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Fünftes Kapitel.

Um sieben Uhr, nachdem man das Essen eingenommen, begaben sich die Fouans, Buteau und Hans in den Stall, wo die beiden Kühe standen, die Rose nunmehr genötigt war zu verkaufen. Die Tiere waren an ihren Krippen angekettet; die warme Ausdünstung ihrer Körper und die dampfende Streu durchwärmten die Scheuer, während in der Küche die paar Holzscheite vom Abendessen schon verkohlt waren und die Wohnung in dem vorzeitigen Novemberfrost erstarrte. Im Winter pflegte man sich gern in diesen warmen Raum zur Abendunterhaltung zurückzuziehen; es wurde ein runder Tisch auf den Lehmboden gestellt, und ein Dutzend alter Stühle lud die Gäste ein. Jeder Nachbar brachte, sobald ihn die Reihe traf, ein Talglicht mit, das stellte man auf den Tisch; die großen Schatten der Versammelten tanzten an den staubschwarzen Wänden bis zu den Spinngeweben des Dachstuhls empor; im Rücken hauchte sie der warme Atem der wiederkäuenden Kühe an.

Zuerst erschien die Große mit ihrem Strickstrumpf. Sie steuerte niemals ihre Kerze bei, und aus Achtung vor ihrem hohen Alter wagte der Bruder nicht, sie hieran zu mahnen. Sofort besetzte sie den besten Sessel, schob den Leuchter dicht vor sich hin, nahm ihn fast für sich allein in Anspruch wegen ihrer schlechten Augen. An ihrem Stuhl lehnte der Stock, der sie stets begleitete. Einzelne Schneeflocken zerschmolzen in den paar Haarstümpfen, die unter ihrem Kopftuch hervorguckten.

»Schneit es?« fragte Rose.

»Es schneit«, versetzte sie in ihrer kurz angebundenen Art.

Sofort schloß sich ihr wortkarger Mund; sie warf einen stechenden Blick auf Hans und Buteau und begann zu stricken.

Bald kamen die anderen: zuerst Fanny mit ihrem Sohne Ernst, denn Delhomme erschien nie zu den Unterhaltungen; dann Lise und Franziska, die lachend den Schnee von ihren Kleidern schüttelten. Bei Buteaus Anblick errötete die erstere, während er, ihr unbewegt ins Gesicht blickend, rief:

»Ist's gut gegangen, Lise, seit wir uns nicht gesehen haben?«

»Ganz gut. Danke!«

»Desto besser!«

Inzwischen war Palmyre zur halboffenen Tür hereingeschlüpft, drückte sich an der Wand entlang und setzte sich möglichst weit entfernt von ihrer Großmutter, der schrecklichen Großen. Doch kaum hatte sie Platz genommen, als ein von der Straße hereinlärmendes Getöse sie wieder aufschreckte. Es war ein Lachen und ein Spottgeschrei, ein Greinen und wutknirschendes Lallen.

»Die verwünschten Bälge lassen ihn schon wieder nicht in Ruhe!« rief das Mädchen.

Mit einem Satze war sie an der Tür, stieß sie auf und entriß mit einem zornigen Knurren wie eine Löwin ihren Bruder Hilarion den Händen von Delphin, Dreckbatzen und anderen Kindern, welche den Narren mit ihrem Gespött verfolgten. Außer Atem und starr vor Furcht humpelte der Arme herein. Aus seinem verunstalteten Munde floß ihm der Speichel, er stammelte unverständliche Worte: ein Bild tierischer Häßlichkeit und Verkommenheit. Er war wütend, daß es ihm nicht gelungen, die Kinder zu fangen und zu ohrfeigen, die ihn mit ihren Schneeballen getroffen hatten.

»Er lügt!« verteidigte sich Dreckbatzen mit unschuldigem Gesicht. »Seht, er hat mich in den Daumen gebissen!«

Hilarion stieß ein unverständliches Durcheinander zorniger Worte hervor, während Palmyre ihn zärtlich zu beruhigen suchte und ihm das Gesicht trocknete.

»Nun ist's genug!« befahl Fouan. »Du solltest ihn daheim lassen; setz' ihn jetzt wenigstens dorthin und sorg', daß er still bleibt!... Und ihr, Bankerte, haltet's Maul, oder ich bring' euch bei den Ohren nach Haus.«

Doch der Narr wollte sich nicht zufrieden geben und fuhr fort, in stammelnder Rede sein Recht zu verteidigen. Da ergriff die Große flammenden Auges ihren Stock und ließ einen so gewaltigen Hieb auf den Tisch sausen, daß alles emporschrak. Palmyre und Hilarion duckten sich furchtsam zusammen und mucksten nicht mehr.

Die Abendunterhaltung begann. Die Frauen strickten und spannen beim Scheine der einzigen Kerze, machten allerlei Handarbeit, bei der die Finger sich fast ohne Beihilfe der Augen bewegten; die Männer hinter ihnen rauchten langsam ihre Pfeifen, nur hier und da ließ einer ein paar Worte fallen; in einem Winkel hockten die Kinder, neckten sich und kicherten halblaut.

Zuweilen wurden an diesen Abenden Märchen zum besten gegeben. So das von dem schwarzen Schwein, das mit einem roten Schlüssel im Maule einen Schatz hütete; oder das von dem Wundertier von Orleans, das ein Menschengesicht hatte, Flügel wie eine Fledermaus, bis zur Erde hängendes Haar, zwei Hörner und zwei Schwänze, den einen zum Fangen, den andern zum Töten. Das Ungeheuer verschlang einst einen Reisenden aus Rouen, so daß von ihm nichts übrig blieb als Hut und Stiefel.

Ein andermal wieder wurden endlose Geschichten von den Wölfen erzählt, reißenden Bestien, die jahrhundertelang das Land verwüstet. Früher nämlich, als der heute ganz freien Beauce von ihren einstigen Urwäldern noch einiges Buschwerk übrig geblieben, kamen im Winter zahllose Banden vom Hunger getriebener Wölfe daraus hervor und stürzten sich auf die Herden. Frauen und Kinder wurden von ihnen zerrissen; die alten Leute erinnerten sich, wie zur Zeit der großen Schneefälle die Wölfe sich selbst in die Städte schlichen; man hörte ihr Geheul nachts auf dem Sankt-Georgs-Platze in Cloyes, und in Rognes steckten sie die Schnauzen durch die Spalten der Stalltüren. Unermüdlich wiederholten sich die wunderbaren Abenteuer mit diesen gierigen Raubtieren: Ein Müller wurde von fünf Wölfen angefallen und verjagte sie, indem er ein Streichholz anzündete; ein kleines Mädchen wurde zehn Meilen weit von einer galoppierenden Wölfin verfolgt und erst, als das Kind vor ihrer Haustür zusammenstürzte, fiel die Bestie darüber her und zerfleischte es. Und viele andere Geschichten. Dann auch die Legende vom Wehrwolf, einem in ein Tier verwandelten Menschen, der den verspäteten Wanderern ins Genick sprang und so auf seinen angstgepeitschten Opfern durch die Nacht ritt, bis sie tot zusammenbrachen.

