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Zweites Kapitel.

Ein paar Tage später kam Hans eines Abends zu Fuß von Cloyes heim, als zwei Kilometer von Rognes ein vor ihm herfahrender Bauernwagen seine Aufmerksamkeit erregte. Das Gefährt schien leer, es saß niemand auf dem Kutscherbrett, und das sich selbst überlassene Pferd schlenderte gemächlich dahin wie ein Tier, das mit dem Wege vertraut in seinen Stall zurückkehrt. Bald hatte der junge Mann den Karren eingeholt. Er hielt das Roß an, hob sich auf die Fußspitzen, um in den Wagen zu schauen, und erblickte am Boden einen vielleicht sechzigjährigen Greis, dessen kurzer, beleibter Körper rücklings hingestreckt lag. Das Gesicht des Alten war dunkelrot, so daß es fast schwarz schien.

Die Überraschung des Burschen war groß.

»He, Alter!... Schläft er?... Hat er getrunken?... Aber Teufel! Das ist ja Mouche, der Vater der beiden Mädel!... Ich glaub' gar, es ist aus mit ihm! Schöne Geschichte!«

Doch Mouche, der augenscheinlich einen Schlaganfall gehabt, atmete noch leise. Hans richtete dem Alten den Kopf auf; dann setzte er sich auf die Bank und brachte das Pferd in scharfen Trab; denn er fürchtete, der Sterbende könne den Geist aufgeben, ehe sie sein Haus erreicht hätten.

Wie er in den Kirchplatz einbog, stand gerade Franziska vor der Tür ihrer Wohnung. Daß der Bursch ihren Coco lenkte, verblüffte sie.

»Was gibt's denn?« fragte sie.

»Deinem Vater ist nicht gut.«

»Wo ist er?«

»Da, schau hin!«

Sie kletterte auf das Rad und blickte in den Karren. Einen Augenblick blieb sie starr vor diesem blauroten Antlitz stehen, dessen eine Hälfte verzerrt war, als habe man sie heftig von oben nach unten gerissen. Es wurde Nacht; eine große gelbschimmernde Wolke, die das Firmament erleuchtete, übergoß den Kranken wie mit einem Feuerschein.

Plötzlich brach das Mädchen in Tränen aus, sprang herab und rannte ins Haus.

»Lise! Lise!... Ach, mein Gott!«

Hans, der allein geblieben, überlegte. Man konnte den Alten nicht im Wagen lassen; doch der Flur des Hauses lag drei Stufen tiefer als der Platz, und es schien untunlich, den Kranken in das finstere Loch hinabzutragen. Da fiel ihm ein, daß auf der Straßenseite das Gelände die gleiche Höhe hatte wie das Innere des Hauses und eine zweite Tür nach dem Hof hinausführte. Dieser ziemlich geräumige Hof war von einer grünen Hecke umschlossen; ein rotbrauner Wassertümpel nahm zwei Drittel ein, ein halber Morgen Gemüse- und Obstgarten bildete den Rest.

Korporal ließ Coco die Zügel; das Tier zog den Karren in den Hof und machte neben dem Verlaß, wo die beiden Kühe standen, vor dem Pferdestall Halt.

Franziska und Lise stürzten jammernd herbei. Die letztere, die vor vier Monaten Mutter geworden, hatte eben ihr Kind gesäugt, sie hielt es noch im Arm; das Kleine schrie mit den andern. Franziska stieg wieder auf das eine Rad, ihre Schwester auf das andere, und beide wehklagten, während der alte Mouche unten im Wagen immer noch mit einem kaum vernehmbaren Pfeifen atmete.

