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XXXIII

Während der paar Ferientage, die noch blieben, hielt sich Eugen fast ganz dem Haus fern, erschien nur für kurze, brummige Mahlzeiten und spät abends zum Schlafengehn. Er wartete auf seine Abreise wie ein Sträfling auf seine Entlassung. Die gefühlsseligen Vorspiegelungen – nasse Bahnsteigaugen und plötzliche, hektische Wärmeausstrahlungen beim Schrillen der Lokomotivsirene – rührten ihn diesmal nicht. Er hatte herausgefunden, daß die Tränendrüsen nicht viel anders als die Schweißdrüsen der Haut auf gewisse Reizungen reagieren und schon beim bloßen Anblick eines Eisenbahnzugs leicht zu einer salzigen Absonderung bewegt werden können. So hatte er die etwas kühle Haltung eines Weltmanns, der beim Antritt einer kleinen Wochenendreise gelassen unter der lautlärmenden Menge auf ein Fährboot wartet

 

Er machte jenes Wort wahr, mit dem er seine Lage als Student erklärt hatte: als die eines Angestellten, der für den ausgeworfnen Lohn die entsprechende Gegenleistung bietet. Diese Auffassung bestimmte und bestätigte sein Verhalten und schützte ihn einigermaßen vor seiner eignen Sentimentalität. In jenem Frühjahr tat er sein Erstaunlichstes und beteiligte sich an allen möglichen studentischen Veranstaltungen und Unternehmungen, jede Auszeichnung teilte er gewissenhaft seiner Familie mit. Mehr als einmal kam sein Name in die Altamonter Zeitungen. Gant hob die Ausschnitte auf; stolz las er sie vor, sooft sich eine Gelegenheit bot.

Eugen bekam zwei kurze, unbeholfne Briefe von Ben, der nun in jener Tabakstadt, 150 Kilometer von Pulpit Hill entfernt, seine Stelle angetreten hatte. Zu Ostern fuhr Eugen hin zu Besuch; er wohnte bei Ben auf der Bude. Das nie irrende Geschick hatte den Stillen wiederum in die offnen Arme einer grauhaarigen Witwe geführt. Sie war noch nicht fünfzig, ein hübsches, albernes Weibsbild. Wie mit einem angebeteten Kind trieb sie allerlei Kurzweil und Schabernack mit Ben. Sie nannte ihn gahlernd ihren »alten Lockenkopf«, worauf er sein gewohntes: »Ach Du mein Gott! Nun hör Dir das an, bitte!« zu seinem Schöpfer emporzuschicken pflegte. Sie war in eine närrisch-kindische Verspieltheit zurückgefallen; manchmal ging sie ganz plötzlich auf den »alten Lockenkopf« los, gickste ihn mit steifen Fingern in die Rippen, schlüpfte hurtig hinweg und rief triumphierend aus: »Hah! Diesmal hab ich Dich aber erwischt!« In jener Stadt roch es stets und ständig nach rohem Tabak. Es stach einem beißend-beizig in die Nase. Den Fremden, der von der Bahn kam, warf es fast um. Die Ortsbürger aber sagten: »Nein, nein, es riecht überhaupt nicht.« Und nach einem Tag merkte der Fremde nichts mehr davon.

Am Ostermorgen stand Eugen in der blauen Tagesfrühe auf und zog mit Scharen andrer Pilger auf den Mährischen Friedhof.

»Du solltest wirklich hingehn«, hatte Ben gemeint. »Es ist ein altberühmter Brauch, aus allen Ecken und Enden kommen Leute, um sich das Schauspiel anzusehn.« Ben selber aber blieb zu Haus.

Von der Blechmusik mehrerer Kapellen geleitet, rückte man auf dem fremdartigen Begräbnisort ein. Alle Grabsteine lagen flach auf den Gräbern, ein Zeichen dafür, sagte man, daß der Tod alle Unterschiede ausgliche. Aber als die Hörner, Posaunen und Trompeten losschmetterten, drängte sich Eugen die alte Phantasie von den leichenzehrenden Gespenstern auf: die weißen, ernsten Grabplatten erschienen ihm wie die Tischtücher, auf denen die Guhlen speisen; er kam sich vor, als nähme er an einem obszönen Gastmahl teil. Der Frühling war wiedergekommen; auf der Erde lag hellfunkelndes Wassergesprüh, die Toten waren dabei, als Blumen und Blüten wiederzukehren. Ben ging durch die Straßen der Tabakstadt und sah wie eine Asphodele aus; – seltsam, ein Gespenst an diesem Ort zu finden! –; seine alte Seele schlich verdrossen an den billigen Backsteinbauten und den frischgetünchten Fassaden vorüber.

Der Stadtplatz lag hoch; in der Mitte stand das Amtsgericht; Autos waren in dichten Reihen geparkt; junge Männer lungerten in den Drogerien.

Wie wirklich das alles ist, dachte Eugen, ganz wie etwas, das wir immer kannten und nicht mehr anzusehn brauchen. Die Stadt würde dem Thomas von Aquino nicht seltsam vorgekommen sein, ... wohl aber der Thomas von Aquino der Stadt.

Ben schlich einher, grüßte die Kaufleute mit ernsthaft gerunzelter Stirn, unterhielt sich mit ihnen über die Ladentheken: – ein Phantom, das unter praktischen Rundschädeln mit stiller, eintöniger Stimme um Anzeigen warb.

»Das ist mein kleiner Bruder, Mister Fulton!«

»Hallo, Sohn! Donnerkiesel, Ben, dahinten bei Euch im Gebirg scheinen aber die Langen zu wachsen. Na also, junger Mann, wenn Sie so sind wie der Ben da, dann werden wir hier Ihnen nicht auf die Hühneraugen treten. Wir halten mordsmäßig viel von ihm.«

Das kommt mir vor, als hielte man mordsmäßig viel von Baidur droben in Connecticut, dachte Eugen.

