau inne.

»Herr du meines Lebens! Er ist die Anhöhe hinaufgegangen, wenn er nur dein Feld nichts antut!«

Dies war widersinnig; doch der plötzliche Gedanke an die Äcker regte ihn auf, das Bewußtsein, daß auch der Landbesitz ihm wieder zufalle, versetzte ihn in eine unbändige Freude, während ihn gleichzeitig eine ängstliche Besorgnis überkam. Das Land lag ihm noch mehr am Herzen als das Haus! Dieser Strich Acker dort oben, der das Loch zwischen seinen beiden Feldern wieder ausfüllte, wieder jene herrlichen drei Hektar bildete, ein Grundgebiet, wie es selbst Delhomme nicht besaß! Der ganze Körper des Mannes begann zu zittern vor Erregung, als sei ihm ein heiß ersehntes und schon verloren geglaubtes Weib zurückgekehrt. Ein Zweifel rannte ihm durchs Hirn, eine sinnlose Angst, das Feld möge nicht mehr dort oben sein, der andere könne es fortgetragen haben. Er versicherte, er leide zu sehr, er müsse sich vergewissern, und rannte davon.

Hans war in der Tat geradezu auf die Ebene hinausgegangen, um das Dorf zu vermeiden; aus alter Gewohnheit schlug er die Richtung nach der Borderie ein. Als Buteau ihn gewahrte, strich er gerade längs des Ackerfeldes dahin; er blieb nicht stehen, er warf nur einen traurigen Blick auf die Schollen: sie hatten ihm Unglück gebracht! Feuchten Auges gedachte er des Tages, wo er zum erstenmal hier seiner Franziska begegnete; war es nicht an dieser Stelle, wo einst Coliche das kleine Mädchen in das Kleefeld geschleift! Langsamen Schrittes setzte er seinen Weg fort, und Buteau, der ihn in der Furcht vor irgendeiner Rachetat mißtrauisch mit den Augen verfolgte, kam jetzt ebenfalls heran. Er stellte sich vor dem Acker auf und blickte ihn lange an: da lag er immer noch unversehrt, niemand hatte ihm einen Schaden zugefügt. Seine Brust hob sich in übergroßer Freude; er hatte ihn wieder, diesen schönen, gesunden Strich Landes; er war sein, und niemand konnte ihn ihm mehr nehmen! Er bückte sich, griff mit beiden Fäusten eine Handvoll Erde, zerkrümelte sie, roch daran und ließ sie durch die Finger rollen. Ja, es war dieselbe Erde, sein altes Feld, wie es einst gewesen. Buteau machte sich auf den Heimweg, trällerte ein Lied dabei und war wie trunken von dem Dufte, den er eingeatmet.

Inzwischen ging Hans, den Blick am Boden, ohne zu wissen, wohin ihn seine Füße trugen. Zuerst hatte er sich nach Cloyes zu Herrn Baillehache begeben wollen, um durch dessen Vermittlung die Wiedereinsetzung in sein Haus zu erwirken. Darauf schwand sein Zorn; erzwang er heute den Eintritt in sein einstiges Heim, so mußte er es doch morgen wieder räumen; warum also diesen Schmerz nicht gleich mit einemmal verwinden, die Sache war doch unwiderruflich. Die Kanaillen hatten recht: arm war er gekommen, arm ging er wieder von hinnen. Mehr als alles machte ihm das Herz schwer und nahm die Lust ihm und den Mut, länger Widerstand zu leisten, die Erwägung, Franziska müsse gewünscht haben, daß es so komme, denn sie hatte ihm ja nichts vermacht. Darum ließ er seinen Plan fallen; als der wiegende Gang seinen Zorn neu anfachte, dachte er nur noch, die Buteau zu verklagen, damit sie ihm sein Teil herausgeben, die Hälfte von allem, was in die Gütergemeinschaft einbegriffen war. Man solle sehen, ob er sich so mir nichts dir nichts die Butter vom Brot nehmen lasse.

Er hob den Blick und war nicht wenig überrascht, als er sich vor der Borderie befand. Eine Erwägung, deren er sich in seiner überreizten Gemütsstimmung nur halb bewußt geworden, hieß ihn auf dem Gute Zuflucht suchen. In der Tat, wenn er das Land nicht verlassen wollte, konnte er nicht hier Kost, Wohnung und Arbeit finden? Hourdequin hatte ihn immer hoch geschätzt; er zweifelte keinen Augenblick, unverzüglich von ihm aufgenommen zu werden.

Doch aus der Entfernung sah er plötzlich zu seiner Bestürzung, wie die Cognette in größter Aufregung über den Hof eilte. Es hatte sich etwas Schreckliches in der Borderie zugetragen: frühmorgens, als Jacqueline vor der Magd in das Gehöft hinabsteigen wollte, fand sie die Falltür des Milchkellers, die so unglücklich am Fuße der Wohnungstreppe gelegen war, offen, und unten in der Tiefe lag Hourdequin mit gebrochenem Kreuz. Die Frau schrie, alles stürzte herbei; der Herr hatte bereits den Geist aufgegeben. Man hatte ihn im Speisezimmer auf eine Matratze gebettet; Cognette aber stand kopflos in der Küche, das tränenlose Gesicht verzerrt und unvermögend, irgendeinen Entschluß zu fassen.

Sobald sie Hans gewahrte, machte sie mit erstickter Stimme ihrem Herzen Luft:

»Ich hab' immer gesagt, man soll die Falltür verlegen ... Wer aber hat sie nur öffnen können? Ich bin sicher, daß ich sie geschlossen hab', als ich gestern abend hinaufging ... Seit heute früh zerbrech' ich mir den Kopf.«

»Der Herr ist also vor Euch hinabgegangen?« fragte Hans, dem der Vorfall zu denken gab.

»Ja, es war kaum Tag ... Ich schlief. Es kam mir so vor, als rufe ihn jemand von unten, vielleicht hab' ich's geträumt ... Er stand oft so vor Tagesanbruch auf, um zu überwachen, daß die Knechte nicht die Zeit verschlafen ... Er muß die Öffnung nicht gesehen haben und ist hineingestürzt. Aber wer nur hat die Falltür geöffnet? Es ist, um närrisch zu werden.«

Hans kam ein Verdacht, den er jedoch sofort fallen ließ. Sie hatte kein Interesse an diesem Todesfalle, ihre Verzweiflung war ungeheuchelt.

»Das ist ein großes Unglück,« murmelte er.