Doch was den Mädchen beim matten Schein des Talglichtes das Blut erstarren ließ, und was sie auf dem Heimweg wie ein Gespenst verfolgte, so daß sie mit furchtsamem Blick in das Dunkel starrten und laufenden Schrittes ihr Stübchen aufsuchten, das waren die Berichte von den Greueltaten der Räuber, jener furchtbaren Bande von Orgères, bei deren Erinnerung die Leute noch nach sechzig Jahren die Gänsehaut überlief. Es waren mehrere Hunderte gewesen, Bettler, fahnenflüchtige Soldaten, allerhand Gesindel, Männer, Frauen und Kinder, die sich zusammengetan, um von Raub und Brandschatzung zu leben. In bewaffneten, wohlgeordneten Trupps wie die alten Räuber aus früheren Jahrhunderten kamen sie daher, belagerten einsam liegende Gehöfte und drangen in die Häuser, indem sie die verschlossenen Türen mit Sturmböcken einrannten. Besonders beuteten sie die Unruhen der Revolution zu den furchtbarsten Gewalttaten aus. Bei Nachtanbruch schlichen sie wie die Raubtiere aus dem Gehölz von Dourdan, aus dem Dickicht von Conie, aus allerhand waldvergrabenen Schlupfwinkeln und verbreiteten Schrecken und Furcht in den Bauernhöfen der Beauce, von Etampes bis nach Chateaudun, von Chartres bis Orleans.

Unter den Schandtaten, welche diese Horden verübt, erzählten sich die Leute in Rognes am liebsten die Plünderung des Bauernhofes Millouard, das nur einige Meilen entfernt im Kanton Orgères lag. Der schöne Franz, der berüchtigte Räuberhauptmann, der Nachfolger von Dornblüte, war in jener Nacht begleitet von seinem Leutnant Rouge-d'Aneau, dann von Breton-le-cul-sec, Grand-Dragon, Lonjumeau, Sans-Pouce und fünfzig anderen, sämtlich mit geschwärzten Gesichtern. Zuerst sperrten sie die Leute des Hofes, die Mägde, Knechte und den Schäfer in den Keller. Dann »heizten« sie dem Bauern ein, dem alten Fousset, den sie allein in ihrer Mitte behielten. Sie brieten seine Füße über der Kohlenglut des Kamins, steckten ihm Bart, und Haupthaar in Brand und zerschlitzten ihm danach die Fußsohlen mit ihren Messern, damit die Flammen noch wirksamer ins Fleisch drangen. Endlich verstand sich der Greis dazu, den Versteck seines Geldes zu verraten; sie raubten alles und gaben den Alten frei, der noch die Kraft besaß, sich zu einem Nachbar zu schleppen und dort verschied.

Jedesmal schloß diese Darstellung mit dem Prozeß und der Hinrichtung der Banditen, die einer der ihren, Borgne-de-Jouy verraten hatte. Es war ein Riesenprozeß; die Untersuchung allein erforderte einen Zeitraum von achtzehn Monaten, während dessen vierundsechzig der Gefangenen in den schmutzigen Gefängnissen der Pest erlagen; hundertfünfzehn Angeklagte erschienen vor den Richtern, dreiunddreißig wurden in Abwesenheit verurteilt; siebentausendachthundert Fragen wurden den Geschworenen vorgelegt, und über dreiundzwanzig der Verhafteten ward das Todesurteil verhängt. In der Nacht der Hinrichtung schlugen sich die Scharfrichter von Chartres und von Dreux unter dem blutüberschwemmten Schafott um die Gewänder der Gerichteten.

In Anknüpfung an einen in der Gegend von Joinville stattgehabten Mord erzählte Fouan heute wieder einmal die Schrecknisse von Millouard. Er begann eben das Klagelied vorzutragen, das Rouge-d'Auneau in seinem Kerker verfaßt, als von der Straße ein seltsamer Lärm ertönte. Man vernahm schwere Schritte, Flüche; die Frauen fuhren entsetzt empor und lauschten erbleichend, als erwarteten sie, die schwarze Bande werde zur Tür hereinbrechen. Tapfer öffnete Buteau.

»Wer ist da?«

Sie bemerkten Bécu und Jesus, die infolge eines Wortwechsels mit Macqueron die Schenke verlassen hatten und mit den mitgebrachten Karten und einem brennenden Lichtstumpf daher taumelten, um hier ihre Partie zu beenden. Die beiden waren so betrunken und hatten den Weibern solch einen Schreck eingejagt, daß man sie mit lautem Gelächter empfing.

»Kommt nur herein!« rief Rose lächelnd ihrem großen Taugenichts von Sohn zu. »Aber führt euch brav auf. Eure Kinder sind auch da, ihr könnt sie dann mit nach Hause nehmen.«

Jesus und Bécu setzten sich neben den Kühen auf den Fußboden, stellten ihr Licht zwischen sich und fuhren fort: Atout, Atout und Atout!

Doch die Unterhaltung hatte gewechselt; man sprach jetzt von den Burschen im Ort, die im Februar zur Militärauslosung mußten, Viktor Lengaigne und zwei andere. Die Frauen wurden ernst, ein trübes Sinnen verlangsamte ihre Rede.

»Ja, das ist ein Unglück,« murmelte Rose, »ein Unglück für jeden, den's trifft.«

»Der Krieg!« gab Fouan drein, »der Krieg, das ist das Verderben der Landwirtschaft ... Wenn die Burschen fortziehen, fehlen die kräftigsten Arme; man spürt's bei der Arbeit. Und wenn sie wiederkommen, sind sie nicht mehr dieselben; die Feldarbeit schmeckt ihnen nicht mehr ... Lieber Cholera als Krieg!«

Fanny ließ ihren Strickstrumpf ruhen.

»Ich«, erklärte sie, »will nicht, daß Ernst einrückt ... Herr Baillehache hat uns ein Auskunftsmittel erklärt, eine Art Lotterie: Mehrere tun sich zusammen, zahlen an ihn eine bestimmte Summe, dann losen sie untereinander, und wer die gute Nummer zieht, wird mit dem Gelde freigekauft.«

»Dazu muß man reich sein!« warf die Große hin.