 

Ben lag im Bett, die Ellenbogen aufgestützt, rauchte.

»Ich bin erst drei Monate hier«, sagte er, »aber ich kenne schon all die führenden Geschäftsleute. Ich bin gern gesehen.« Er streifte den Bruder mit einem schnellen Blick, grinste; sein seltnes Eingeständnis hatte den Reiz der Schüchternheit. Aber seine Augen brannten wild vor Einsamkeit und Verzweiflung. Sehnte er sich ins Gebirg? Hatte er – Heimweh? Er rauchte.

»Da siehst Du's. Die Menschen denken gut von einem, sobald man von seinen Angehörigen weg ist. Zu Haus hat man keine Gelegenheit, Eugen. Sie machen einem das Leben unmöglich. Um Gottes willen, geh fort von zu Haus, wenn Du irgend kannst ... Was ist denn los mit Dir, warum stierst Du mich so an?« fragte er scharf, als er merkte, daß Eugen ihn unverwandt anstarrte. Einen Augenblick später fuhr er fort: »Sie verderben einem alles.« Und dann unvermittelt: »Kannst Du das Mädchen denn nicht vergessen?«

»Nein«, sagte Eugen. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie hat mich den ganzen Frühling heimgesucht.«

Er verrenkte den Hals mit einem wilden Schrei.

 

Mit dem Frühling nahm das Gesumm vom Krieg zu. Die älteren Studenten verschwanden und rückten stillschweigend ein; die jüngeren warteten gespannt auf den Tag. Ihnen brachte der Krieg keine Sorgen; er war ein Festzug, der sie – sie spürten es –, augenblicklich ins Licht des Ruhms heben konnte. Das Land floß von Milch und Honig. Sonderbare Gerüchte liefen um von einem Eldorado im Norden, im Industriegebiet an der Küste Virginiens. Ein paar von den Studenten hatten im letzten Jahre in den Sommermonaten dort gearbeitet. Sie erzählten von fürstlichen Löhnen; ein ungelernter Arbeiter konnte am Tag zwölf Dollar verdienen; man würde als Zimmermann eingestellt, wenn man mit Hammer, Säge und Reißwinkel ankam; niemand frage einen was.

Krieg heißt für junge Männer nicht Tod; er heißt Leben. Nie war die Erde so bunt wie in diesem Jahr. Der Krieg schien Erzgruben zu erschließen, von denen die Nation zuvor nichts geahnt hatte; Reichtum und Macht entfalteten sich maßlos, richteten sich unerhört auf. Und dieser imperiale Wohlstand, diese Schaustellung der Macht durch Menschen und Geld wandelte Eugen auf irgendeine Weise an wie lyrische Musik: Reichtum, Liebe und Ruhm machten ein symphonisches Geräusch; das Zeitalter der Mythen und Mirakel schien wiedergekommen; alles war möglich.

Er fuhr heim am Ende des Studienjahrs, gespannt wie eine Bogensehne. Er verkündete, daß er nach Virginien gehen wolle. Sie erhoben Einspruch, aber nicht laut genug, um ihn zurückzuhalten. Elizas Gedanken waren vollauf mit Bodenspekulationen und dem Sommerbetrieb der Pension beschäftigt. Gant starrte in die Finsternis. Helene lachte und schalt ihn; dann verstummte sie plötzlich und petzte sich geistesabwesend am Kinn:

»Kannst Du denn nicht ohne sie auskommen? Mich kannst Du nämlich nicht beschummeln, nein, Lieberchen, das bringst Du nicht fertig. Ich weiß ganz genau, warum es Dich dorthin zieht«, erklärte sie spaßend. »Sie ist 'ne verheiratete Frau jetzt, hat womöglich schon ein Baby; Du hast kein Recht, ihr nachzulaufen.«

Dann erklärte sie unvermittelt:

»Also laßt ihn ziehn, wenn er durchaus will! Mir kommt der Plan albern vor, er wird es schon selber herausfinden.«

Sein Vater gab ihm 25 Dollar. Das reichte für die Fahrkarte nach Norfolk und ließ ihm noch ein bißchen Geld übrig.

»Hör auf mich!« sagte Gant. »Du wirst in einer Woche wiederkommen. Diese Reise ist ein törichtes Abenteuer ins Blaue, weiter nichts.«

Eugen fuhr.

 

Er fuhr die ganze Nacht hindurch. Ihr entgegen. Er lag, die Arme aufgestützt, im Pullmanbett und starrte wie verhext auf die mondhelle, weite, romantische Landschaft mit ihren träumenden Wäldern hinaus.

Früh am Morgen kam er nach Richmond; er mußte umsteigen; hatte Zeit zwischen den Zügen. Er verließ den Bahnhof, ging den Hügel hinauf und sah das schöne, alte State House im jungen, reinen Frühlicht liegen. Er trank Kaffee in einem kleinen Restaurant in der Broad Street, zusammen mit jungen Männern, die an ihre Arbeit gingen. Der kurze, gelegentliche Kontakt mit ihrem Leben, gerade nun, nachdem er einsam und großartig durch die Nacht angekommen war, bezauberte ihn. Der Reiz des Alltäglich-Zufälligen erschloß sich. Die kleinen, tickenden Laute der erwachenden Stadt hörten sich seltsam an nach dem Geräusch des Schienendonners. Die Menschenstimmen an diesem fremden Ort schienen so seltsam vertraut. Die Stadt hatte eine magische Unwirklichkeit für ihn; sie hatte kein Dasein, außer dem, das er ihr verlieh; er fragte sich, wie sie bestanden habe, ehe er ankam, wie sie nach seiner Weiterreise bestehn würde. Er sah alle Menschen an, er verzehrte sie mit seinen Augen, die noch von den weiten Mondlichtmatten der Nacht, der kühlen, grünen Offenheit der Morgenlandschaft erfüllt waren. Die Menschen erschienen ihm wie merkwürdige Wesen in den Schaukäfigen zoologischer Gärten; er starrte sie an, um Spuren ihrer Stadt an ihnen zu entdecken, um an ihren Gliedern und Gesichtern den Ausdruck des besondren, eignen Kosmos zu erkennen. Und der große Hunger nach Reisen stieg in ihm auf: Oh, immer so wie jetzt in der Tagesfrühe in fremde Städte kommen, umherstreifen und unter den Leuten sitzen wie ein Unbekannter, ja, wie ein Gott in der Verbannung, eine ungeheure Schau des Erdenrunds in sich tragend.