»Ja, ein großes Unglück für mich, ein sehr großes Unglück.«

Sie sank auf einen Stuhl, vollständig gebrochen und zerschmettert, als sei alles über ihr zusammengestürzt. Der Herr, der sie heiraten wollte, um seine rechtmäßige Frau zu werden, der geschworen hatte, ihr alles testamentarisch zu vermachen, war gestorben, ohne daß er irgendeine Verfügung getroffen hätte. Sie werde nicht einmal ihren Lohn ausbezahlt erhalten; der Sohn werde kommen und sie hinauswerfen, wie er es versprochen! Ihr bleibe nichts! Etwas Schmuck und Wäsche, die Kleider, die sie trage, sonst nichts, nichts!

Was Jacqueline in ihrer furchtbaren Aufregung zu erwähnen vergaß, war der Abschied des alten Soulas, dessen Entlassung sie endlich gestern bei Hourdequin durchgesetzt. Sie hatte ihn für zu alt erklärt, hatte gemeint, er könne seinen Dienst nicht mehr ausreichend versehen; denn es war ihr unerträglich geworden, sich immerfort von dem Alten umspäht zu wissen. Obwohl Hourdequin ihre Meinung betreffs seines treuen Dieners nicht teilte, hatte er schließlich nachgegeben, er besaß ihr gegenüber keinen Willen mehr. Als Soulas in freundlichen Worten und unter tröstenden Versprechungen für seine alten Tage dieser Bescheid wurde, blickte er seinen Herrn starr an mit seinen verblaßten Augen. Dann begann er langsam alles auszupacken, was er gegen diese Dirne, die Urheberin seines Unglückes auf dem Herzen hatte. Er erzählte, wie sie es mit allen Knechten, allen Männern gehalten, die je auf dem Gut gewesen, wie sie endlich Tron genommen, wie schamlos sie es mit dem Burschen trieb, wie jedermann auf dem Gutshofe, jedermann im ganzen Lande um die Sache wisse, so daß es überall heiße, der Herr müsse die Überbleibsel seiner Knechte lieben, denn es sei unmöglich, daß er nicht wisse, was um ihn her vorgehe. Vergeblich hatte Hourdequin versucht, dem Redestrom des Greises Einhalt zu gebieten: er wollte nicht mehr erfahren, denn er fürchtete sich davor, seine Geliebte hinauswerfen zu müssen; doch der Alte ließ sich nicht unterbrechen, erzählte alles, vergaß nicht ein einziges Stelldichein der Cognette, das er überrascht. Sie ahnte von alldem nichts; Hourdequin war in seine Felder hinausgestürmt, damit er sich im ersten Zorne nicht hinreißen lasse, sie zu erwürgen; als er zurückkam, gab er einfach dem Tron unter irgendeinem Vorwande den Abschied. Sie schöpfte wohl Verdacht und wagte nicht, für ihren Liebhaber Einspruch zu tun; alles, was sie für ihn erbat, war die Erlaubnis, daß er noch eine Nacht auf dem Hofe bleiben dürfe; sie hoffte, es werde ihr bis zum nächsten Tage gelingen, die Sache beizulegen. All dies war aus ihrem Gedächtnis entschwunden, bei diesem entsetzlichen Schicksalsschlag, der ihre zehnjährige Berechnung über den Haufen warf.

Hans befand sich mit ihr allein in der Küche; da erschien Tron. Sie hatte den Burschen seit dem vorigen Tage nicht zu Gesicht bekommen; jetzt hatte sie kaum einen Blick auf den Riesen mit der roten Gesichtsfarbe geworfen, der in einer gewissen scheuen Art über die Schwelle trat, als ihr ein Schrei entfuhr:

»Du hast die Falltür geöffnet!«

Plötzlich ward ihr alles klar; der Bursche glotzte sie leichenblaß mit seinen runden Kinderaugen an, öffnete die zitternden Lippen und brachte kein Wort hervor.

»Du hast die Tür aufgemacht und hast ihn gerufen, damit er hinabstürze!«

Entsetzt trat Hans beiseite. Die beiden schienen übrigens in ihrer leidenschaftlichen Erregung seine Gegenwart vergessen zu haben. Tron neigte das Haupt und gestand mit dumpfer Stimme seine Tat:

»Ja, ich war's ... Er hatte mir den Abschied gegeben; ich hätte dich nicht mehr sehen können, das war unmöglich ... Und dann hab' ich schon lang' gedacht, wenn er stürbe, könnten wir unbehindert zusammen sein.«

Sie hörte erstarrt zu; während der Koloß jetzt mit zufriedenem Grunzen enthüllte, was in seinem harten Schädel vorgegangen, wie er jahrelang von wilder Eifersucht geplagt worden gegen den Herrn und Gebieter, wie der Plan seines Verbrechens in ihm reif geworden, um sich den Besitz dieses Weibes, das er für sich allein wollte, zu versichern.

»Als mir der Anschlag gelungen, meinte ich, du werdest zufrieden sein ... Wenn ich dir nichts davon gesagt hab', war's, um dich nicht in Verlegenheit zu bringen, dem Gerede der Leute gegenüber ... Nun und jetzt, wo alles vorüber und er uns nicht mehr im Wege ist, bin ich gekommen, damit wir uns heiraten.«

Nicht mehr Herrin ihrer Wut, brach Jacqueline mit roher Stimme los:

»Dich? Aber ich lieb' dich nicht, ich will dich nicht! ... Du hast ihn getötet, um mich zu heiraten! Du bist noch dümmer, als ich geglaubt habe. Solch ein Wahnsinn, bevor ich seine Frau war, bevor er ein Testament gemacht! ... Du hast mich zugrunde gerichtet, hast mir das Brot vorm Munde genommen. Mir hast du das Kreuz gebrochen, du Vieh, verstehst du das wenigstens jetzt? ... Und du meinst, ich zieh' mit dir? Bist du verrückt, Mensch? Schau mich doch an, du Tropf!«

Jetzt stierte er sie offenen Mundes an, so etwas hatte er sich nicht träumen lassen.

»Weil ich mich mit dir abgegeben, weil wir uns zusammen vergnügt haben, bildest du dir ein, ich werd' mich mein Lebtag von dir Esel langweilen lassen? .. Dich heiraten! Nein, tausendmal nein! Ich würde mir jemand aussuchen, der mehr Hirn im Kopf hat als du, wenn ich durchaus einen Mann wollte! ... Geh, troll dich weiter, ich mag dich nicht mehr ansehn ... Ich lieb' dich nicht, will dich nicht, scher' dich zum Teufel!«

Ein gewaltiger Zorn packte den Riesen. Wie? Er hätte getötet ohne irgendwelchen Nutzen? Aber sie war ja sein, er wollte sie zwingen, ihm zu folgen.