Doch Bécu hatte zwischen zwei Partien ein Wort von diesem Gespräch aufgefangen:

»Der Krieg! Blitz und Kanonen! der Krieg macht uns erst zu Männern!... Wer nicht dabei gewesen ist, weiß nichts ... Gelt, wenn sie alle so aufeinander dreinschlagen? Da unten bei den Braunen, denkst du noch daran?«

Und er zwinkerte mit den Augen, während Jesus zustimmend nickte. Sie hatten beide den afrikanischen Krieg mitgemacht; der Feldhüter schon von den ersten Eroberungen an, der andere später zur Zeit der letzten Aufstände der Araber. Trotz dieser verschiedenen Zeiten waren ihre Erinnerungen dieselben: Beduinen, denen sie die Ohren abgeschnitten und sich daraus Kränze machten; Beduinenweiber mit ölbeschmierten Leibern, die man hinter den Hecken abfing und in allen Löchern »pfropfte«. Jesus pflegte besonders eine Geschichte gern zu erzählen, bei welcher die Bauern lachten, daß ihnen der Bauch wackelte: ein kugelrundes quabbliges Araberweib, gelb wie eine Zitrone, das sie splitternackt mit einer Tabakspfeife im Hintern durchs Dorf getrieben hatten.

»Zum Henker auch!« rief Bécu zu Fanny hinüber. »Ihr wollt doch nicht aus Ernst ein Mädchen machen?... Mein Delphin muß Soldat werden; und was für einer!«

Die Kinder hatten aufgehört zu spielen, Delphin hob den runden, kräftigen Kopf eines Burschen, der schon nach Erde roch.

»Nein!« machte er eigensinnig.

»Was sagst du? Ich werde dir Mut einbläuen, du schlechter Franzose du!«

»Ich will nicht fort, ich will zu Hause bleiben!«

Der Feldhüter hob die Hand, um seine Drohung wahr zu machen; doch Buteau hielt ihn zurück:

»Laß doch das Kind in Ruh!... Er hat recht. Man wird auch ohne ihn fertig, es sind andere genug da ... Kommen wir etwa auf die Welt, um das Heim im Stich zu lassen und unsere Haut zu Markte zu tragen für allerhand Geschichten, die uns nichts angehen? Ich bin daheim geblieben, und es geht mir darum nicht schlechter.«

In der Tat hatte er sich seinerzeit freigelost, war zu Haus geblieben, wie er sagte, kannte nichts als den flachen Horizont von Beauce bis nach Orleans und Chartres. Er bildete sich was darauf ein, gleichsam wie ein Baum auf seinem Heimatsboden aufgewachsen zu sein. Er hatte sich erhoben; die Frauen schauten ihn an.

»Wenn sie vom Dienste heimkommen, sind sie alle so mager«, wagte Lise zu äußern.

»Und Ihr, Korporal,« fragte Mutter Rose, »Ihr seid wohl weit herumgekommen?«

Hans hatte schweigend zugehört. Langsam nahm er seine Pfeife aus dem Munde.

»Ja, ziemlich weit ... Doch nicht bis zur Krim; ich sollte dort hinziehen, da wurde gerade Sebastopol eingenommen ... Aber später, in Italien ...«

»Und wie ist Italien?«

Die Frage schien ihn zu verblüffen; er zögerte, suchte in seinen Erinnerungen.

»Na, Italien ist so wie hier bei uns. Es gibt Äcker, gibt Wälder und Flüsse ... Das ist überall dasselbe.«

»Und seid Ihr im Feuer gewesen?«

»Na ob!«

Er sog wieder an seiner Pfeife, ohne sich zu beeilen, während Franziska in der Erwartung seiner Erzählung offenen Mundes zu ihm aufblickte. Alle waren neugierig: selbst die Große schien sich für die Geschichte zu interessieren; sie hieb von neuem mit ihrem Stecken auf den Tisch, um den greinenden Hilarion zur Ruhe zu bringen, den Dreckbatzen verstohlen mit einer Nadel in den Arm stach.

»Bei Solferino ging's hitzig zu trotz des Regens; denn es regnete! Es goß wie mit Kannen ... Ich hatte nicht einen trockenen Faden am Leibe; das Wasser drang mir beim Nacken herein und floß bis in die Stiefel hinunter ... Ja, das können wir ohne Lug sagen, wir sind naß geworden.«

Man wartete, doch er setzte nichts mehr hinzu: er hatte nichts anderes gesehen von der Schlacht als den Regen. Nach einem minutenlangen Schweigen begann er wieder in seiner bedächtigen Art:

»Mein Gott, der Krieg ist nicht so schwer, wie man denkt ... Man zieht eine schlechte Nummer und rückt ein; jeder Mensch muß seine Pflicht tun. Ich bin nicht beim Militär geblieben, weil mir was anderes lieber ist; doch es hat wieder sein Gutes für den, welchen sein Gewerb' nicht freut und dem es keine Ruh' läßt, wenn der Feind ins Land kommt.«

»Eine häßliche Einrichtung bei alledem«, meinte Fouan. »Jeder sollte sein eigen Hab und Gut verteidigen und nicht mehr.«

Von neuem schwiegen alle. Es war sehr heiß geworden; eine feuchte, lebende Wärme, von dem starken Geruch der Streu durchsetzt, erfüllte den Raum. Eine der beiden Kühe entleerte sich, und man hörte das weiche gleichmäßige Klatschen der breiten Mistfladen. Aus dem finstern Gewirr der Dachbalken schrillte das melancholische Kri-Kri eines Heimchens herab; die fleißigen Hände der strickenden Frauen warfen seltsame Schattenbilder auf die Wand, wie wenn riesengroße Spinnen über das schwarze Gemäuer kletterte.

Palmyre ergriff die Schere und putzte das Licht; doch sie schnitt den Docht so tief ab, daß er erlosch. Die Mädchen lachten; die Kinder trieben Hilarion eine Nadel in den Schenkel; zeternd kreischte der Narr auf. Glücklicherweise konnte an dem einem glühenden Pilze gleichenden Kerzendochte der Spieler die Kerze wieder angezündet werden; der Lärm verstummte. Palmyre verkroch sich zitternd wie ein Kind, das fürchtet, gezüchtigt zu werden.