Der Barkellner gähnte und drehte raschelnd die Seiten einer Morgenzeitung um: das war sonderbar.

Wagen ratterten vorbei; Kaufleute ließen die zeltnen Schutzdächer vor ihren Läden herunter; er ging fort von ihnen, als ihr Tag begann.

Eine Stunde später fuhr er wieder. Hundertzwanzig Kilometer weiter lagen das Meer und Laura. Sie schlief, unwissend daß die ruhlosen Räder ihn zu ihr brachten. Er sah auf den wasserblauen Himmel mit den weißen Wölkchen, auf das Marschland mit den Föhrenwäldern hinaus. Er kam nach Newport News, bestieg das Schiff, das ihn über die Roads nach Norfolk brachte.

Das heiße Virginien kochte unter dem glutblauen Himmelsofen, Aber in den Roads schaukelten die Schiffe in der frischen Brise von Krieg und Ruhm.

 

Vier Tage lang blieb Eugen in der Siedehitze der Stadt Norfolk. Das Geld ging ihm aus in diesen vier Tagen, und es ängstigte ihn nicht. Seine Pulse gingen schneller, er empfand die kühne Wollust der Einsamkeit, er freute sich, wenn er an die unerwarteten Wendungen dachte, die sein Leben nun nehmen könne. Er spürte die Antennen der Welt, das Leben surrte wie eine versteckte Dynamomaschine mit der ungeheuren Aufregung von zehntausend ruhmreichen Bedrohungen. Er konnte alles tun, alles wagen, alles werden. Aus Dunkelheit, Hunger und Einsamkeit konnte er im Nu zu Macht, Ruhm und Liebe erhoben werden.

Er ging nachts am Wasser spazieren; er hörte die Uferlaute, das Anschwappen der Wellen an die verkrusteten Pierpfosten; er trank den starken, grünen Duft des Wassers und den Kabeljaugeruch tief ein. Dann sah er zu, wie die großen Schiffe beladen wurden, wie sie sich grell erleuchtet langsam hinunter ins Wasser wälzten. Und die Nacht war erfüllt vom Gekreisch und dem Rattern der großen Krane, dem plötzlichen Kettengerassel, dem Geschrei der Aufseher, dem Gerumpel der Ladekarren auf den Landungsbrücken.

Das imperiale Amerika ballte zum erstenmal seine Macht zu einem ungeheuren Wurf zusammen. Die Luft war geladen mit mörderischer Geilheit, wüster, verschwenderischer, verderblicher Ausschweifung.

Durch die heißen Straßen der Stadt trieb das Gesindel der Nation, trieben Gauner, Rohlinge, Vagabunden: – Revolverhelden aus Chicago, finstre Nigger aus Texas, verkommne Brüder aus dem Verbrecherviertel New Yorks, bleiche Juden mit weichen Händen aus den Läden der großen Stadt, Schweden aus dem Mittelwesten, Iren aus Neuengland, Gebirgler aus Tennessee und Nordkarolina, – und Huren in Rudeln und Horden, Huren aus allen Ecken und Enden des Landes, Huren, für die der Krieg die große, fette Gans war, die den ganzen Tag goldne Eier legt. Es gab kein Glauben, kein Denken an die Zukunft. Es gab nichts als das triumphante Nun. Über den Augenblick hinaus gab es kein Leben.

Junge Farmer aus Georgia kamen abends von ihrer Arbeit auf den Ladedocks, den Schiffswerften, den Camps und warfen sich in ihren Pfauenstaat: am Rinnstein standen sie, hart und braun und hager im Gesicht, mit großen, groben, schwieligen Händen, in braunen Schuhen zu 18 Dollar, Anzügen zu 80 Dollar, blau-und-rot gestreiften Seidenhemden zu 8 Dollar. Sie waren Zimmerleute, Maurer, Arbeitsaufseher, oder sie behaupteten, sie wären es, und sie verdienten 10, 12, 14, 18 Dollar am Tag.

Sie arbeiteten nicht ständig, sie gingen von Camp zu Camp, schafften einen Monat und faulenzten üppig eine Woche lang, die kurze, gekaufte Liebe der Mädchen genießend, die sie an einem Badestrand oder in einem Bordell kennen lernten.

Mordskerle von Negern, Bullen mit Gorillaarmen und Panthertatzen, verdienten 60 Dollar die Woche und gaben das Geld an einem einzigen Abend runstroter Lust für ein Mulattenmädchen aus.

Und stiller, nüchterner, besonnener bewegten sich in diesem Trubel die älteren, sparsameren Handwerker, die wirklichen Zimmerleute, die wirklichen Maurer, die wirklichen Mechaniker: – gerissene, protestantische Iren aus Nord-Karolina, Fischer von der Küste Virginiens, schlaue Farmer aus dem Mittelwesten. Sie waren gekommen, um zu verdienen, zu sparen, um am Krieg Geld zu machen.