»Du bist ein elendes Mensch,« grollte er; »aber macht nichts, du wirst mit mir kommen, oder es geht dir wie ihm.«

Die Cognette trat mit geballten Fäusten vor ihn hin:

»Wag's, Mörder!«

Er war sehr stark und groß, und sie mit ihrem zarten Wuchs sah ganz klein und schwach neben ihm aus. Und doch wich er vor ihr zurück, so furchtbar kam sie ihm vor mit ihren Zähnen, die bereit schienen zu beißen, mit ihren wie Dolche blitzenden Augen.

»Es ist aus, geh! ... Lieber wollt' ich in meinem Leben keinen Mann mehr, eh' ich von dir mich berühren lasse ... Geh, geh, geh!«

Tron ging, rückwärts schreitend, wie ein feiges Raubtier anzuschauen mit seinem finsteren Blicke, in dem es wie tückische Rache glühte. Er murmelte:

»Tot oder lebend, aber ich werd' dich haben!«

Jacqueline schaute ihm nach, wie er den Hof verließ. Sie seufzte erleichtert auf und wandte sich um. Es schien sie nicht zu überraschen, Hans dort zu sehen.

»Oh,« rief sie offen, »wie ich die Kanaille von den Gendarmen aufgreifen ließe, wenn ich nicht fürchtete, mit eingesteckt zu werden!«

Die schreckliche Szene, die Hans erlebt, raubte ihm die Sprache, er erwiderte kein Wort. Sie aber warf sich in dem nervösen Gegensatz der überstandenen Aufregung an seine Brust und jammerte unter Tränen, sie sei unglücklich, namenlos unglücklich! Unaufhörlich flössen ihre Tränen; sie empfand das Bedürfnis, beklagt und geliebt zu werden, sie umschlang seinen Hals, als hätte sie sich von ihm entführen lassen mögen, um bei ihm Trost und Zuflucht zu finden. Ihm war nichts weniger als wohl zumute bei dieser zärtlichen Hingabe; glücklicherweise ward die Szene abgebrochen durch die Ankunft von Hourdequins Schwager, Herrn Baillehache, dem man den Unfall angezeigt hatte. Jacqueline lief dem in den Hof lenkenden Wagen des Notars entgegen.

Hans schlüpfte aus der Küche ins Freie; von neuem stand er unter den regenschwangeren Märzwolken inmitten der weiten Ebene. Alles um ihn her verschwamm vor seinen Blicken, so umflort waren seine Sinne, nachdem diese aufregende Begebenheit ihn inmitten seines eigenen Mißgeschickes überrascht. Wie unglücklich sich das traf: jetzt war ihm der Unterschlupf in der Borderie abgeschnitten; mit raschen Schritten wandte er dem Gutshof den Rücken, obwohl ihm das Unglück seines einstigen Herrn nahe ging. Die Cognette und ihren Galan anzuzeigen, dieser Gedanke kam ihm nicht, es war nicht seine Rolle; die Polizei mochte ihre Augen auf tun. Zweimal wandte er sich um, es war ihm, als habe man ihn gerufen, ein unbestimmtes Gefühl, als sei er Mitschuldiger an den traurigen Geschehnissen, verfolgte ihn. Vor den ersten Häusern von Rognes blieb er stehen; der Gutsbesitzer war durch seine eigene Schuld umgekommen, dachte er, und ihm fiel die große Wahrheit ein, daß die Männer viel glücklicher seien ohne die Weiber. Er dachte an Franziska; eine tiefe Bewegung überkam ihn.

Jetzt erst ward er es sich wieder bewußt, daß er sich nach der Borderie in der Absicht begeben hatte, um dort Arbeit zu suchen, und er fragte sich, an welche Tür er wohl klopfen könne. Ihm fiel ein, daß Herr Karl einen Gärtner suche. Warum sollte er nicht hingehen, sich ihm antragen? Er gehörte immerhin ein wenig zur Familie, vielleicht empfahl ihn das.

Er begab sich nach Roseblanche.

Es schlug ein Uhr; die Familie hatte eben ihr Frühstück beendet, als die Magd ihn ins Zimmer führte. Elodia war gerade im Begriff, den Kaffee einzuschenken, und nachdem Herr Karl seinem Gast einen Sessel dargeboten, wollte er, daß er auch eine Tasse mit ihnen trinke. Hans nahm dankend an; er hatte bei all den Aufregungen seit dem vorigen Tage nichts zu sich genommen, vielleicht regte der heiße Trank seinen Magen an. Doch als er mit diesen Bürgern an demselben Tische saß, fehlte ihm der Mut, die Stelle als Gärtner zu erbitten. Nachher, vertröstete er sich, sobald sich eine Anknüpfung biete. Frau Karl hub an, ihn zu beklagen; sie weinte selbst beim Andenken der armen Franziska, und das rührte von neuem. Zweifelsohne meinte die Familie, er sei gekommen, um sich zu verabschieden.

Nach einigen Minuten meldete die Dienerin, Delhomme und sein Sohn Ernst seien angekommen; jetzt wurde Hans vergessen.

»Bittet sie einzutreten und gebt noch zwei Tassen.« Es handelte sich um ein großes Geschäft für das Ehepaar Karl. Beim Verlassen des Kirchhofs nämlich hatte Ernst die Familie bis Roseblanche begleitet, und, während Frau Karl mit Elodia das Haus betraten, hielt der junge Mann Herrn Karl zurück und erklärte ihm rund heraus, er sei nicht abgeneigt, das Haus in der Judengasse zu kaufen, wenn man sich über den Preis einige. Er kannte das Haus sehr wohl und versicherte, Vaucogne habe es dermaßen herabkommen lassen, daß er kaum fünftausend Franken dafür bekommen werde; alles müsse neu ergänzt werden, das Mobiliar sei abgenutzt, das Personal ohne Sorgfalt ausgewählt und so erbärmlich, daß selbst das Militär andere Lokale besuche. Eine Stunde lang machte er in dieser Weise die einstige Bude des Herrn Karl schlecht und überraschte den Onkel durch seine Kenntnis des Geschäftszweiges, durch eine für sein Alter erstaunliche kaufmännische Tüchtigkeit. Welch ein wackerer Bursch, dachte der Alte, in der Tat, das wäre der rechte Mann, mit Energie und Umsicht das Unternehmen zu führen. Sie trennten sich schließlich, nachdem der junge Bursche gesagt, er werde am Nachmittag mit seinem Vater wiederkommen, um ernstlich über die Sache zu reden.