»Wer will uns etwas vorlesen?« fragte Fouan. »Korporal, Ihr müßt doch Gedrucktes sehr gut lesen können?«

Er hatte ein kleines fettgegriffenes Buch hervorgezogen, eine jener bonopartistischen Parteischriften, mit denen die Regierung das Land überschwemmte. Es war ein heftiger Angriff gegen die alte Regierung, die Geschichte eines Bauern vor und nach der Revolution unter dem Titel: » Die Leiden und der Triumph des Hans Gutmann.«

Hans nahm das Buch und begann, ohne sich bitten zu lassen, seinen Vortrag mit einer schülerhaft buchstabierenden Sprache ohne Interpunktion und Ton Wechsel. Andächtig hörten die anderen ihm zu.

Zuerst berichtete die Geschichte von den freien Galliern, die von den Römern unterjocht und zu Sklaven gemacht wurden; danach kamen die Franken, eroberten das Land, und aus den Sklaven wurden Hörige. Und die lange Leidenszeit des Hans Gutmann brach an, die Leidenszeit des Landmannes, der von Jahrhundert zu Jahrhundert ausgebeutet, gequält, zu Tode gehetzt worden. Das Volk der Städte lehnte sich auf, bildete Gemeinden, erwarb das Bürgerrecht; der Bauer in seiner Vereinsamung, dem nichts zu eigen war, der sich selbst nicht einmal gehörte, gelangte erst später dazu, sich mit seinem Geld die Freiheit zu erkaufen.

Welch eine Freiheit war das! Durch unmenschliche Lasten und Steuern wurde der Landmann ausgebeutet. So ungeheuerlich waren die Abgaben, so unerschwinglich, daß der Bauer, wenn seine schwieligen Hände das bißchen Grund und Boden festhalten wollten, fast verdammt war, von Kieselsteinen zu leben. Wie die Pilze wuchsen die an ihn gestellten Forderungen aus dem Boden; niemand wußte recht, woher sie kamen, und an wen alles gezahlt werden mußte; denn jeder nahm dem Landmann etwas: der König, der Bischof, der Grundherr hängten sich wie Blutegel an sein Fleisch und sogen ihn aus. Der König verlangte den Grundzins und die Steuer; der Bischof bekam den Zehnten; der Grundherr besteuerte alles, schlug Geld aus allem. Dem Bauer gehörte nichts zu eigen, weder das Land, noch das Wasser, noch das Feuer, noch selbst die Luft, die er atmete. Er mußte zahlen, zahlen, immer zahlen: für sein Leben, für seinen Tod, für seine Kontrakte, seine Herden, seinen Handel, sein Vergnügen. Er zahlte, um das Regenwasser aus den Gräben auf seinen Grund leiten zu dürfen; er zahlte den Staub, den seine Schafe im trockenen Sommer auf den Chausseen aufwirbelten. Wer nicht mit Geld zu zahlen vermochte, gab seinen Körper und seine Zeit her; leistete einen von dem Herrn und Gebieter willkürlich bemessenen Robotdienst; mußte für ihn pflügen, mähen, ernten, bestellte ihm die Weingärten, grub seine Schloßgräben, pflasterte die Straßen.

Dann die Pflichtleistungen in Naturabgaben; dann die Zwangsgerechtigkeiten; der Mühlenzwang, der Backhauszwang, der Kelterzwang, bei deren jedem ein Viertel abgegeben werden mußte. Dann das Wachtrecht, das selbst zur Zeit, als es keine Warttürme mehr gab, noch immer in Geld erlegt wurde. Dann das Quartierrecht, das bei einer Durchreise des Königs oder des Grundherrn die Scheuern plünderte, die Matratzen und Decken aus den Betten riß, den Bewohner aus seinem eigenen Heim jagte, ihm vielleicht Fenster und Türen zertrümmerte, wenn er nicht flink genug das Feld räumte. Doch die am meisten gehaßte Besteuerung, deren Erinnerung noch heute in den Hütten nachgrollte, das war die infame Salzsteuer, jener nichtswürdige Erpressungsakt: jede Familie wurde zu einem bestimmten Salzverbrauch abgeschätzt und gezwungen, diese Menge den königlichen Speichern abzukaufen.

»Mein Vater«, unterbrach Fouan das Lesen, »hat das Salz zu achtzehn Sous das Pfund gesehen. Das waren schwere Zeiten!«

Jesus lachte in seinen Bart; er hätte gern jenes andere Herrenrecht zur Sprache gebracht, dessen das Buch nur mit einer verschämten Andeutung Erwähnung tat.

»He!« rief er. »Und ... Ihr wißt schon ... wenn Hochzeit auf dem Lande war, kam der gnädige Herr und kroch in das Bett der jungen Frau ...«

Man gebot ihm Schweigen. Die Mädchen, selbst die hochschwangere Lise waren rot geworden, während Dreckbatzen und die beiden Buben das Gesicht zur Erde bückten und die Faust vor die Lippen preßten, um nicht loszuplatzen. Hilarion starrte offenen Mundes drein, als habe er jede Silbe verstanden.

Hans fuhr fort zu lesen. Jetzt kam er zur Gerichtsbarkeit, dieser dreifachen Rechtsgebarung des Königs, Bischofs und Grundherrn, welche den auf seiner Scholle schwitzenden Mann dreifach brandschatzte. Es gab das Gewohnheitsrecht, das geschriebene Recht und vor allem das Recht des Stärkeren, das Belieben der hohen Herren. Der Bauer besaß dem gegenüber keinen Schutz, hatte kein Einspruchsrecht gegen die Allmacht des Schwertes. Selbst in den späteren Jahrhunderten, als diesem Schalten Einhalt geboten, wurden die Justizämter an den Meistbietenden verschachert, und die Gerechtigkeit war käuflich. Besonders grausam äußerte sich der auf den Bauer geübte Druck bei den Rekrutierungen, dieser Blutsteuer, die lange Zeit hindurch ausschließlich von den kleinen Leuten auf dem Lande geleistet wurde. Sie entflohen in die Wälder; mit Kolbenstößen holte man sie heraus, führte sie in Ketten ab, als sollten sie auf die Galeere gebracht werden. Das Aufrücken in der Armee war ihnen vorenthalten. Irgendein Sohn aus »Familie« stand an der Spitze jedes Regiments und handelte damit wie mit einer Ware; er verkaufte die niederen Grade an die Meistzahlenden; den Rest seiner Menschenherde jagte er ins Feuer mit einer Sorglosigkeit und einer Nichtachtung des Lebens, als seien es Hammel.