Überall in diesem schwärmenden Gedräng glänzten Uniformen. Matrosen, braun, zäh und sauber, in flappendem Blau und makellosem Weiß, wimmelten auf den Straßen. Marinesoldaten, arrogant zu zweit, schritten vorüber, steif wie Ladestöcke, im Pomp der Waffenröcke, prangend die V-förmigen Dienstgradabzeichen auf den Rockärmeln, leuchtend die bunten Streifen der Hosennaht. Kommandeure, grau und grimmig, harthändige Deckoffiziere und elegante junge Seekadetten, frisch von der Universität, und etwas Blondes in Tüll an der Seite, gingen vorüber an den roten Mützenquasten französischer Matelots und an den englischen Blaujacken mit dem seekundigen, schiffschwankenden Gang.

Durch diese Menge schob Eugen; tags in Schweiß gebadet, nachts im ranzigen, scharfen Geruch seiner verschwitzten Kleider. Das verklebte Haar hing ihm in die Augen, wand sich in Spirallocken durch die Löcher seines alten, grünen Filzhuts, stand in dichten Zotteln um seinen schmutzigen Nacken. Sein Hunger nach Reisen – jener Hunger, der die Amerikaner, die eine nomadische Rasse sind, umtreibt – war halbgestillt hier im Mahlstrom des Kriegs.

Er verlor sich in der Menge. Er rechnete nicht mehr mit Tagen, und sein kleiner Geldvorrat schmolz. Aus einem billigen Hotel, das nachts vom Radau der Hurerei laut war, zog er in eine kleine knallheiße, nach Tannenholz und Dachpappe riechende Kammer in einem Lodginghouse. Nach dem Lodginghouse bezog er eine Schlafstatt im Asyl des Christlichen Vereins Junger Männer, wo er Nacht für Nacht erschien, seine fünfzig Cent Bettgebühr berappte und in einem Saal zusammen mit vierzig schnarchenden Matrosen übernachtete. Schließlich, als sein Geld alle war, pennte er, bis man ihn herausschmiß, in einem billigen Speiselokal, das die ganze Nacht offen stand; dann unter der Fähre von Portsmouth und über dem schwappenden Wasser auf den morschen Bohlen eines Landungsstegs.

Abends trieb er sich unter den Negern herum und belauschte sie bei ihren wortreichen Liebesanträgen; er ging den Matrosen nach, die Church Street hinunter, dorthin, wo es Weiber gibt. Er strich umher mit seiner jungen Raubtierlust, sein dünner Knabenkörper stank nach getrocknetem Schweiß, seine Augen brannten in der Dunkelheit.

Er hatte Hunger. Sein Geld war alle. Aber es war ein Hunger und Durst in ihm, der nicht mit Speise und Trank gestillt werden konnte. Über seinem verwirrten Hirn schwebte der Schatten von Laura James. Ihr Schatten schwebte über der Stadt, über allem Leben. Er hatte ihn hierhergelockt. Sein Herz war geschwollen vor Scham und Stolz; er wollte sie nicht aufsuchen.

Er war von der Vorstellung besessen, daß er ihr in der Menge begegnen würde. Hier würde sie die Straße entlang kommen, dort gleich um die Ecke biegen. Er würde sie nicht ansprechen. Er würde stolz und gleichgültig vorübergehn. Er würde sie nicht sehn. Aber sie sollte ihn sehn. Sie sollte ihn in irgendeinem heroischen Moment sehn, wenn er gerade in der Liebe und der Achtung, die ihm schöne Frauen darbrachten, schwelgte. Sie sollte ihn ansprechen; er würde sie nicht ansprechen. Sie würde betroffen sein, sie würde betreten sein, sie würde ihn um Liebe und Barmherzigkeit anflehn. So, unsauber, ungekämmt, in Lumpen, Hunger und Wahnsinn gekleidet, sah er sich als schön, siegreich und heldisch. Er war irre vor Besessenheit. Täglich ein Dutzend Mal bildete er sich ein. daß er Laura auf der Straße sähe. Das Herz sank ihm in die Hosen, er wußte nicht, was er tun oder sagen solle, ob er stehnbleiben oder davonlaufen solle. Stundenlang brütete er über ihrer Adresse im Telephonverzeichnis. Er saß vor dem Apparat, zitternd vor Aufregung, gebannt von dem Gedanken, daß er mittels der furchtbaren Magie dieses Instruments binnen einer halben Minute ihre Stimme hören könne.

Er suchte ihr Heim auf. Sie wohnte in einem alten Holzhaus, weitab vom Zentrum der Stadt. Vorsichtig stelzte er in der Nachbarschaft herum, hielt sich aber immer einen Block vom Haus entfernt. Er beobachtete es versteckt von allen Seiten, mit verstohlnen Augen, mit heiß zum Hals schlagendem Herzen, – nie aber ging er vorm Haus vorüber, nie direkt auf es zu.

Er war verkommen und dreckig. Seine Schuhe waren durchgelaufen, seine verhornten Fußsohlen traten das heiße Pflaster. Er stank.

Schließlich suchte er Arbeit. Arbeit gab es ungeheuer viel, aber die hohen Löhne, von denen er gehört hatte, gab es selten. Er konnte nicht behaupten, daß er Zimmermann oder Maurer sei. Er war ein heruntergekommener Bursch, weiter nichts, und sah danach aus. Er ging zum Navy Yard in Portsmouth, zur Naval Base in Norfolk, zum Bush Terminal; überall war Arbeit zu haben, sehr viel Arbeit zu haben: Schwerarbeit für vier Dollar am Tag. Er hätte sie gern genommen; es stellte sich aber heraus, daß er seinen ersten Lohn erst nach vierzehn Tagen haben konnte, weil der Lohn für die erste Woche einbehalten würde, um ihn gegen Erkrankung, Aufruhr, Abschub oder Unfall zu versichern. Und er konnte sich unmöglich vierzehn Tage halten.