Inzwischen hatte Herr Karl mit seiner Frau Rücksprache genommen, die ebenfalls über die Begabung des Neffen staunte. Wenn ihr Schwiegersohn nur wenigstens halb so tüchtig wäre wie jener! Sie müßten auf ihrer Hut sein, daß Ernst sie nicht übers Ohr haue. Es galt das Heiratsgut Elodias zu verteidigen. Und doch stahl sich in diese ihre Besorgnis eine gewisse Teilnahme für den jungen Käufer, und der Wunsch wurde in ihnen rege, das Haus selbst mit Verlust in diese tüchtigen, tatkräftigen Hände übergehen zu sehen, die ihm seinen einstigen Glanz wieder verleihen würden. Als darum jetzt Delhomme Vater und Sohn eintraten, wurden sie aufs herzlichste empfangen.

»Ihr trinkt ein Täßchen mit uns, nicht wahr? ... Elodia, gib den Zucker her.«

Hans hatte seinen Stuhl etwas beiseite gerückt; alle saßen um den Tisch herum. Delhomme, frisch rasiert, das Gesicht unbeweglich und ernst, verharrte in diplomatischem Schweigen. Sein Sohn in elegantem Anzüge, mit Lackstiefeln, goldgestickter Weste, seidener Krawatte, hatte ein sicheres und gewandtes Auftreten und war von gewinnender Liebenswürdigkeit. Als Elodia ihm errötend die Zuckerschale reichte, blickte er ihr ins Auge und sagte galant:

»Ihr Zucker, liebe Cousine, ist großstückig.«

Sie errötete noch mehr und wußte nicht, was ihm entgegnen, so sehr setzten die Worte des höflichen jungen Mannes das unschuldige Wesen in Verlegenheit.

Am Vormittag hatte Ernst in sehr schlauer Berechnung nur die eine Seite des Geschäfts berührt. Als er nämlich beim Begräbnis Elodia erblickt, hatte sein Plan sofort eine neue Form angenommen: er wollte nicht bloß das Haus der Judengasse an sich bringen, sondern gleichzeitig das junge Mädchen heiraten. Die Sache schien höchst einfach. Zunächst hatte er in diesem Falle nicht nötig, das Geschäft zu bezahlen, denn er würde die Ehe nur unter der Bedingung schließen, daß ihm das Häuschen in Chartres als Mitgift zufalle; dann aber, wenn ihm Elodia auch vorderhand nichts mitbrachte als dieses heruntergekommene Unternehmen, so erbte sie doch später einmal von ihren Großeltern ein bedeutendes Vermögen. Er war entschlossen, jetzt seinen Antrag anzubringen, und darum hatte er seinen Vater mitgebracht.

Einen Augenblick sprach man vom Wetter, das wirklich für die Jahreszeit ungemein milde war. Die Birnbäume standen in voller Blüte; wenn nicht Stürme und Regen kamen, durfte man dies Jahr eine reiche Obsternte erwarten. Man trank den Kaffee aus. Die Unterhaltung stockte.

»Mein Herzchen,« sagte plötzlich Herr Karl zu Elodia, »Du solltest ein wenig im Garten spazierengehen.«

Er schickte die Kleine hinaus, denn er brannte vor Ungeduld, Delhomme auszuholen.

»Entschuldigen Sie, Onkel,« fiel Ernst ein, »wenn Sie es gestatten möchten, würde ich mir die Bitte erlauben, daß meine Cousine bei uns bliebe... Ich habe Ihnen etwas zu sagen, was sie interessiert; nicht wahr, es ist in Geschäften besser, alles mit einemmal abzumachen, statt immer wieder von vorne anzufangen?«

Darauf erhob er sich und fuhr in seiner wohlerzogenen Art fort:

»Ich wollte Ihnen nämlich sagen, daß ich sehr glücklich wäre, meine Cousine zu heiraten, wenn Sie nichts dawider hätten, und falls sie selber einwilligte.«

Die Überraschung war groß. Besonders aber ward Elodia durch das Gehörte dermaßen in Verwirrung versetzt, daß sie aufsprang und sich in holder Schamhaftigkeit in die Arme ihrer Großmutter warf, wobei sie bis über die Ohren errötete. Frau Karl suchte sie zu beruhigen.

»Aber, aber, mein lieber Schatz, das ist zuviel, sei doch vernünftig! ... Man ißt dich ja nicht, wenn man um dich anhält ... Dein Vetter hat nichts Übles gesagt, schau ihn an, sei nicht so blöde, mein Herz.«

Doch kein Zuspruch vermochte sie zu bestimmen, ihr Gesicht zu zeigen.

»Mein Gott, lieber Freund,« erklärte endlich Herr Karl, »dein Antrag kommt uns ganz unerwartet. Vielleicht hättest du besser getan, mit uns vorerst allein davon zu sprechen; du siehst, wie weichherzig unser liebes Mädchen ist ... Aber, was auch kommen möge, sei überzeugt, daß ich dich sehr hoch schätze, denn du scheinst mir ein braver und arbeitsamer Bursch.«

Delhomme, in dessen Gesicht sich bisher noch keine Miene verzogen, ließ die beiden Worte hören:

»Ganz gewiß!«

Hans, der meinte, den anderen eine Höflichkeit schuldig zu sein, setzte hinzu:

»Das ist sicher.«

Herr Karl hatte sich von seiner Überraschung erholt und erwog bereits, daß Ernst keine schlechte Partie sei, denn er war jung, hübsch, tätig und der einzige Sohn reicher Bauern. Seine Enkelin konnte keinen besseren Mann finden. Nachdem der alte Herr einen Blick mit seiner Gattin gewechselt, fing er wieder an:

»Du begreifst, wir können weder ja noch nein sagen. Es geht das Kind an. Wir werden niemals ihren Wünschen etwas in den Weg legen; wie sie will, soll es geschehen.«

Darauf erneuerte Ernst in höflicher Rede seinen Antrag.

»Liebe Cousine, wenn Sie mir die Ehre erweisen wollten und das Vergnügen ...«

Sie barg noch immer das purpurrote Antlitz am Busen der Großmutter; doch ließ sie den jungen Mann nicht ausreden, sondern nahm mit dreimal wiederholtem, kräftigem Kopfnicken seine Werbung an, indem sie sich noch enger an Frau Karl schmiegte. Es gab ihr sichtlich Mut, daß sie ihre Augen verbarg. Die Gesellschaft aber ward sprachlos bei dieser hastigen Zusage. Sie liebte also den Burschen, den sie so kurze Zeit kannte? Oder wollte sie überhaupt nur einen Mann haben, gleichgültig welchen, wenn er nur hübsch war?