Endlich kam jenes Jagdrecht, das, obwohl in unseren Tagen abgeschafft, noch einen nachgärenden Haß in den Herzen der Landleute zurückgelassen hat. Die Jagd war die erbangestammte Leidenschaft, war das alte feudale Vorrecht, das dem Grundherrn erlaubte, überall zu jagen, und dagegen mit dem Tode den armen Teufel bestrafte, der sich die Keckheit unterfing, auf seinen Feldern einen Hasen zu töten. Die Vögel, die Tiere des Waldes wurden zum Vergnügen eines einzigen hohen Herrchens unter freiem Himmel gleichsam in Käfige gesteckt; das Land war in Jagdreviere geteilt, in denen das Wild Felder und Wälder schädigen durfte, ohne daß der Landmann auch nur die Erlaubnis hatte, einen Spatzen zu schießen.

»Recht war's!« murmelte Bécu, der die Ansicht vertrat, man solle die Wilderer niederfeuern wie die Hasen.

Doch Jesus, der bei der Rede von der Jagd aufgehorcht hatte, brummte spöttisch in seinen Bart, das Wild gehöre dem, der es zu erlegen wisse.

»Mein Gott!« seufzte Rose bei diesen Worten.

Allen ward das Herz schwer bei dieser Vorlesung. Sie verstanden nicht alles, und das vermehrte ihr Unbehagen. Wie Spuk- und Gespenstergeschichten drückten die traurigen Erinnerungen auf ihr Gemüt: wenn das früher so gewesen, konnte es vielleicht wiederkehren?«

»Geduld, armer Hans Gutmann,« buchstabierte Hans weiter, »gib deinen Schweiß, gib dein Blut her; du hast noch lange nicht ausgelitten ...«

Jetzt begann der Bericht von dem eigentlichen Golgatha des Bauers, die Aufzählung all seiner Leiden. In der Feudalherrschaft, wenn die Edelleute auf Beute auszogen, wurde er verfolgt, gehetzt und als Gefangener mit fortgeschleppt. Unter jeder Privatfehde zwischen zwei Herren mußte der Bauer leiden; kam er nicht ums Leben, so brannten sie ihm wenigstens die Hütte nieder und verheerten seinen Acker. Später kamen die großen Kriegerrotten, die gefährlichste Geißel des Landbesitzers: Banden von Abenteurern, die bald für, bald gegen Frankreich angeworben, mit Feuer und Schwert durchs Land zogen und nichts als die nackten Felder übrig ließen. Wenn die Städte sich dank ihrer Mauern gegen diese Mordbrenner schützen konnten, das flache Land war ihnen preisgegeben; durch ganze Jahrhunderte, deren Andenken in der Geschichte mit Blutflecken gezeichnet ist, wimmerte der Klageschrei des mißhandelten Bauernvolkes: Weiber wurden geschändet, Kinder erwürgt, Männer an den Wegen aufgeknüpft. Verstummte der Waffenlärm, so erschienen die Einnehmer des Königs und schröpften die Armen. Die Lasten der regelrechten Steuern galten wie nichts gegenüber den phantastischen, willkürlich verlangten Abgaben, welche diese offiziellen Räuber gleich Kriegssteuern mit der Waffe in der Faust erpreßten. Nur ein Teil von diesem Gelde gelangte bis in den Staatssäckel; jeder dieser Plünderer behielt davon, und es wurde immer weniger, durch je mehr Hände es wanderte. Dann die Jahre der Teuerung. Die kurzsichtige drückende Herrschaft der Gesetze lähmte den Handel und verhinderte den freien Verkauf des Getreides, so daß fast alle zehn Jahre infolge zu großer Dürre oder zu langer Regenzeit gleich einem Gottesgericht eine furchtbare Hungersnot hereinbrach. Ein Wolkenbruch, der die Fluren überschwemmte, ein trockenes Frühjahr, jede Regenwolke, jeder Sonnenstrahl, der eine Ernte verdarb, nahm ganzen Landstrichen das tägliche Brot, zwang das hungernde Volk, das Kraut in den Gräben zu verschlingen gleich den Tieren, raffte Tausende von Menschenleben dahin. Nach den Kriegen, nach den Hungerjahren kamen in natürlichem Gefolge die Krankheiten und töteten alle, die das Schwert und der Hunger verschont hatten. Aus der Unreinlichkeit und Dummheit des Volkes stand das Gespenst der Blattern und der Pestseuche auf und riß mit seiner furchtbaren Sense das verkommene, bleiche Geschlecht der Landleute hinweg.

Wenn das Leid zu schrecklich ward, empörte sich Hans Gutmann. Jahrhunderte voll Furcht und Ergebung lagen hinter ihm; seine Schultern waren so hart von all den Schlägen des Schicksals, sein Herz war so mürbe geworden, daß er seine Erniedrigung nicht mehr fühlte. Man konnte lange nach ihm schlagen, konnte ihn aushungern, ihm Habe und Gut rauben, ohne daß ihn seine ruhige Ergebenheit verließ, diese tierstumpfe Gleichgültigkeit, die über allerhand unverstandene Dinge nachzugrübeln schien. Bis endlich eine letzte Ungerechtigkeit, ein letzter übermäßiger Schmerz ihn emporriß: er sprang seinem Herrn an die Kehle wie ein zu lang gequältes Haustier, das plötzlich wütend geworden. Immer wieder von Jahrhundert zu Jahrhundert macht sich so die Verzweiflung in einer Gewalttat Luft: wenn Hans Gutmann sich kein Heil mehr weiß wie den Tod, greift er zu Heugabel und Sense und zieht in den Bauernkrieg. So entstanden die christlichen Bagauden in Gallien, die »Hirten« zur Zeit der Kreuzzüge, später die »Hungrigen« und die »Barfüßigen«, die alle gegen die Edlen und gegen die Soldaten des Königs ins Feld zogen. Wird ihr Schmerzens- und Rachegebrüll nach vierhundert Jahren noch einmal über die wüsten Fluren donnern? Wird es noch einmal den Herren in ihren Schlössern das Mark in den Gebeinen erstarren? Wie, wenn sie, die in der Mehrheit sind, wieder aufständen und ihren Anteil an den Genüssen des Lebens forderten? Wenn wieder wie einst die halbnackten Burschen in ihren Lumpen daherstürmten, wild, toll in unbezähmbarem Verlangen, sengend, mordend, Weiber schändend, wie man es ihnen getan?