»Papa, antwort', red'!... Was hast du, sprich!... Mein Gott, sag' doch, wo es dir fehlt!... 0 Gott! o Gott, er hat es gewiß im Kopf, da er nicht einmal den Mund aufmacht... Papa, Papa! so zeig' uns doch, wo es dir weh tut!«

»Komm herunter,« rief Hans, »es ist besser, wir bringen ihn ins Haus.«

Ohne ihm zu helfen, brachen jedoch die Mädchen von neuem in Weinen aus. Glücklicherweise rief dies Geschrei endlich eine Nachbarin, die Frimat, herbei. Es war eine knochige Alte, die seit zwanzig Jahren ihren vom Schlage gelähmten Mann pflegte, den sie ernährte, indem sie mit übermenschlicher Mühe und Ausdauer den einzigen Morgen Land, den sie besaßen, selbst bestellte. Sie behielt ihre Fassung beim Anblick des Kranken, solche Schicksalsschläge waren ihr nichts Neues. Wie ein Mann griff sie zu; Hans nahm den Alten bei den Schultern und zog ihn aus dem Fuhrwerk hervor, bis die Frimat ihn bei den Füßen ergreifen konnte. So trugen sie ihn in die Wohnung.

»Wo legen wir ihn hin?« fragte die Frau.

Die Geschwister, die ihnen gefolgt waren, hatten den Kopf verloren; sie wußten nicht zu antworten. Ihr Vater bewohnte oben eine vom Boden abgeteilte Kammer; dort hinauf konnte man ihn nicht leicht schaffen. Unten befanden sich die Küche und das große, mit zwei Betten bestandene Zimmer, das der alte Mann seinen Töchtern überlassen hatte. In der Küche war es stockfinster; dort standen Hans und die Frimat mit ihrer schweren Last und wagten nicht weiter zu gehen, aus Furcht, irgendwo anzurennen.

»Es muß doch ein Entschluß gefaßt werden!«

Franziska zündete endlich Licht an. In diesem Augenblick erschien die Bécu, die Frau des Feldhüters, augenscheinlich durch ihren Spürsinn hergelockt, durch jenes geheimnisvolle Etwas, das eine Neuigkeit in einer Minute von einem Ende des Dorfes zum andern verbreitet.

»Was fehlt dem lieben Alten?... Ich sehe schon, das Blut ist ihm stehen geblieben... Setzt ihn schnell auf einen Stuhl.«

Doch die Frimat war anderer Meinung:

»Wie kann man einen Mann hinsetzen, der sich nicht aufrecht zu halten vermag? Das Beste ist, ihn auf eines der beiden Betten zu legen.«

Sie stritten hin und wider; da trat Fanny mit ihrem Sohne Ernst ein. Sie hatte die Sache bei Macqueron erfahren, wo sie Nudeln gekauft, und kam, um zu schauen; ihrer Basen wegen interessierte sie's doch.

»Vielleicht,« meinte sie, »ist es doch gut, ihn auf einen Stuhl zu setzen, damit das Blut wieder in Bewegung kommt.«

Sie hoben den Alten auf einen Sessel neben dem Tisch, wo das Licht brannte. Sein Kinn fiel auf die Brust, die Arme und Beine hingen herab. Die Verzerrung der einen Gesichtshälfte hatte das linke Auge aufgerissen; aus dem verdrehten Munde pfiff stärker als vorher der Atem. Alle schwiegen; der Tod hielt seinen Einzug in den feuchten Raum mit dem Tonboden, mit den fleckigen Wänden und dem großen, schwarzen Herd.

Die beiden Töchter und drei Frauen betrachteten stumm den Kranken; Hans stand daneben.

»Ich möchte wohl den Arzt holen,« schlug er zögernd vor.

Die Bécu schüttelte den Kopf; niemand antwortete. Wenn der Anfall vielleicht keine Bedeutung hatte, warum Geld ausgeben? Und wenn's vielleicht das Ende ist, was soll da der Doktor helfen?

»Am besten sind die Wundmittel,« versicherte die Frimat.

»Ich habe Kampferspiritus zu Hause,« flüsterte Fanny.

»Das ist auch sehr gut,« erklärte die Bécu.