Er ging zum Juden und versetzte die Uhr, die ihm Eliza zum Geburtstag geschenkt hatte. Er bekam fünf Dollar. Dann setzte er mit dem Schiff wieder nach Newport News über und fuhr mit der Trambahn die Küste hinauf nach Hampton. Er hatte in Norfolk die Nachricht aufgeschnappt, daß in Hampton auf dem Flugfeld Arbeit sei, und zwar so, daß die Arbeiter dort auf Kosten der Firma im Lager verpflegt und beherbergt würden.

Eine kleine Baracke am diesseitigen Ende einer langen Brücke, die zum Flugfeld hinüber führte, diente als Annahmestelle. Eugen wurde als Arbeiter eingetragen. Die Wache durchsuchte die Kleider und sein Handgepäck. Dann schleppte er sich über die Brücke, stieß Schritt für Schritt den Handkoffer, in dem seine schmutzigen Sachen unordentlich verstaut waren, mit dem Knie vor sich her.

 

Diese Monate, von Hunger und Entsetzen voll, können hier nur kurz und andeutungsweise behandelt werden. Kaum etwas von Eugens Erlebnissen und von den Menschen, die er damals kannte, wird hier erzählt, denn die Ereignisse jener Zeitspanne gehören in eine Geschichte von Flucht und Wanderschaft. An dieser Stelle haben sie lediglich den Sinn einer Einführung in die Reise, die dieses Leben machen wird; sie geben einen Vorgeschmack der Verbannung, in der dieser Mensch leben wird. Aus dem Chaos dieser von Nachtalben verfinsterten Monate läßt sich nichts lesen außer dem blinden Tasten einer Seele nach Freiheit und Selbständigkeit.

Eugen arbeitete einen Monat lang auf dem Flugfeld.

Schließlich hungerte ihn wieder nach Schiffen und Gesichtern. Er gab seine Arbeit auf und lebte von seinem Lohn eine Woche in Saus und Braus in Norfolk und an den Badestränden Virginiens. Fast wieder ohne einen Pfennig, das wilde Kaleidoskop von tausend Straßen und Millionen Lichtern, die grelle Verwirrung und den gellenden Lärm des Karnevals im Kopf, kehrte er auf der Suche nach Arbeit nach Newport News zurück. Er war in Begleitung eines andern Burschen aus Altamont, den er an einem Badestrand aufgelesen hatte. Dieser junge Mann, der ebenfalls das Sparen nicht gelernt hatte und als Kriegsarbeiter abenteuerte, hieß Sinker Jordan und war drei Jahre älter als Eugen. Er war ein hübscher, verwegner Bursch, klein von Gestalt; er hinkte infolge eines Beinschadens, den er als Junge bei einem Fußballspiel davongetragen hatte. Von Charakter war er schwach und flatterhaft; er haßte jede Anstrengung; Ausdauer bewies er nur, wenn es galt, sein Pech zu verfluchen.

Die beiden Jungen hatten zusammen ein paar Dollars. Sie machten gemeinsame Kasse und kauften sich, wildoptimistisch, bei einem Pfandverleiher die nötigsten Zimmermannswerkzeuge: Hammer, Handsäge und T-förmige Reißwinkel. Sie reisten fünfzehn oder zwanzig Kilometer landeinwärts nach einem traurigen Regierungscamp unter den Föhren Virginiens, das vor Hitze fast verging. Sie wurden zurückgewiesen und kehrten niedergeschlagen und finster nach der Stadt zurück, die sie morgens so hoffnungsfroh und heiter verlassen hatten. Noch ehe die Sonne unterging, hatten sie sich Arbeit auf den Shipbuildingyards beschafft, aber drei Minuten nachdem sie sich zur Einstellung gemeldet hatten, waren sie auch schon wieder entlassen. Sie mußten nämlich in einer Werkstatt voller Hobelspäne und stillsurrenden Treibriemen dem schmunzelnden Werkmeister gestehn, daß sie von der höchstspezialisierten Zimmermannsarbeit beim Schiffsbau keinen blauen Dunst hatten. Sie hätten ruhig hinzufügen können, daß sie von anderer Zimmermannsarbeit ebensowenig wußten.

Nun hatten sie keinen Pfennig mehr. Als sie wieder auf der Straße waren, schmiß Sinker Jordan die fatalen Werkzeuge auf das Pflaster und fluchte wüst über die törichte Anschaffung, die sie nun zum Hungerleiden verdammte. Eugen hob die Werkzeuge auf und brachte sie zu dem unentwegten jüdischen Onkel, der sie ihm wieder abnahm. Er gab ihm nur ein paar Dollar weniger dafür, als sie ihm am Morgen dafür bezahlt hatten.

Eugen stand in aller Herrgottsfrüh auf; nach vergeblichen Versuchen, den üppig schlafenden Sinker zu wecken, lief er in der Grelle bei den Lagerschuppen und Ladedocks herum, dort, wo die Munition nach Frankreich verstaut und abtransportiert wurde. Nachdem er den ganzen Morgen gesucht hatte, fand er schließlich für sich und Sinker Arbeit. Der sie ihm gab, war der Oberlademeister Mister Finch, ein geschwollner, kleinlicher Tyrann. Mister Finch war ein nervöser, häßlicher Mann mit großen, groben Kiefern, um die die gespannten Muskeln ständig zuckten; er hatte stechende Augen und trug eine Brille.

Eugen wurde eingestellt als »Checker«, d. h. Kontrolleur. Er mußte die Transporte und Ladearbeiten überwachen, die von den »Stevedores«, d. h. den Stauern, ausgeführt wurden, und darüber das »Tally«, d. h. die Kontrolliste, führen. Die Stevedores waren Neger.