»Dämpfe deinen Zorn, Mann des Feldes,« las Hans weiter, »denn bald rückt heran die Stunde deines Triumphes auf dem Zifferblatt der Geschichte ...«

Buteau zuckte verächtlich die Achseln: ein schöner Unsinn, sich empören! Ja, ja, damit die Gendarmen einen einstecken! Auch die anderen horchten, seit das kleine Buch ihnen die Aufstände ihrer Vorfahren erzählte, mit niedergeschlagenen Blicken, unbeweglich und voll Mißtrauen, obgleich kein Fremder zugegen war. Das waren Dinge, über die es nicht klug schien zu reden; niemand brauchte zu wissen, was sie darüber dachten. Nur Jeses rief plötzlich, er werde, wenn's wieder losgehe, verschiedenen den Kragen umdrehen; doch Bécu fiel ihm heftig ins Wort, indem er erklärte, alle Republikaner seien Schweinehunde.

Feierlich aber, mit dem düstern Ernst eines alten Mannes, der gar viel erlebt hat und mehr weiß, als er sagen will, gebot Fouan ihnen Schweigen. Die Frauen schienen emsiger mit ihren Strickereien beschäftigt; nur die Große äußerte, ohne daß man recht den Zusammenhang begriff: »Was man hat, hält man fest!« Franziska aber hatte ihre Handarbeit aufs Knie gleiten lassen und blickte unverwandt den Korporal an, erstaunt, daß er so lange fehlerlos lesen konnte.

»Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!« wiederholte Rose mit einem noch bangeren Seufzer.

Aber der Ton des Buches veränderte sich jetzt; es begann in wortreichen Redensarten die Revolution zu feiern. Dort, in den Ereignissen von 1789 triumphierte Hans Gutmann. Nach der Erstürmung der Bastille, während die Bauern die Schlösser einäscherten, bekräftigte die Nacht des 4. August die Errungenschaften der Jahrhunderte, indem sie die Freiheit des Menschen und die bürgerliche Gleichheit festsetzte.

»In einer Nacht ward der Bauer ebenbürtig gemacht dem Grundherrn, der kraft seiner Pergamente sich mit dem Schweiße des Landmannes gemästet und ihm den Lohn seiner Arbeit geraubt hatte.« Abschaffung der Hörigkeit, Vernichtung aller Vorrechte des Adelstandes, Aufhören der geistlichen und herrschaftlichen Gerichtsbarkeit, Steuergleichheit, Zugänglichkeit zu allen Zivil- und Militärämtern für jeden Bürger ... so fuhr die Aufzählung fort. Alles Erdenleid schien verschwunden; ein neues goldenes Zeitalter brach an für den Landmann, dem eine ganze Seite des Büchleins Weihrauch streute, ihn den König, den Ernährer der Menschheit nennend. »Er ist die wichtigste Säule der Gesellschaft, die vor seinem heiligen Pflug niederknien sollte« ... Danach wurden die Schrecken von 1793 in flammenden Worten gebrandmarkt, und das Heft schloß mit einer überschwenglichen Lobschrift auf Napoleon, »den Sohn der Revolution«, der es verstanden, sie zu retten »aus den Irrwegen toller Leidenschaften, um das Glück des Landmannes zu gründen.«

»Das ist wahr!« rief Bécu, während Hans das letzte Blatt umschlug.

»Ja, das ist wahr«, bestätigte Papa Fouan. »Wir haben gute Tage erlebt zur Zeit, als ich noch jung war... Ich, wie ihr mich da seht, hab' einmal Napoleon gesehen. Es war in Chartres, ich zählte zwanzig Jahre ... Man war frei, man besaß Grund und Boden; es schien alles so schön! Ich erinnere mich, wie mein Vater einmal sagte: er säe Sous und ernte Taler ... Dann kam Ludwig XVIII., Karl X., Ludwig-Philipp. Es ging immer noch an; man hatte zu essen, man konnte sich nicht beklagen ... Jetzt haben wir Napoleon den Dritten; es war noch nicht zu schlecht das letzte Jahr ... Allein ...«

Er wollte den Schluß bei sich behalten; doch die Worte entschlüpften ihm wider Willen.

»Allein was hat all ihre Freiheit und Gleichheit uns genützt, der Rose und mir? ... Sind wir nach fünfzigjähriger Schinderei dadurch fetter geworden?«

In wenigen, stockend und mühsam hervorgebrachten Worten gab er unbewußt seine ganze Geschichte:

Er sprach von der Erde, die sie so lange für den Grundherrn bearbeitet gleichsam unter der Knute und in der nackten Besitzlosigkeit des Sklaven, der nichts sein nennt, nicht einmal seine Haut; von der Erde, die er mit seinem Fleiße befruchtet und so leidenschaftlich geliebt und ersehnt während dieser ununterbrochenen Gemeinschaft, gleichwie man liebt und begehrt das Weib eines andern, das man wohl pflegt, hütet und doch nicht besitzen darf; von der Erde, die er nach dieser Jahrhunderte alten Qual unbefriedigter Begier endlich erobert, endlich sein genannt, sein Ding, sein eigen, die einzige Freude, den Zweck seines Daseins. Dieses hundertjährige, nach so langem Harren gestillte Verlangen erklärte seine Liebe zu dem Stück Feld, das er sein nannte; erklärte diesen Besitzhunger, der ihn so viel wie möglich erwerben hieß, diese Sammlerleidenschaft für den feuchten Erdenkloß, den man vom Boden aufliest und in der hohlen Hand wägt. Und doch, wie gefühllos und wie undankbar ist die Erde! Mochte man sie noch so heiß lieben: sie fühlte nichts, erwärmte sich nicht, brachte darum kein Korn mehr hervor. Zu lange Regen verdarben die Saat, Hagelwetter vernichtete das jung sprossende Getreide, der Sturm knickte die Halme, zwei trockene Monate genügten, um die Ähren auszudörren. Dann die schädlichen Insekten, welche die Pflanzen benagen; die Fröste, die den treibenden Keim abtöten; die Viehseuchen, wucherndes Unkraut, alles trug zum Verderben bei, es war ein nie ruhender Kampf um die Daseinsfrage. Gewiß hatte der Alte seine Kräfte nicht geschont; mit beiden Fäusten arbeitete er darauflos, verzweifelt und wütend, daß seine Arbeit nicht genügen wollte. Die Muskel seines Körpers waren vertrocknet, er hatte all seine Kraft der Erde gewidmet, die ihn kaum ernährt und ihn jetzt elend, unbefriedigt, als einen ohnmächtigen Greis beiseite schob und in die Hände eines andern Mannes überging ohne Erbarmen für seine alten Knochen, auf die sie wartet.