Lise und Franziska standen unschlüssig. Die eine wiegte ihren Sohn Julius im Arm; die andere hielt eine Tasse voll Wasser, wovon sie vergeblich versucht hatte, dem Vater zu trinken zu geben. Fanny packte Ernst, der die Grimasse des Sterbenden betrachtete, und schob ihn zur Türe.

»Lauf nach Hause und sag', sie sollen dir die kleine Flasche Kampferspiritus geben, die links im Schrank steht ... verstehst du, links!... Spring auch bei Großvater Fouan hinan und auch bei deiner Tante der Großen, und sag' ihnen, das Onkel Mouche sehr krank ist... Lauf, mach' schnell!«

Nachdem der Knabe verschwunden, fuhren die Frauen fort, den Fall zu erörtern. Die Bécu kannte einen Mann, der dadurch gerettet worden, daß man ihm drei Stunden lang die Fußsohlen gekitzelt hatte. Der Frimat fiel ein, daß ihr von zwei Sous Fliedertee, den sie im vorletzten Winter für ihren Mann gekauft, noch etwas übrig geblieben; sie lief ihn holen.

Bald kam sie mit dem Päckchen; Lise machte Feuer, nachdem sie ihr Kind Franziska gegeben. Da kehrte auch Ernst zurück.

»Großvater Fouan schläft schon... Die Große hat gesagt, wenn Onkel Mouche nicht so viel getrunken hätte, wäre ihm nicht schlecht.«

Fanny untersuchte die Flasche, die er ihr gereicht.

»Dummkopf,« schalt sie, »ich hatte dir gesagt, links! Du bringst mir Kölnischwasser.«

»Das ist auch gut,« beteuerte die Bécu.

Man flößte dem Patienten Fliedertee ein, indem man den Löffel zwischen die zusammengepreßten Zähne zwängte. Danach rieben sie ihm den Kopf mit Kölnischwasser. Aber es ging nicht besser; es war zum Verzweifeln. Sein Gesicht war noch dunkler geworden; man mußte ihn auf dem Stuhle zurechtsetzen, denn er drohte hinunterzugleiten.

»O,« rief Ernst, der wieder unter die Türe getreten war, »ich weiß nicht, was es heute regnen wird; der Himmel sieht merkwürdig aus.«

»Ja,« bestätigte Hans, »ich hab' eine häßliche Wolke heraufkommen sehen.«

Er kam auf seinen früheren Vorschlag zurück:

»Macht nichts, ich ginge schon den Arzt holen, wenn Ihr wollt.«

Bestürzt blickten die Geschwister einander an. Endlich entschied die Freigebigkeit der jungen Jahre Franziskas; sie entgegnete:

»Ja, ja, Korporal, fahrt nach Cloyes und holt Herrn Finet ... Man soll uns nicht nachsagen, daß wir nicht getan haben, was unsere Schuldigkeit war.

Coco war inmitten der Aufregung noch nicht ausgespannt worden; Hans sprang in den Wagen; man hörte ein Rasseln und Klirren und das holperige Rollen der Räder. Jetzt sprach die Frimat davon, ob man nach dem Geistlichen schicken wolle; aber die anderen hoben protestierend die Arme, als wollten sie sagen, man tue ja ohnehin genug. Ernst meinte, er laufe wohl die drei Kilometer bis zur Pfarrei in Bazoches-le-Doyen; doch seine Mutter wurde böse. Um keinen Preis lasse sie ihn bei einem so drohenden, rotschwarzen Himmel in die Nacht hinaus. Da übrigens der Alte weder verstehe noch antworte, sei es nicht viel anders, als wenn man den Priester zu einem Eckstein rufe.