Am nächsten Morgen um sieben ging er an die Arbeit. Sinker erschien erst zwei Tage später, nachdem sein letztes Kleingeld verzehrt war. Eugen schraubte seinen Stolz herunter und lieh sich ein paar Dollars von einem der anderen Checkers. Davon lebten er und Sinker kärglich bis zur nächsten Lohnauszahlung, die schon nach ein paar Tagen war. Das Geld, das sie bekamen, schlüpfte schnell durch ihre achtlosen Finger. Bald hatten sie nur noch ein paar Münzen, und der nächste Zahltag war erst in zwei Wochen. Sinker würfelte mit den Checkers hinter der großen Festung aus Hafersäcken auf dem Pier, verlor, gewann, stand ohne einen Cent auf und verfluchte Gott. Eugen kniete neben den Checkers, den letzten halben Dollar auf dem Handteller, ohne auf Sinkers bittern Vorwurf zu hören. Er hatte noch nie Würfel geworfen, und natürlich gewann er. Acht Dollar und fünfzig Cent. Er erhob sich hochgemut von den erstaunten Spielratzen und lud Sinker zum Dinner im besten Hotel ein.

Zwei Tage später ging er wieder hinter die Burg aus Hafersäcken; spielte um seinen letzten Dollar und verlor.

Er fing an, Hunger zu leiden, einen trübseligen Tag nach dem andern. Die grelle Sonne brannte auf die Ladedämme, es war unmenschlich heiß. Schiffe und Güterzüge liefen aus und ein; Munition und Fourage für die Soldaten. Die Luft staubte. Er machte lange »Tallies«, wenn die Stevedores mit ihren Ladekarren an ihm vorüberschwärmten. Sinker Jordan bettelte und erborgte kleine Summen von den andern Checkers und lebte von Mineralwasser und Käse aus dem kleinen Kramladen gegenüber der Ladestation. Eugen konnte nicht betteln und borgen gehn. Teilweise war es Stolz, mehr aber noch hemmte ihn die mächtig brütende Untathaftigkeit seines Temperaments, die zusehends die Herrschaft über seinen Willen zum Handeln gewann. Er konnte einfach nicht davon sprechen. Jeden Tag nahm er sich vor: »Heute werde ich zu einem von ihnen davon reden. Ich werde sagen, daß ich essen muß und kein Geld habe.« Aber als er es versuchte, konnte er einfach nicht davon sprechen.

Da sie tüchtig arbeiteten und mehr Arbeit zu bewältigen war, mußten sie nachts Überstunden machen. Diese Überstunden wurden fünfzig Prozent besser bezahlt als die Tagesarbeit. Eugen hätte sich sonst gern das Geld verdient, aber nun, taumelnd vor Erschöpfung, war ihm der Ruf zur Arbeit entsetzlich. Mehrere Tage schon war er nicht mehr nach der finstren Bude heimgegangen, in der er mit Sinker Jordan zusammen hauste. Nach Feierabend suchte er sich eine Oase in der Riesenburg aus Hafersäcken und schlief den Schlaf des Erschöpften. Das Rattern der Krane und Winden, das Rumpeln der Karren, das Sirenentuten ferner Dampfer, die oben am Strom verankert waren, klangen wie eine verworrne Symphonie in seinen Ohren.

Er lag da, und die Welt verdämmerte in seinem Bewußtsein. Und der Krieg erreichte seinen leidenschaftlichsten, blutigsten Höhepunkt in diesem furchtbaren Monat. Er lag da wie ein Gespenst seiner selbst und dachte mit Schmerz und Kummer an all die Millionen Städte und Gesichter, die er nicht gekannt hatte. Er war das Atom, um das sich alles frühere Leben gedreht hatte, Cäsar war für ihn gestorben und ein namenloses Weib in Babylon, und irgendwo hier, auf diesem wunderbaren, sterbenden Fleisch, auf diesem Myriadenhirn ruhte die Spur ihres Geistes.

Und er dachte an die fremden, verlornen Gesichter, die er gebannt hatte, an die einsamen Gestalten seiner Angehörigen, jede ans Chaos verdammt, jede mit Ketten an ein Schicksal von Verlust und Untergang geschmiedet: – Gant, ein gefallner Titan, auf unendliche Sichten Vergangenheit zurückstarrend, gleichgültig gegen die Welt, die ihn umgab, – Eliza, wie eine Ameise mit Vermögenszuwachs beschäftigt. – Helene, kinderlos, weglos, eine große Woge, die sich an wüstem Felsenstrand bricht, – und schließlich an Ben, das Gespenst, den Fremdling, der in diesem Augenblick in einer andern Stadt umherschlich, die tausend Gassen des Lebens auf- und abging und keine Türen fand.

 

Am nächsten Tag auf dem Pier wurde es Eugen schwächer und schwächer in den Knochen. Er saß spreizbeinig auf einem Thron aus gerundeten Hafersäcken, es schwamm ihm vor den Augen, als er das Einladen der Säcke überwachte und das Tally mit zitternden Zeichen auf das große Blatt schrieb. Er bewegte jedes Glied mit äußerster Vorsicht, er hob es auf und legte es an seinen Platz zurück, als wäre es ein völlig von ihm getrennter Gegenstand.

Als Feierabend war, wurden sie zur Nachtarbeit bestellt. Eugen, taumelig vor Schwäche, hörte die weithin schallende Stimme des Oberlademeisters.

Die Stunde des Nachtessens fiel auf dem Pier wie eine plötzliche Stille. Es kamen, matter werdend, Geräusche aus den Lagerschuppen. Eugen hörte die trampelnden Tritte der Arbeiter am Ausgang, das Schwappen des Wassers an einen großen Schiffsrumpf, ein paar Laute von der Brücke.