»Das ist das Leben!« fuhr der Alte fort. »In der Jugend schindet man sich die Haut von den Knochen, und wenn man endlich mit elender Mühe so weit gelangt, daß man allenfalls bestehen kann, ist man alt und muß heimgehen ... Nicht wahr, Rose?«

Die Mutter nickte mit ihrem wackelnden Kopf. 0, du großer Gott, ja! sie hatte gearbeitet; gewiß mehr noch gearbeitet als ein Mann! Frühmorgens war sie die erste auf, kochte die Suppe, kehrte, scheuerte, rackerte sich ab mit der Kuh, mit dem Schwein, am Backtrog; und erst, wenn alle schon schliefen, kam auch sie zur Ruhe. Sie mußte gut gebaut sein, um es zu überstehen. Und ihr einziger Lohn war, daß sie das Leben gehabt. Man wird runzlig und muß sich glücklich schätzen, wenn, nachdem man jeden Liard in vier Stücke geschnitten, nachdem man sich ohne Licht schlafen gelegt, mit Wasser und Brot ernährt hat, soviel zusammengescharrt ist, daß man in seinen alten Tagen wenigstens nicht Hungers sterben braucht.

»Und doch,« hub Fouan wieder an, »wir dürfen uns nicht beklagen. Ich hab' von Gegenden gehört, wo der Boden eine Viehsmühe macht. So haben sie in der Perche nichts als Steine ... In der Beauce ist der Boden wenigstens weich, er verlangt nur ordentliche und fortgesetzte Bearbeitung ... Aber so wie früher ist er heute nicht mehr; Äcker, auf denen man einst zwanzig Hektoliter erntete, geben nur noch fünfzehn ... Und der Preis des Hektoliters ist seit einem Jahre heruntergegangen; man erzählt, daß aus dem Land der Wilden Getreide eingeführt wird; es liegt etwas Übles in der Luft, sie nennen's eine Krise ... Das Unglück stirbt nicht aus, und ihr allgemeines Stimmrecht tut uns kein Fleisch in den Suppentopf. Die Grundsteuer drückt, unsere Söhne müssen zum Militär und in den Krieg ... Und wenn sie noch soviel Revolutionen machen, es ist immer Jacke wie Hose, der Bauer bleibt der Bauer.«

Hans wartete ruhig, bis der Alte ausgeredet; als alles schwieg, las er ruhig weiter:

»Glücklicher Landmann, bleib bei deinen Feldern! Geh nicht in die Stadt, wo du alles kaufen mußt, Milch, Fleisch, Gemüse; wo dich allerhand Gelegenheiten verführen, mehr auszugeben, als not tut. Hast du in deinem Dorfe nicht Luft und Sonne, eine gesunde Arbeit und ehrbare Vergnügungen? Das Landleben kennt nicht seinesgleichen; du besitzest das wahre, echte Glück, fern von dem goldenen Flitter der Städte; ein Glück, um das dich der Arbeiter in der Stadt beneidet, denn er kommt heraus und feiert seine Festtage in deinen Fluren. Selbst der Bürger hat nur ein Sehnen, sich einmal aufs Land zurückzuziehen; dort, wo du weilst, träumt er glücklich zu sein, Blumen zu pflücken, die Früchte frisch von den Bäumen zu verzehren und sich im Grünen zu tummeln. Glaub' eines, Hans Gutmann: das Geld ist nur Schaum! Wenn du den Frieden in deinem Herzen besitzest, bist du ein reicher Mann.«

Seine Stimme wurde weich; diese Bilder ländlichen Glückes rührten den in der Stadt aufgewachsenen jungen Menschen; er hatte Mühe, seine Bewegung zu unterdrücken.

Die anderen blieben finster. Die Frauen hielten den Kopf auf ihre Arbeit gebeugt; die Männer schauten mürrisch drein. Wollte das Buch sie zum besten halten? Das Geld allein hat einen Wert, und sie besaßen keines! Es entstand ein düsteres Schweigen, in welchem das Leid und der Groll dieser Menschen sich barg. Hans unterbrach das Unbehagen dieser Pause:

»Bei alledem würde es vielleicht besser gehen, wenn man sich unterrichtete ... Wenn die Alten früher so unglücklich waren, kam es von ihrer Unwissenheit. Heute weiß man schon manches, und es geht unbedingt etwas weniger schlecht. Also man müßte trachten, recht ordentlich zu lernen; müßte Schulen haben, in denen gelehrt würde, das Land zu bebauen mit den Fortschritten, die es gibt ...«

Aber Fouan fiel ihm heftig in die Rede; der in altem Brauch und Herkommen eingewöhnte Sinn des Greises verlangte zum Wort.

»Laßt uns doch in Ruh' mit eurer Wissenschaft! Je mehr man weiß, um so schlechter geht's. Ich sag' euch ja, daß die Erde vor fünfzig Jahren mehr trug als heute. Es ärgert sie, wenn man sie quält; sie bringt nicht mehr hervor, als sie eben will. Schaut doch hin, ob Herr Hourdequin nicht Geld verloren hat, soviel er schwer ist, mit all den neuen Erfindungen ... Nein! nein! Es ist nun mal nicht anders: der Bauer bleibt der Bauer!«

Es schlug zehn Uhr, als der Alte mit diesem Wort wie mit einem wuchtigen Hieb die Unterhaltung abschloß. Rose erhob sich, um den üblichen Imbiß zu Allerheiligen zu holen: einen Topf Kastanien, die sie in der Asche des Küchenherdes warm gestellt hatte. Sie brachte auch zwei Liter weißen Wein, damit das Fest vollständig sei. Die Geschichten wurden vergessen, man ward guten Mutes; Zähne und Nägel arbeiteten, um die noch rauchenden Kastanien aus ihrer Schale zu lösen. Die Große hatte sofort ihren Anteil in die Tasche gesteckt, weil sie langsamer aß als die anderen. Bécu und ebenso Jesus warfen sich die mehlige Frucht, wie sie war, in den Rachen und verschlangen sie mit der holzigen Hülse. Palmyre hingegen schälte sie mit besonderer Sorgfalt ab und steckte sie dem Hilarion eine nach der anderen in den Mund, wie man eine Gans stopft. Die Kinder wieder »machten Wurst«: Dreckbatzen biß ein kleines Loch in die Schale der Kastanien und preßte dann die Frucht in einem dünnen Strahl hervor, den Ernst und Delphin ableckten. Das war sehr schön; Lise und Franziska entschlossen sich, es ebenso zu machen.