Frau Karl küßte ihr Haupt.

»Arme Kleine! Arme Kleine!«

»Gut,« meinte Herr Karl, »wenn es ihr recht ist, wir haben nichts dagegen.«

Doch ein plötzlicher Gedanke umdüsterte seine Stirne. Seine schweren Augenlider senkten sich, mit bedauernder Miene setzte er hinzu:

»Natürlich, mein Freund, geben wir das andere auf, die andere Sache nämlich, welche du mir heute vormittag vorgeschlagen.«

»Warum das?«

Ernst blickte ihn verwundert an.

»Warum? Aber weil ... ich bitte dich ... Du begreifst doch! Wir haben sie ja nicht bis zum zwanzigsten Jahre bei den Damen von der Heimsuchung gelassen, damit ... mit einem Wort, das ist unmöglich.«

Er blinzelte mit den Augen, verzog den Mund, versuchte sich verständlich zu machen und fürchtete gleichzeitig mehr zu sagen, als er wollte. Die Kleine in der Judengasse! Eine Unschuld, die eine so treffliche Erziehung genossen, die in so keuscher Reinheit auf erzogen, von der man jeden Hauch des Unlauteren mit peinlicher Sorgfalt ferngehalten!

»Ah, entschuldigen Sie,« erklärte Ernst unumwunden, »da komme ich nicht auf meine Rechnung ... Ich verheirate mich, um mich festzusetzen, ich will meine Cousine und das Haus.«

»Die Konditorei!« rief Frau Karl.

Kaum war dieses Wort ausgesprochen, so bemächtigte sich das Gespräch seiner und wiederholte es mehrmals: Die Konditorei, welch ein unbilliges Verlangen! Die Konditorei, das ging nicht an! Der junge Mann und sein Vater hinwiederum verlangten die Konditorei als Mitgift, versicherten, man dürfe sie nicht aus den Händen geben, in ihr beruhe das eigentliche Vermögen der Braut. Sie riefen Hans zum Zeugen auf, der mit einem Kopfnicken zustimmte. Schließlich sprachen alle sehr laut, vergaßen sich und gaben unverblümte Einzelheiten. Ein unvorhergesehener Zwischenfall brachte sie zum Schweigen.

Langsam hatte Elodia ihr Köpfchen erhoben; jetzt stand sie da gleich einer im Schatten gewachsenen Lilie in ihrer bleichen Jungfräulichkeit, mit den leer blickenden Augen und dem farblosen Haar. Sie schaute die Anwesenden an und sprach ruhig:

»Mein Vetter hat recht, man kann das Geschäft nicht aus den Händen geben.«

Betroffen stotterte Frau Karl:

»Aber, mein liebes Herz, wenn du wüßtest ...«

»Ich weiß ... Schon vor langer Zeit hat mir Victorine alles gesagt, Victorine, das Mädchen, das der Männer wegen fortgeschickt worden ... Ich weiß, ich hab' darüber nachgedacht, ich versichere euch, man darf das Geschäft nicht aufgeben.«

Das Ehepaar Karl war fassungslos. Die beiden Alten rissen die Augen auf und blickten verblüfft auf ihr Enkelkind. Wie? sie kannte das Haus in der Judengasse, wußte, was dort vorging, wie dort Geld erworben wurde, wußte alles und sprach mit dieser ungetrübten Ruhe darüber! Den Reinen ist eben alles rein.

»Wir dürfen das Geschäft nicht aus der Hand geben,« wiederholte das junge Mädchen mit wachsender Festigkeit. »Es ist gut, es trägt zuviel ein ... Und dann, ein Haus, das ihr gegründet habt, wo ihr so fleißig gearbeitet, das wollte man Fremden überlassen?«

Herr Karl war überwältigt. Eine große Bewegung bemächtigte sich seiner, eine Art Rührung, die ihn am Herzen packte und ihm die Kehle zuschnürte. Er hatte sich erhoben, er taumelte, lehnte sich an seine Gattin, die ebenfalls aufgestanden war, und, nach Worten ringend, bebend dastand. Beide glaubten, die Kleine wolle ihnen ein Opfer bringen.

»Liebes Herz, Herzchen! ... Nein, nein, teurer Schatz!« stießen sie hervor.

Doch Elodias Augen feuchteten sich; sie legte ihre Lippen auf den Ehering ihrer Mutter, den sie am Finger trug, jenen ehrwürdigen Ring, dem die Arbeit in der Judengasse die Verzierungen abgeschliffen.

»Doch, doch, laß mich! ... Ich will wie Mama sein. Was sie getan hat, kann auch ich tun: es ist keine Unehre dabei, denn ihr habt es ja ebenfalls getan ... Mir gefällt es sehr, versichere ich euch. Ihr sollt sehen, daß ich meinem Vetter tapfer beistehen werde in der Arbeit, und daß wir das Haus wieder hochbringen werden. Es soll wieder blühen und gedeihen; ihr kennt mich nicht.«

Jetzt gab's keine Widerrede mehr. Herr und Frau Karl schluchzten wie ein paar Kinder. Zweifelsohne hatten sie das junge Mädchen nicht hierzu erzogen; allein, was tun, wenn die Stimme des Blutes spricht, wenn der Beruf sich so zwingend deutlich offenbart? Es war gerade so einst mit Estelle: auch jene hatten sie bei den Schwestern zur Heimsuchung Maria eingeschlossen, hatten sie in strengster Sitte erziehen lassen, und sie war nichtsdestoweniger eine treffliche Geschäftsfrau geworden ... Gewiß die Erziehung bedeutet nichts, der natürliche Verstand besagt alles... Doch die Bewegung der alten Leute, diese Tränen, deren Strom sie nicht aufzuhalten vermochten, hatten ganz besonders ihren Ursprung in dem erhebenden Bewußtsein, daß das Etablissement in Chartres ihr Werk, ihr Fleisch und Blut, vom Untergang gerettet werden sollte. Elodia und Ernst würden mit dem frischen Mute der Jugend darin ihr Geschlecht fortpflanzen.

Schon sahen sie im Geiste das teure Haus wiederhergestellt, wieder in der Gunst des Publikums, prächtig, herrlich, wie es einst in den schönsten Tagen ihrer Leitung geglänzt hatte.

Als Herr Karl endlich wieder die Sprache gefunden, zog er seine Enkelin an seine Brust.

»Dein Vater hat uns bittere Sorgen bereitet, du bist unser Trost, mein Engel!«

Auch Frau Karl umarmte das junge Mädchen, ihre Tränen vereinten sich; die drei boten ein rührendes Bild.