Die bemalte Wanduhr schlug zehn. Alle waren überrascht, daß schon zwei Stunden vergangen, und doch hatte man eigentlich nichts getan. Aber nicht eine dachte daran heimzugehen; sie wollten sich das Schauspiel nicht entgehen lassen, sondern bis zum Ende dableiben. Auf dem Brotschrank lag ein sechs Pfund schweres Brot und daneben ein Messer. Zuerst schnitten sich die Geschwister, die trotz ihrer Besorgnis vom Hunger geplagt wurden, mechanisch ein paar Stücke ab und verzehrten sie trocken, ohne sich dessen recht bewußt zu werden. Dann machten die drei Frauen es ihnen nach; fortwährend stand eine beim Schrank, schnitt und aß. Es war keine zweite Kerze angezündet worden; man versäumte fast, die brennende zu putzen. Diese arme, düstere Bauernküche mit dem Todesröcheln des zusammengesunkenen Körpers auf dem Stuhle dort beim Tische hatte etwas unsäglich Trostloses.

Plötzlich stürzte, eine halbe Stunde nachdem sich Hans entfernt hatte, Mouche vornüber zur Erde. Sein Atem verstummte; er war tot.

»Was hab' ich gesagt?« rief die Bécu bitteren Tones. »Ihr habt absolut einen Arzt haben wollen.«

Franziska und Lise schauten einen Augenblick starr auf den Leichnam; dann fingen sie von neuem zu weinen an; und plötzlich warfen sie sich einander an die Brust.

»0 mein Gott, jetzt sind wir beide allein übrig... 0 Gott, Gott, was soll aus uns werden?«

Doch man konnte den Toten nicht auf dem Fußboden lassen. Im Umsehen besorgten die Frimat und Bécu das Nötige. Da sie die Leiche nicht bis ins Zimmer tragen mochten, zogen sie aus einem Bette die Matratze, brachten sie herbei, legten Mouche darauf, und deckten ihn bis ans Kinn mit einem Leintuch zu. Fanny entzündete inzwischen zwei andere Lichter und stellte sie rechts und links vom Haupte des Verschiedenen auf die Erde. So war alles vor der Hand, wie es sein mußte. Nur das dreimal mit dem Daumen zugedrückte linke Auge des Toten hatte sich immer wieder geöffnet und blickte aus dem verzerrten blauschwarzen Gesicht, das grell von dem weißen Laken abstach.

Lise hatte sich entschlossen, Julius zu Bett zu bringen; die Leichenwache begann. Dreimal wiederholten Fanny und die Bécu, sie wollten heimgehen, da die Frimat sich erboten, den Töchtern des Verstorbenen Gesellschaft zu leisten; doch sie brachen nicht auf. Die Weiber fuhren fort, leise miteinander zu plaudern, wobei sie immerwährend zu dem Toten hinüberschielten. Ernst hatte sich der Flasche Kölnischwasser bemächtigt und goß sie sich bis zum letzten Tropfen auf Kopf und Hände.

Es schlug Mitternacht; die Bécu hob die Stimme:

»Und Herr Finet! Ich bitt' Euch, da hat einer Zeit zu sterben, eh' der kommt ... Mehr als zwei Stunden, um ihn von Cloyes zu holen!«

In diesem Augenblick drang durch die offengebliebene Hoftüre ein heftiger Windstoß herein und löschte die beiden Talglichter zu Häupten des Verblichenen. Die Weiber erschraken. Doch während sie die Lichter wieder in Brand steckten, blies der Sturmwind von neuem noch heftiger als vorher, und ein heulendes Brausen kam über die schwarze Finsternis der Felder daher. Es war, als wenn ein verwüstendes Heer herangestürmt komme: die Zweige knackten, ein Stöhnen und Ächzen drang durch die Nacht. Die Frauen liefen bis zur Schwelle; sie sahen, wie eine kupferrote Wolke sich an dem blassen Himmel windend ballte. Mit einemmal brach es wie eine Musketensalve über ihren Häuptern los; ein Regen von Kugeln sauste herab und prallte hochaufspringend auf den Boden zu ihren Füßen.