Noch einmal wurde das Licht geputzt; dann stießen alle auf gute Freundschaft miteinander an. Es war sehr heiß geworden; ein rötlicher Dampf stieg aus der Mist jauche auf; das Heimchen schrillte noch lauter in dem von den Schatten der Versammelten belebten Sparrenwerk des Daches. Damit auch die Kühe an dem Feste teilnahmen, warf man ihnen die Schalen hin, die sie mit einem regelmäßigen, leisen Geräusch zermalmten.

Endlich begann um halb elf Uhr der Aufbruch. Zuerst führte Fanny ihren Sohn Ernst nach Hause. Dann taumelten Jesus und Bécu hinaus und begannen, wie die Kälte der Nacht wieder ihren Rausch aufweckte, sich von neuem zu streiten, während die Kinder der Trunkenbolde, Dreckbatzen und Delphin, jedes seinen Vater unterstützte und vorwärts schob, ihn gleich einem widerspenstigen Tiere, das nicht in seinen Stall will, heimsteuerte.

Jedesmal wenn die Tür sich öffnete, drang ein eisiger Hauch von den beschneiten Feldern herein. Die Große beeilte sich nicht. Langsam knüpfte sie ihr Tuch um den Hals; ohne einen Blick auf Palmyre und Hilarion zu werfen, die, in ihren Lumpen vor Frost zitternd, das Weite suchten, zog die Alte ihre Halbhandschuhe an. Endlich ging sie; man hörte, wie sie in ihrem Hause nebenan mit heftigem Schlag die Fensterläden schloß. Auch Franziska und Lise rüsteten sich zum Heimgang.

»Sagt, Korporal,« bat Fouan, Ihr begleitet die beiden wohl? Es ist ja auf Eurem Weg.«

Hans nickte zustimmend, während die Mädchen sich in ihre Tücher hüllten.

Buteau erhob sich; mit einem starren, grübelnden Gesichtsausdruck durchmaß er den Stall von einem Ende zum andern. Seit der Vorlesung hatte er nicht mehr den Mund geöffnet; diese Geschichte von dem in so schweren Kämpfen errungenen Landbesitz nahm sein Sinnen gefangen. Warum konnte er nicht alles sein nennen? Der Gedanke an eine Teilung schien ihm unerträglich. Noch andere, verworrene und unklare Gedanken arbeiteten hinter seiner finstern Stirn; es war Zorn, Stolz, der Eigensinn, der nicht das einmal Gesagte widerrufen wollte; es war die heftige Begier nach dem väterlichen Gute, eine Begier, die nach Befriedigung dürstete und doch wieder zurückgedämmt wurde von der Furcht, übervorteilt zu werden. Plötzlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Ich leg 'mich schlafen. Lebt wohl!«

»Was heißt ›Lebt wohl!‹?«

»Ja, ich geh' vor Tagesanbruch nach der Chamade zurück ... Lebt wohl! Wir werden uns vorher nicht mehr wiedersehen.«

Vater und Mutter pflanzten sich nebeneinander vor ihm auf:

»Und dein Anteil?« fragte Fouan. »Nimmst du ihn?«

»Nein!«

Die ganze Gestalt des greisen Bauers begann zu zittern; seine alte Autorität fand noch einmal einen laut tönenden Ausdruck:

»Es ist gut, du bist ein schlechter Sohn ... Ich werde deinem Bruder und deiner Schwester ihr Teil geben; das deinige verpachte ich ihnen und richte es so ein, daß sie es nach meinem Tode behalten. Du bekommst nichts ... Geh!«

Buteaus starrköpfiger Sinn beugte sich nicht. Jetzt versuchte Rose ihm zu Herzen zu sprechen:

»Aber wir lieben dich gerade so wie unsere anderen Kinder, du Tor! ... Du trotzest gegen deinen eigenen Vorteil. Nimm doch, was man dir gibt!«

»Nein!«

Er verschwand.

Draußen schritten Lise und Franziska unter dem Eindrucke dieser Szene stillschweigend dahin. Sie hielten sich wieder bei der Taille umschlungen; so wandelten sie in die bläulich schimmernde Winternacht. Hans, der ihnen folgte, hörte sie weinen. Er versuchte, ihnen Mut zuzusprechen. »Laßt! Er wird sich's überlegen, morgen willigt er ein.«

»Ihr kennt ihn nicht«, rief Liese. »Er läßt sich lieber in Stücke zerschneiden, ehe er nachgibt ... Nein, nein, es ist alles aus!«

Mit gebrochener Stimme setzte sie hinzu:

»Was werde ich nun mit seinem Kinde anfangen?«

»Das Kind muß heraus«, sagte Franziska.

Darüber lachten sie. Aber sie waren zu traurig, und von neuem brachen die Geschwister in Tränen aus.

Hans geleitete sie bis zu ihrer Tür, dann setzte er querfeldein seinen Weg fort. Es schneite nicht mehr, der Himmel war klar und hell; ein Meer von Sternen leuchtete am Himmel; ein bläulicher kristallheller Schein verklärte die Nacht. Die Beauce weitete sich bis zum Horizont; ein schattenloser, grellweißer Plan wie ein Eismeer. Nicht ein Windhauch zog über die Ebene; kein Geräusch als der hämmernde Schritt des Wanderers auf dem harten Boden. Eine tiefe Ruhe umgab ihn, ein hehrer Friede durchatmete den starren Frost.

Die traurigen Dinge, die er gelesen, durchwühlten ihm das Hirn; er nahm seine Mütze ab, um sich zu erfrischen. Ein drückender Schmerz beschwerte sein Haupt; er empfand das Bedürfnis, an nichts mehr zu denken.

Doch die Erinnerung an das schwangere Mädchen und ihre Schwester lastete immerfort wie eine Bürde auf seinem Sinn. Seine groben Schuhe hallten Schritt um Schritt. Eine Sternschnuppe löste sich aus dem flimmernden Deckengewölbe der Flur, ein gleitender Lichtstreif, der lautlos erlosch.

Dort drüben lag die Borderie, eine leichte Hügelung, die kaum die weiße Matte überragte. Als Hans in den Seitensteg einbog, erinnerte er sich, wie er hier vor wenigen Tagen den Roggen gesät; er blickte nach links: dort schlummerte die Saat unter dem schneeigen Bahrtuch. Wie Hermelin so duftig leicht deckte es den Boden; jede Furche des Ackers zeichnete sich darunter ab: die erstarrten Gliedmaßen der toten Erde. Wie schön mochte das Saatkorn dort schlummern! Welch kühle Ruhe in diesem schneeumhüllten Bette bis zu dem lauen Morgen, wenn die Sonne des Frühlings es wieder zum Leben erweckt.


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