»Also, wir sind einverstanden?« fragte Ernst, der seiner Sache sicher zu sein wünschte.

»Ja, es ist abgemacht.«

Delhomme war glücklich, seinen Sohn so reich zu verheiraten; sein Gesicht strahlte. In seiner bedachten Art gab auch er seine Meinung ab:

»Nun, wahrlich, Ihnen wird's nicht leid tun und uns ebensowenig ... Unnütz, den Kindern Glück zu wünschen. Wenn man Geld erwirbt, gibt sich das andere von selbst.«

Nach diesen Worten nahmen wieder alle Platz, um in Ruhe das weitere zu besprechen.

Aber Hans begriff, daß er störe. Es war ihm unbehaglich geworden bei der rührenden Szene; er fühlte sich verlegen und wäre schon lange gegangen, wenn er gewußt hätte, wie seinen Aufbruch zu bewerkstelligen. Endlich nahm er Herrn Karl auf die Seite und sprach von dem freien Gärtnerposten. Das würdige Gesicht des Alten wurde ernst: einen Verwandten in seine Dienste nehmen? Niemals! Man erzielt nichts mit einem Verwandten, weil man ihm nicht so befehlen kann wie einem andern Diener. Übrigens war der Platz seit dem vorigen Tage versagt. Hans nahm Abschied, während Elodia mit ihrer hellen Jungfrauenstimme sagte, wenn ihr Papa Einwendungen machen solle, werde sie ihn schon zur Vernunft bringen.

Zögernden Schrittes ging er die Straße entlang; er wußte nicht, wohin sich wenden, um Arbeit zu erbitten. Von den hundertsiebenundzwanzig Franken hatte er das Begräbnis seiner Frau bezahlt, das Kreuz und die Grabumfriedung; es blieb ihm kaum noch die Hälfte des Geldes; eine Zeitlang konnte er sich wohl damit erhalten, dann mußte er weiter sehen. Vor der Arbeit fürchtete er sich nicht, aber er erwog mit Sorgen, daß er schwerlich einen Platz in Rognes finden werde, und doch war es nicht ratsam, den Ort zu verlassen, sobald er gegen Buteau einen Prozeß anstrengen wollte. Es schlug drei Uhr, dann vier, dann fünf. Er irrte umher, das Hirn mit wirren Gedanken erfüllt, kehrte zur Borderie zurück, näherte sich wieder der Besitzung der Familie Karl, planlos, ziellos. Überall in der Welt war es dasselbe: das Geld und die Weiber, man stirbt daran, man lebt dafür. So war es nicht erstaunlich, daß auch sein Unglück diesen allgemeinen Ursprung hatte. Er fühlte sich matt werden und erinnerte sich, daß er noch nichts genossen. Wieder wandte er sich dem Dorfe zu, entschlossen, sich bei Lengaigne einzuquartieren, der ein paar Kammern vermietete. Doch als er über den Kirchplatz schritt, wallte sein Blut von neuem auf beim Anblick des Hauses, aus dem man ihn am Morgen verjagt hatte. Warum sollte er diesen Kanaillen seinen Rock und seine zwei Paar Beinkleider lassen? Diese Sachen waren sein, er wollte sie haben, und sollte die Schlägerei noch einmal beginnen.

Als Hans in den Hof trat, war es bereits finster, kaum erkannte er den alten Fouan, der auf einer Steinbank saß. Er näherte sich der offenen Küchentür; Buteau sprang ihm entgegen und versperrte ihm den Weg.

»Donnerwetter, da ist er schon wieder. Was willst du?« »Ich will meinen Rock und meine beiden Hosen.«

Ein wütender Streit entbrannte. Hans bestand auf seiner Forderung und verlangte, in den Schränken zu suchen, während Buteau, der ein Krautmesser ergriffen, schrie, er schlitze ihm den Leib auf, wenn er die Schwelle überschreite. Endlich vernahmen sie aus dem Innern der matt erleuchteten Wohnung die Stimme Lisens:

»Laß! Geben wir ihm seine Lumpen zurück, du kannst sie doch nicht tragen, der Mensch ist ja aussätzig.«

Die beiden Männer schwiegen. Korporal wartete. Plötzlich hörte er hinter sich den alten Fouan, wie laut träumend, die Worte murmeln:

»Schau, daß du fortkommst, sonst bringen sie dich um, wie sie die Kleine umgebracht haben.«

Wie ein Blitz durchfuhr es Hans; mit einemmal verstand er alles, den Tod Franziskas und ihr hartnäckiges Schweigen auf dem Totenbette; es war ihm klar, sie hatte die Ihren vor dem Henker retten wollen. Es überlief ihn eiskalt, er fühlte jedes Haar einzeln auf seinem Haupte; und er fand nicht ein Wort, nicht einen Laut, als ihm jetzt Lise durch die offene Tür seine Kleider zuwarf.

»Da hast du deine dreckigen Lumpen! ... Der Quark stinkt, man wär' noch krank davon geworden.«

Er nahm die Sachen auf und eilte von dannen. Erst als er das Hoftor durchschritten, wandte er sich um, hob die Fäuste und schrie das eine Wort durch die Stille des Abends:

»Mörder!«

Darauf verschwand er im Dunkel.

Buteau blieb erstarrt, denn er hatte verstanden, was der Alte in seinem unzurechnungsfähigen Halbschlummer gelallt, und dieser Ruf Korporals traf ihn wie eine Kugel mitten ins Herz. Wie, sollten sich vielleicht noch die Gendarmen dreinmischen, jetzt, wo er gemeint, alles seit mit Franziska begraben? Seit er am Morgen das Grab sich über ihr hatte schließen sehen, hatte er aufgeatmet, und jetzt wußte der Alte um alles! Sollte er sich bloß so hinfällig und geistesumnachtet stellen, um sie zu überwachen? Dieser Gedanke trieb die Angst des schlechten Menschen aufs höchste; er war krank vor Aufregung, als er ins Haus zurücktrat, und ließ die Hälfte seiner Suppe in der Schüssel. Auch Lise, der er das Vorgefallene mitteilte, vermochte in ihrem Schreck nicht zu essen.