Allen entfuhr ein Schrei des Jammers:

»Der Hagel! Der Hagel!«

Entsetzen packte die erbleichenden Weiber; stumm blickten sie in das wüste Treiben des Elementes. Es währte kaum zehn Minuten. Kein Donner ertönte; doch unaufhörlich fuhren bläulich schimmernde Blitze vorüber. Dies gräßliche Leuchten schien knapp über die Erde zu fegen und mit phosphorheller Pflugschar den Boden zu furchen. Die Nacht war nicht mehr so schwarz: die Schloßen durchschimmerten sie mit unzähligen blassen Lichtstreifen, als führen gläserne Fäden vom Himmel herab. Betäubend ward der Lärm; wie eine gewaltige Kartätschensalve, wie ein über eine eiserne Brücke rollender Eisenbahnzug, so prasselte und knatterte es immerfort. Wie toll heulte der Wind dazwischen; die schräg herabsausenden Eiskugeln säbelten alles nieder, häuften sich und deckten den Boden mit einer weißen Schicht.

»Der Hagel, mein Gott!... 0, das Elend! das Elend! ... Seht, er ist groß wie Hühnereier.«

Die Fensterscheiben zersplitterten; ein Hagelkorn zerbrach selbst einen Krug; andere rollten bis an die Matratze des Toten heran.

»Es gehen nicht fünf auf ein Pfund,« rief die Bécu und wog die Stücke in der Hand.

Fanny und Frimat rangen die Hände.

»Alles ist verloren!«

Es war zu Ende. Man hörte das Gepolter des Wetters in der Ferne verhallen; es ward grabesstill. Der Himmel war wieder tiefschwarz. Geräuschlos rieselte ein feiner Regen herab. Man unterschied nichts mehr da draußen als die dichtgeschichtete Saat der Schloßen: eine weiße Decke, die inmitten der dichten Finsternis mit einem eigentümlichen Flimmern leuchtete, als seien Millionen Nachtlämpchen über die Gefilde zerstreut.

Ernst war ins Freie geschlüpft und mit einem riesigen Eisball zurück, einem faustgroßen, unregelmäßigen Klumpen. Doch die Frimat vermochte nicht länger zu verweilen; sie mußte Nachschau halten.

»Ich will meine Laterne holen, um zu sehen, wie groß das Unglück ist.«

Fanny beherrschte sich noch einige Minuten; dann fuhr sie fort zu wehklagen:

»Welch ein Jammer! Wie muß das in den Gemüsen und in den Obstbäumen gewütet haben! Das Korn und der Hafer sind noch nicht hoch genug, sie haben wohl weniger gelitten. Aber die Weingärten! die Weingärten!«

Unter der Tür stehend, forschte sie in die undurchdringliche Nacht hinaus. Die Ungewißheit regte sie fieberhaft auf, sie versuchte den Schaden abzuschätzen, übertrieb, meinte, das ganze Land sei niedergeschossen und blute aus tausend Wunden.

»Gelt, Kinder,« rief sie endlich, »Ihr leiht mir eine von euren Laternen; ich will nach meinem Weingarten sehen.«

Sie entzündete die eine Laterne und verschwand mit Ernst.

Die Bécu besaß kein Land; im Grunde berührte sie die Katastrophe nicht. Doch sie seufzte, beschwor den Himmel und weinte; es lag in ihrer Natur, bei jedem Anlaß in Tränen auszubrechen. Dabei zog die Neugier sie immer wieder zur Türe hin, und jetzt blieb sie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Zwischen dem Stall und einem Schuppen hindurch fiel ihr Blick auf das Dorf; dort tauchte eine Unzahl Lämpchen aus dem Dunkel auf. Der Hagelschlag hatte die Bauern geweckt; ganz Rognes war auf den Beinen; niemand wollte den nächsten Morgen abwarten; Jeder mußte sich noch heute nacht vergewissern, welchen Schaden das Wetter auf seinen Feldern angerichtet. Mehr und mehr Lichter kamen zum Vorschein; hüpfend irrten sie durch die Nacht, die so undurchdringlich schwarz die Fluren umhüllte, daß man nicht einmal die Arme wahrnahm, welche die Laternen trugen. Aber die Bécu kannte die Lage jeder Hütte; jedem Lichte, das aus der Finsternis hervorbrach, gab sie einen Namen.