Er kletterte auf die Burg aus Hafersäcken, bis er die höchste Zinne erreicht hatte. Die Welt verebbte aus seinem schwindenden Bewußtsein. Nachher, wenn ich mich ausgeruht habe, werde ich runterklettern und wieder arbeiten. Es ist ein heißer Tag gewesen. Ich bin müd.

Als er versuchte, die Glieder zu bewegen, konnte er es nicht mehr. Sein Wille war geknebelt, er war hilflos wie ein Mensch im Käfig, er kämpfte vergebens gegen sein bleiernes Fleisch. Er dachte nach, ruhig und klar dachte er nach, erleichtert und still erfreut: Sie werden mich nicht finden. Ich kann mich nicht bewegen. Es ist vorbei. Wenn ich das vorher gewußt hätte, hätte ich mich nicht gefürchtet. Und jetzt fürchte ich mich nicht. Da lieg ich auf dem Hafersack und tu mein Teil für die Demokratie. Ich werde anfangen zu stinken. Dann werden sie mich finden.

Das Leben verglomm aus seinen müden Augen. Er lag halb ohnmächtig auf den Säcken ausgereckt. Er dachte: Hafersäcke, Hafer, Pferde.

So fand ihn der Junge Checker, der ihm am Anfang einmal Geld geliehen hatte. Der Checker beugte sich über ihn, hielt ihm mit der einen Hand den Kopf hoch und flößte ihm mit der andern aus einer Flasche starken, scharfen Branntwein ein. Als Eugen sich ein bißchen erholt hatte, half ihm der Checker von der Haferburg herunter und ging langsam mit ihm über die hölzerne Plattform des Piers.

Sie gingen über die Straße in einen kleinen Kramladen. Der Checker bestellte eine Flasche Milch, eine Schachtel Salzkeks und einen großen Block Käse. Als Eugen aß, liefen ihm die Tränen über das schmutzige Gesicht. Er konnte sie nicht zurückhalten; er weinte vor Hunger und Schwäche.

Der Checker stand über ihm und sah ihn mit gütig, besorgten Blicken an. Er war ein junger Mann mit einem großen, vierkantigen Kinn und einem kleinen Tellergesicht, er trug gelehrtenhafte Augengläser und rauchte nachdenklich eine Pfeife.

»Warum hast Du mir nichts gesagt? Ich hätte Dir Geld gegeben«, sagte er.

»Ich – weiß – nicht«, sagte Eugen zwischen zwei Bissen Käse. »Konnte nicht.«

Von den fünf Dollar, die ihm der Checker lieh, lebten er und Sinker Jordan bis zum Zahltag. Dann, nachdem sie vier Pfund Beefsteak zu Nacht gegessen hatten, reiste Sinker Jordan nach Altamont ab, um eine ältere Erbschaft zu genießen, die ihm ein paar Tage zuvor, an seinem einundzwanzigsten Geburtstag, rechtsgültig zuteil geworden war.

Eugen blieb.

 

Mister Finch, der Oberlademeister, mit den häßlichen Schlitzaugen und dem liebenswürdigen Heimtückerlächeln trat an Eugen heran.

»Ich hab da 'ne Arbeit für Sie, Gant«, sagte er. »Doppelte Bezahlung. Sie sollen auch mal ans leichtverdiente Geld ran, drum möchte ich Ihnen das zuschanzen.«

»Ja. Worum handelt es sich?« sagte Eugen.

»Das Schiff da wird mit großem Stoff beladen. Es fährt sofort raus auf den Strom und wird dort vollgepackt. Sie werden heut abend mit einem kleinen Schleppboot abgeholt«, erklärte er.

Der Checker mit dem Tellergesicht, dem Eugen strahlend von seinem Auftrag berichtete, sagte:

»Ich bin auch aufgefordert worden; ich sagte, ich wolle nicht.«

»Warum?« fragte Eugen.

»Ich bin nicht so versessen aufs Geld. Sie laden das Schiff mit T. N. T. und Nitroglyzerin. Die Nigger spielen Baseball mit den Kisten. Wenn eine hinfällt, können sie Deine Reste in einem Pappschächtelchen heimschicken.«

»Das gehört alles zu einer guten Tagesarbeit!« sagte Eugen dramatisch.

Das war Gefahr, Krieg. Er war entschlossen, seine Haut für den Sieg der Demokratie zu Markte zu tragen. Er war begeistert.

Als der große Frachtdampfer vom Pier wegglitt, stand er spreizbeinig am Bug. Kühne Adlerblicke schossen aus seinen Augen. Durch seine dünnen Schuhsohlen brannten die eisernen Deckplanken; so daß er Blasen an den Füßen bekam. Das machte ihm gar nichts. Er war Kapitän.

Der Frachter ging seewärts drunten in den Roads vor Anker. Die großen, flachen Ladebarken wurden von Schleppern angebracht. Den ganzen Tag über in der siedenden Hitze wurde die Ladung ans den schaukelnden Barken hinüber auf den Frachter getragen und verstaut. Als es Abend wurde, hatte der Frachter Tiefgang. Er war bis oben vollgepackt mit Granaten, Pulver und Sprengstoff; auf den heißen Deckplanken lagerten 1200 Tonnen Feldartillerie.

Eugen stand mit eiferheißen, abschätzenden Augen bei den Geschützen, schrieb Nummern, Gegenstände, Stücke auf. Er hatte Autorität. Von Zeit zu Zeit schob er sich eine Handvoll Stücktabak in den Mund und kaute ihn mit Genuß. Er spuckte brutzelnde Priemklumpen auf das heiße Deck. Donnerwetter, dachte er, das ist Männerarbeit. Hebt – hoch! Ihr schwarzen Teufel! Da ist ein Krieg an! Er spuckte.