Beide hatten sich auf diese erste Nacht unter dem wiedereroberten Heim gefreut; sie ward furchtbar, diese Unglücksnacht. Sie hatten Laura und Julius vorläufig auf einer Matratze vor der Kommode gebettet: die Kinder schliefen noch nicht, als sie sich ebenfalls zu Bett begaben, nachdem sie das Licht ausgelöscht. Doch es war ihnen unmöglich, die Augen zu schließen. Wie auf einem glühenden Rost wälzten sie sich ruhelos umher; endlich begannen sie flüsternd miteinander zu reden. Wie ihnen der Vater zur Last ward, seit er wieder in die Kindheit zurückgefallen, welch eine Bürde, wenn man bloß berechnete, was er kostete! Unglaublich, wieviel Brot er verschlang; dabei aß er ekelhaft gierig, stopfte sich das Fleisch mit den Fingern in den Mund, schüttete den Wein in den Bart, war so widerlich anzuschauen, daß einem übel wurde vom Zusehen. Ferner ging er oft mit offenen Hosen herum; ja einmal hatte man ihn überrascht, wie er sich in Gegenwart von kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft mitten im Hof entkleidete; er wußte nicht mehr, was er tat.

Wahrhaftig, man hätte dem widerlichen Schauspiel dieses endlosen Dahinsterbens mit einem Axthieb ein Ende machen mögen.

»Wenn man bedenkt, daß er umfiele und hin würde, wenn man ihn nur anblasen wollte!« murmelte Buteau. »Und er lebt immer noch weiter, ihm ist es eins, daß er uns im Weg steht! Diese Alten, je weniger es arbeitet, je weniger es verdient, um so zäher klammert es sich ans Leben! ... Der krepiert noch lange nicht.«

Lise, die auf dem Rücken lag, versetzte:

»Wie dumm, daß er hier wieder mit eingezogen ist ... Er wird sich hier zu wohl fühlen, und wird einen neuen Kontrakt mit dem Leben eingehen ... Wenn ich mir vom lieben Gott etwas erbitten dürfte, so wär's, daß der Alte in der ersten Nacht drauf ginge.«

Keiner von beiden berührte den eigentlichen Gegenstand ihrer Sorge, daß nämlich der Vater alles wisse und sie, selbst ohne es zu wollen, verraten könne. Dies setzte allem die Krone auf. Daß er ihnen Geld koste, ihnen im Wege war, sie verhinderte, sich ungestört des Genusses des entwendeten Schatzes zu erfreuen, all das hatten sie geduldig so lange Zeit hindurch ertragen. Aber daß ein Wort des alten Narren ihnen den Hals kosten könne, das war zuviel.

Dem mußte abgeholfen werden.

»Ich will mal sehen, ob er schläft,« flüsterte Lise plötzlich.

Sie zündete das Licht wieder an und versicherte sich, daß Laura und Julius schliefen; dann schlich sie im Hemd in die Gemüsekammer, wo man wieder das Bett des Alten aufgestellt hatte. Als sie wieder zurückkam, fror sie, ihre Füße waren auf dem feuchten Lehmboden eiskalt geworden; sie schlüpfte unter die Decke und schmiegte sich an ihren Gatten, der sie in die Arme schloß, um sie zu wärmen.

»Nun?«

»Er schläft, dabei hat er den Mund aufgesperrt wie ein Karpfen, weil ihm die Luft knapp wird.«

Sie schwiegen. Doch ob auch keines die stumme Umarmung mit einem Worte unterbrach, so hörten sie doch ihre Gedanken in ihren Schläfen hämmern. Der Alte, der immer so ängstlich nach Luft schnappte, war so leicht vom Leben zum Tode zu befördern: das Geringste, was man ihm in die Kehle stopfen würde, ein Taschentuch, selbst nur eine Hand würde ihm den Garaus machen. Man würde ihm sogar einen ausgezeichneten Dienst damit leisten. War es nicht tausendmal besser für ihn, in Ruhe auf dem Friedhof zu schlafen, als, den anderen und sich selbst zur Last, dies Leben noch weiter zu schleppen?

Buteau hielt sein Weib noch immer in den Armen; beiden kochte das Blut, als wenn ein sinnliches Gelüst sie durchschauere. Mit einemmal ließ er sie fahren und sprang aus dem Bett.

»Ich will auch mal nachschauen.«

Er nahm das Licht, das noch auf der Kommode stand, und ging in die Kammer; während sie mit verhaltenem Atem, mit Augen, die weit aufgerissen in das Dunkel der Stube starrten, lauschte. Minuten verstrichen, und kein Geräusch drang aus dem Nebenraum. Endlich hörte sie ihren Mann ohne Licht wieder zurückkommen. Das weiche Geräusch seiner nackten Füße schlürfte über die Steinfliesen der Stube heran; er atmete schwer, näherte sich dem Bette, suchte tastend sein Weib und raunte ihr ins Ohr:

»Komm! ich getrau' mich nicht allein.«

Lise folgte Buteau, beide Arme vorstreckend, damit sie nirgends anstoße. Sie fühlte nicht mehr die Kälte, ihr Hemd schien sie in ihren Bewegungen zu hindern. Das Licht stand in einem Winkel der Kammer am Boden; doch es leuchtete genug: Man sah den Alten auf dem Rücken ausgestreckt ruhen; das Haupt war von dem Kopfkissen hinabgeglitten. Er lag so steif da, so ausgetrocknet vom Alter; man hätte ihn für tot halten können, wäre nicht aus dem weitgeöffneten Munde ein mühsames, schweres Röcheln hervorgedrungen. Sämtliche Zähne fehlten in diesem Munde, er bildete ein schwarzes Loch, in das die Lippen hineinhingen; die beiden neigten sich darüber, als wollten sie untersuchen, wieviel Leben noch darin wohne. Lange schauten sie so dicht nebeneinander... Es schien so leicht, irgend etwas zu ergreifen und damit dieses Loch zu verstopfen; und doch war es so schwer, ihre Arme hingen schlaff und untätig herab. Sie verließen die Kammer, kehrten wieder um und traten von neuem vor das Bett. Die Zunge hing ihnen trocken im Gaumen, sie wären unvermögend gewesen, ein Wort hervorzubringen; ihre Augen sprachen miteinander. Mit einem Blick zeigte sie ihm das Kopfkissen; also vorwärts, worauf wartete er?! Ihm zuckte es in den Wimpern, er trat einen Schritt zurück. Plötzlich faßte Lise verzweifelt das Kissen und warf es über das Gesicht des Vaters.

»Feigling! Wir Frauen haben immer am meisten Mut.«

Jetzt warf sich Buteau auf das Bett und drückte mit dem ganzen Gewicht seines Körpers, sein Weib aber kletterte hinauf und setzte sich mit ihren nackten Lenden, die breit waren wie die einer Stute, auf das Kissen, unter dem der Kopf des Greises lag. Wie besessen arbeiteten sie, hieben und preßten sie mit den Händen, Schultern und Schenkeln. Den Körper des Alten durchfuhr eine jähe Bewegung, seine Beine schnellten mit einem knackenden Geräusch auf und nieder, so wie ein Fisch springt, den man aufs Land geworfen. Doch es währte nicht lange. Sie hielten ihn zu fest, bald fühlten sie, wie er unter ihren Fäusten ruhig wurde; langsam entwich das Leben; ein letzter Schauer, ein letztes Zittern, dann nichts mehr, er lag regungslos.