»Seht! Jetzt wird's hell bei der Großen; jetzt bei den Fouans. Dort drüben kommt Macqueron heraus, daneben Lengaigne ... Großer Gott! die armen Leute; das Herz möcht' einem brechen ... Es hilft nichts, ich muß 'mal schauen gehen!«

Sie verschwand. Lise und Franziska blieben allein bei der Leiche ihres Vaters. Noch immer regnete es; ein feuchter Wind blies über den Erdboden und flackerte in den Totenlichtern, so daß der Talg seitwärts hinabfloß. Sie hätten die Türe schließen müssen; doch weder die eine, noch die andere dachte daran. Das furchtbare Ereignis draußen nahm trotz der Trauer im Hause all ihr Sinnen gefangen. Nicht genug, daß der Tod in ihr Heim eingezogen, der liebe Gott hatte ihnen alles zerbrechen, zerstören müssen; wer weiß, ob ihnen morgen soviel übrig bleibt, daß sie nicht Hungers sterben müssen.

»Der arme Vater!« murmelte Franziska, »hätt' ihm das Kummer bereitet! ... Es ist besser für ihn, daß er's nicht zu sehen braucht.«

Ihre Schwester ergriff die zweite Laterne.

»Wohin gehst du?« fragte sie.

»Ich hab' Sorge um die Erbsen und Bohnen ... Ich komme gleich zurück.«

Lise eilte im Sturzregen über den Hof in den Gemüsegarten. Die Kleine blieb bei dem Alten. Doch sie trat unter die Türe und verfolgte mit ängstlicher Spannung die im Regen hin und wieder irrende Laterne ihrer Schwester. Sie meinte, Weinen zu vernehmen; ihr brach das Herz.

»Was gibt's? Wie sieht's aus?« rief sie.

Niemand gab Antwort; hastiger hüpfte das Licht durch den Garten; bald war's hier, bald dort, wie vom Schreck herumgejagt.

»Die Erbsen sind hin, sag'? ... Und die Bohnen, wie steht's mit den Bohnen? ... Mein Gott, mein Gott! ... Und der Salat und das Obst?«

Doch ein deutlich zu ihr herüberhallender Ruf des Schmerzes brachte sie zum Entschluß. Sie raffte ihre Kleider zusammen, rannte durch den strömenden Regen ihrer Schwester nach. Der Tote blieb allein in der öden Küche. Steif und starr lag er unter dem weißen Linnen zwischen den traurig qualmenden Lichtern. Das linke Auge starrte auf das alte Gebälk der Decke.

Welch eine furchtbare Verwüstung hatte das Land heimgesucht! Hundertstimmiger Jammer durchschluchzte die Nacht! Lise und Franziska schritten zwischen den Beeten hindurch; der Regen überschwemmte die Gläser der Laterne. Ein trüber Lichtschimmer fiel auf die Gewächse; nur undeutlich sahen sie, wie die Erbsen und Bohnen über der Wurzel geknickt waren; der Salat schien wie zerstampft, kein Blatt war mehr zu verwerten. Am meisten hatten die Bäume gelitten: die kleinen Zweige waren samt ihren Blüten und jungen Früchten wie mit einem Messer abgeschnitten; die Stämme selbst hatten Schaden genommen, der Pflanzensaft quoll aus den Wunden der zerrissenen Rinde.