Das Schleppboot kam abends und holte ihn ab. Er saß abseits von den Stevedores und versuchte sich einzureden, daß das Boot für ihn allein gekommen wäre. Die Lichter zwinkerten die lange Küste Virginiens hinauf. Er spuckte ins strudelnde Wasser.

 

Wenn die Züge und Ladekarren aus- und einrollten, hoben die Stevedores die hölzerne Bindungsbrücke hoch, die sich vom Pier auf die Lastdampfer spannte. Schritt für Schritt, rhythmisch in Ruck und Halt, strängten die Arbeitsgruppen an den Tauen und sangen unter der Leitung ihres Führers ihr Lied von Liebe und Arbeit:

»Jelly Roll! – – – He!!! – – – Je-e-elly Roll!«

Hünenkerle von Negern. Jeder von ihnen hielt ein Weib aus. Sie machten 50 bis 60 Dollar die Woche.

 

Ein- oder zweimal noch im Spätsommer fuhr Eugen nach Norfolk. Er versuchte es nicht länger, Laura James zu sehn. Sie schien fern und verloren. Aber er suchte den Seemann Lukas auf.

Er hatte den ganzen Sommer nicht heimgeschrieben. Nun fand er einen Brief in Gants gotischer Kratzschrift, einen kranken, matten Brief aus sorgenvoller Ferne. O verloren! Eliza, in der Plackerei der Geschäfte und des Sommerbetriebs, hatte ein paar praktische Winke dazu geschrieben. Spar Dein Geld. Iß vernünftig. Sei ein guter Bub. Der Bub war abgemagert zu einer Stange ans brauner Haut und großen Knochen. Er hatte während des Sommers über dreißig Pfund verloren. Er war zwei Meter lang und wog 115 Pfund.

Der Seemann erschrak über das abgezehrte Gestell und erging sich großzügig in anmaßenden Vorwürfen:

»Warum ha-ha-hast Du mich nicht wissen lassen, wo Du stecktest? Idiot! Ich hätt Dir doch Geld geschickt. Um Go-go-gottes willen! Komm, gehn wir essen!« Woraufhin sie aßen.

Der Sommer fuhr dahin. Als der September kam, gab Eugen seine Arbeit auf, lebte zwei Tage üppig in Norfolk und trat dann die Heimreise an. In Richmond hatte er umzusteigen. Während der dreistündigen Wartezeit zwischen den Zügen änderte er plötzlich seinen Plan und ging in ein gutes Hotel.

Er war stolz auf seinen Sieg. Er hatte 130 Dollar in der Tasche, schwerverdientes Geld. Er war alleingestanden, hatte Schmerz und Hunger erfahren, hatte überlebt. Der alte Hunger nach Reisen fraß ihm am Herzen. Er war begeistert vom Glanz des heimlichen Lebens. Die Angst vor den Menschen – Mißtrauen und Haß auf das Herdendasein, Entsetzen vor den Stricken, die ihn furchtbar an die Sippe der Erdgebundnen fesselten – beschwor wieder die große Utopie seiner Einsamkeit herauf. Oh, allein sein, wie diesmal, in fremde Städte reisen, fremde Leute kennenlernen und weiterfahren, eh sie einen kannten, ... als seine eigne Legende über die Erde wandern, ... es schien ihm, es gäbe auf der Welt kein besseres Los.

An seine Angehörigen dachte er fast mit Haß. Mein Gott! werde ich nie frei sein? dachte er. Was hab ich getan, um diese Sklaverei zu verdienen? Angenommen, ich wär in China oder in Afrika oder am Südpol, ... ich würde immer Angst haben, Papa stürbe, derweil ich weg bin. Er verrenkte den Hals, als er sich Gants Tod vorstellte. Ei, das würden sie mir schön unter die Nase reiben, wenn er stürbe, ohne daß ich dabei wäre. Da treibst Du Dich in China herum, würden sie sagen, und hier liegt Dein Vater auf dem Totenbett, unnatürlicher Sohn! Verflucht sollen sie sein, alle miteinander! Was habe ich denn dort zu suchen? Kann er vielleicht nicht allein sterben? Allein! O Gott! gibt es keine Freiheit mehr auf Erden?

Jäh entsetzt sah er ein, daß solche Freiheit eine langwierige Welt weit weg lag, daß sie nur durch ein Maß von Ausdauer und Mut erkauft werden könne, wie es wenige Menschen besitzen.

Er blieb ein paar Tage in Richmond, lebte üppig in dem glänzenden Hotel, aß von silbernen Platten im Grillroom, bummelte beglückt durch die breiten Straßen der alten, romantischen Stadt. Drei Tage lang bemühte er sich, eine Kellnerin aus einem Eiskrem und Konfitürenladen zu verführen; er lockte sie schließlich in eine mit Vorhängen abgeschlossene Nische in einem Chop-Suey-Restaurant, und alle seine Bemühungen waren für die Katz, denn die erlesene Mahlzeit, die er mit dem Chinesen eingehend besprochen hatte, erregte ihren Abscheu, weil ein mit Zwiebel bereitetes Gericht dabei war.

Ehe er heimfuhr, schrieb er einen langen Brief an Laura James in Norfolk, einen erbärmlichen, prahlerischen, wahnsinnig krächzenden Brief, der so endete: »Ich war den ganzen Sommer dort und hab Dich nie aufgesucht. Ich sah keinen Grund, warum ich mich weiter mit Dir abgeben sollte. Du warst nicht einmal anständig genug, meine Briefe zu beantworten. Außerdem ist die Welt voller Weiber; ich hab mehr als mein Teil von ihnen gehabt diesen Sommer.«

Er schickte den Brief ab. Als der Deckel über dem Briefkastenschlitz zufiel, verkrampfte sich sein Gesicht. Er lag wach und wand sich vor Scham und Reue über seine schulbübische Torheit. Sie hatte ihn abermals geschlagen.

 


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