»Ich glaub', es ist vorüber,« keuchte Buteau.

Lise saß immer noch oben, sie wartete noch einen Augenblick, ob sich nichts mehr unter ihr rühre.

»Es ist aus, er wackelt nicht mehr.«

Sie glitt herab, –wobei das Hemd bis zu den Hüften hinauf rutschte –und entfernte das Kopfkissen. Doch beide fuhren erschreckt zurück.

»Donnerwetter! er ist ganz schwarz, wir sind geliefert!«

Es war in der Tat unmöglich vorzugeben, daß der Alte von selbst in diese Verfassung geraten. In ihrem Eifer hatten sie ihm die Nase in den Mund gedrückt, und sein Gesicht war dunkelblau, fast schwarz. Einen Augenblick war es ihnen, als wanke der Boden unter ihnen: sie hörten das Heranreiten der Gendarmen, das Rasseln der Ketten, das Fallen des Beiles. Ein verzweifelter Schreck packte sie und mischte sich mit dem Schmerz, daß ihre Arbeit so schlecht geraten. Wie sollten sie dem jetzt nachhelfen? Wenn sie den Alten auch mit Seife abrieben, nimmermehr würde er weiß werden. Endlich kam Lise ein Gedanke.

»Wenn wir ihn verbrennten!«

Buteau atmete erleichtert auf.

»Ja, ja; wir sagen, er hat sich selbst in Brand gesteckt.«

In diesem Augenblick fielen ihm die Wertpapiere ein; er klatschte vergnügt in die Hände, sein ganzes Gesicht verklärte sich in einem Lächeln des Triumphes.

»Alle Wetter ja! Wir machen den anderen weis, daß seine Papiere mit ihm verbrannt sind, so brauchen wir mit niemandem zu teilen!«

Sofort holte er das Licht aus dem Winkel; doch Lise hatte Angst, man könne das ganze Haus in Brand stecken, sie wollte nicht gleich zugeben, daß er das Bett anzünde. Hinter den Runkelrüben am Fußboden lagen einige Strohbüschel, sie ergriff eines, entzündete es und begann damit das Haupthaar und den langen weißen Bart abzusengen. Es gab einen brenzligen Geruch, wie am Herd überlaufenes Fett, kleine gelbe Flämmchen knisterten mit leisem Geräusch. Plötzlich sprangen Mann und Weib entsetzt zurück, als habe eine Totenhand sie beim Schopfe gepackt: bei dem gräßlichen Schreck der Brandwunden war der nur halb erstickte Greis noch einmal aufgewacht, er öffnete die Augen, und dies furchtbare, schwarze Gesicht, mit der zerquetschten Nase und dem brennenden Bart starrte sie an. Ein Ausdruck unsagbaren Schmerzes und Hasses starrte aus diesem Antlitz: dann verzerrten sich die Züge, er verschied.

In seinem Schreck brüllte Buteau wutschnaubend auf; im selben Augenblick aber vernahm er von der Tür her ein klägliches Wimmern. Es waren die beiden Kinder, Laura und Julius; das Geräusch hatte sie erweckt, die große Helle in der offenen Kammer lockte sie herbei; jetzt standen sie da, blickten auf das unmenschliche Schauspiel und heulten vor Entsetzen.

»Verwünschte Brut!« schrie Buteau und stürzte sich auf sie. »Wenn ihr ein Wort ausplaudert, erwürg' ich euch... Da habt ihr einen Denkzettel.«

Mit ein paar wuchtigen Hieben streckte er sie zu Boden. Sie rafften sich stumm auf, krochen unter ihre Decke und rührten sich nicht mehr.

Um der Sache ein Ende zu machen, steckte er ungeachtet des Einspruches seines Weibes den Strohsack in Brand. Glücklicherweise war der Raum so feucht, daß das Stroh nur langsam brannte; aber ein dicker Rauch qualmte auf; sie öffneten die kleine Luke, um nicht zu ersticken. Jetzt schlugen die Flammen bis zur Decke empor. Der Vater briet darin, und der unerträgliche Geruch ward immer stärker, ein Geruch von bratendem Fleische. Das ganze alte Haus wäre wie ein Heuschober in Flammen aufgegangen, wenn nicht die aus dem Körper schmorende Flüssigkeit das Stroh allmählich verlöscht hätte. Auf dem eisernen Gestell des Bettes lag jetzt der halb verkohlte unkenntliche Leichnam. Eine Ecke des Strohsackes war unversehrt geblieben; ein Zipfel von dem Bettuch hing bis auf den Boden hinab.

»Komm!« bat Lise, die trotz der großen Hitze von neuem zu frösteln begann.

»Wart',« erwiderte Buteau, »man muß alles herrichten.«

Er stellte neben das Kopfende des Bettes einen Stuhl, legte das Licht umgestürzt darauf, um glauben zu machen, daß es auf den Strohsack gefallen sei. Ja, er war so schlau, brennendes Papier am Fußboden zu zerstreuen. Man wird die Asche finden, und er kann erzählen, daß der Alte am vorigen Abend seine Rentenbriefe gefunden und an sich genommen.

»Jetzt ist alles fertig; ins Bett.«

Buteau und Lise liefen ins Schlafzimmer zurück und schlüpften in ihr Bett. Doch ihr Lager war kalt; sie schmiegten sich eng aneinander, um sich zu wärmen. Der Tag graute, und immer hatten sie noch kein Auge geschlossen. Sie sprachen nicht; zuweilen fuhr ein Schauer durch ihren Leib, und sie hörten ihr Herz laut schlagen. Die offen gebliebene Tür der Kammer ängstigte sie, und doch wagte keines sich zu erheben, um sie zu schließen. Endlich schlummerten sie ein, während sie sich immer noch umschlungen hielten.

Am nächsten Morgen rief das Klagegeschrei der Buteaus die Nachbarn herbei. Die Frimat und die anderen Weiber stellten das umgestürzte Licht, den verbrannten Strohsack, die Papierasche am Fußboden fest. Alle riefen, das hätte eines Tages so kommen müssen, sie hätten es hundertmal vorausgesagt, daß der kindische Alte ein Unglück anstellen werde. Welch ein Glück, das nicht das ganze Haus mit ihm in Flammen aufgegangen war!


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