Aber weiter drüben, in den Weingärten am Abhang des Tales war das Unheil noch größer. Zahllose Laternen bewegten sich dort, kreuzten einander, hasteten verzweifelt hin und her; Wehrufe und Flüche stiegen zum Himmel. Die Reben schienen mit einer Sense hinweggemäht; die Blütendolden, die Ranken und das Stützholz deckten den Boden. Es war nicht nur die diesjährige Ernte vernichtet; die Stöcke selbst waren bloßgelegt und verletzt und mußten verderben. Niemand fühlte den Regen. Ein Hund erhob ein wehklagendes Sterbegeheul. Die Weiber brachen in Tränen aus wie an einem offenen Grabe. Macqueron und Lengaigne halfen trotz ihrer Gegnerschaft, einander ihr Eigentum beleuchten, gingen von dem Grund des einen zu dem des andern und stießen verzweifelte Flüche hervor bei jedem neuen Unglück, das ihre wandelnden Laternen wie eine kurze Schreckerscheinung vor ihren Blicken wachriefen, und das hinter ihnen wieder in Nacht und Dunkel versank. Auch der alte Fouan war gekommen und tobte gegen die Unbill des Himmels, ob er auch keinen Weingarten mehr sein nannte.

Nach und nach regte die Verzweiflung all diese Leute auf: War es möglich, daß ihnen eine Viertelstunde die Frucht der Arbeit eines ganzen Jahres zerstörte? Was hatten sie verbrochen, daß sie so gestraft wurden? Keine Sicherheit gibt's, keine Gerechtigkeit; grundlos und unwillkürlich dürfen diese schrecklichsten Landplagen den Menschen zugrunde richten. Aber die Große ergriff sinnlos vor Schmerz plötzlich Kiesel, schleuderte sie gegen den unsichtbaren Himmel und brüllte:

»Kannst du uns nicht in Frieden lassen?!«

Auf seiner Matratze in der Küche stierte Mouche noch immer mit dem offenen Auge zur Decke empor, als zwei Wagen vor der Tür hielten. Hans brachte endlich Herrn Finet, nachdem er ihn fast drei Stunden lang in seiner Wohnung erwartet hatte. Der Bursch kam in dem Karren des Bauers, während der Arzt seinen Kutschierwagen genommen.

Finet war groß und mager; unbefriedigter Ehrgeiz hatte sein Gesicht mit einem wächsernen Gelb überzogen. Mit schroffer Eile riß er die Türe auf. Er haßte im Grunde die bäuerliche Kundschaft, die er für seine Mittelmäßigkeit verantwortlich machte.

»Wie, niemand da?« rief er ... »Es geht also besser?«

Dann bemerkte er die Leiche.

»Zu spät! ... Ich sagte es Euch vorher und wollte nicht kommen. Es ist immer dieselbe Geschichte: sie rufen mich, wenn sie gestorben sind.«

Diese nutzlose Störung inmitten der Nacht reizte ihn auf; als gerade Lise und Franziska eintraten, und er erfuhr, daß sie zwei Stunden gezögert hatten, ihn zu holen, machte er seinem Zorne Luft.

»Ihr habt ihn umgebracht, zum Teufel auch! ... Dieser Blödsinn, Kölnischwasser und Lindentee bei einem Schlaganfall!... Und kein Mensch bei einem Toten. Allerdings, weglaufen wird er euch nicht ...«

»Aber, Herr Doktor,« stotterte Lise in Tränen, »es war nur wegen des Hagels.«

Finet beruhigte sich sofort; die Sache interessierte ihn. So! es hatte hier gehagelt? Sein Verkehr mit den Bauern machte ihn empfänglich für alles, was diese berührte. Auch Hans war hinzugetreten; beide verwunderten sich laut, denn sie hatten auf dem Wege von Cloyes hierher nicht ein Hagelkorn abbekommen. In einer Entfernung von einem Kilometer voneinander waren die einen verschont, den anderen hatte es die Fluren verwüstet; welch ein Pech, sich auf der Unglücksseite zu befinden! Fanny brachte die Laterne zurück, die Bécu und die Frimat folgten ihr. Alle drei weinten und fanden nicht Worte, das Elend zu schildern, das sie gesehen. Ernst bemerkte der Arzt:

»Das ist ein Unglück, ein großes Unglück!... Es gibt kein größeres Unglück fürs Land.«

Ein dumpfes Geräusch, ein kollernder Ton unterbrach ihn. Es kam von dem zwischen seinen beiden Talglichtern vergessenen Toten. Alle verstummten; die Frauen bekreuzten sich.


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