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XVI

Der Frühling wurde groß. Gegen Mittag schläferte die Sonne. Warme Windstöße flogen um die Giebel. Junges Gras wellte, Gänseblümchen zwinkerten.

Eugen preßte die hohen Knie gegen die unbequeme Bodenleiste der Sitzbank. In seinen Wachträumen war Heimweh. Zwei Reihen weiter räkelte sich die üppige Bessie Barnes und zeigte ihre langen, seidenbestrumpften Beine. Tu mir das Tor der Freuden auf! Hinter ihr saß ein Mädchen namens Ruth, milchweiße Haut, braunes, in der Mitte gescheiteltes Haar, die Augen dunkel und sanft wie ihr Name. Eugen erwog ein zügelloses Leben mit Bessie und dann, nach vorhergegangner Bekehrung, eine reine Ehe mit Ruth.

Eines Tages, nach der Zwölfuhrpause, wurden die drei Oberklassen von den Lehrern aufgestellt und in die Aula geführt. Die Schüler waren aufgeregt und flüsterten leis miteinander. Zu dieser Zeit waren sie noch nie in die Aula geführt worden. Es kam öfters vor, daß mitten im Unterricht die Schellen schrillten; dann sprangen die Klassen schnell auf, formierten Zweierreihen und marschierten aus dem Schulhaus. Das hieß Feueralarm und machte Spaß. Einmal war der Bau in vier Minuten leer.

Aber das nun war etwas Neues. Sie marschierten in die Aula, nahmen klassenweise Platz. Die Tür zum Rektorzimmer zur Linken – wo die kleinen Buben Prügel bekamen – ging auf. Der Rektor kam heraus, trat schnell aufs Katheder und fing an zu reden.

Dieser Rektor war neu. Der junge Armstrong, der so delikat an der Blume gerochen, Daisy besucht und Eugen einmal beinahe wegen schmutziger Reimereien verhauen hatte, war versetzt. Der neue Rektor war älter, achtunddreißig etwa. Er war groß und stark, fast zwei Meter hoch. Er stammte aus einer kinderreichen Farmerfamilie in Tennessee. Sein Vater war arm, hatte aber seinen Kindern zu einer guten Erziehung verholfen. Das alles wußte Eugen bereits, denn der Rektor sprach jeden Morgen zu der versammelten Schule. Er sagte dann, er hätte es nie so gut gehabt wie die Schüler. Mit einem gewissen Stolz stellte er sich ihnen als Vorbild hin. Mit spaßigem Ernst mahnte er die kleinen Buben, »nicht wie das dumpfe Vieh auf der Trift, sondern wie Helden im Kampf zu stehen«. Das war ein poetisches Zitat, nämlich Longfellow.

Der Rektor hatte schwere, stämmige Schultern und dicke, ungelenke Arme mit wulstigen Bauernmuskeln. Eugen hatte ihn einmal im Schulgarten mit der Hacke arbeiten sehen, damals, als jedes Kind eine Pflanze zum Einsetzen bekommen hatte. Diese Muskeln hatte der Rektor auf der Farm bekommen. Die Jungen sagten, daß es bei ihm sehr harte Hiebe setze. Er hatte einen plumpen, vollfüßigen Schleichgang, der äußerst komisch und ungeschickt wirkte. Aber er konnte einen Jungen »tappen«, ehe der es recht gewahr ward. Otto Krause nannte ihn den »Kriecherchristus«. Eugen war ein wenig schokiert darüber. Aber die Buben waren eine rohe Bande, der Spitzname blieb.

Der Rektor hatte ein wächsern weißes Gesicht, flache Wangen, ähnlich wie die Pentlands, eine bläulich-bleiche Nase, einen dünnlippigen, leichtgeschwungnen Mund. Sein grobes, dichtes, schwarzes Haar ließ er nie zu lang wachsen. Er hatte kurze, breite, kräftige Hände; sie waren sehr trocken und immer mit Kreide beschmiert. Wenn Eugen an ihm vorüberging, fing er stets den Geruch von Kreide und Schulhaus auf. Vor solcher Autorität wurde ihm kalt ums Herz: Da war der Mann, der schlagen konnte, ohne daß man zurückschlagen durfte, das war etwas wie die Blitze schleudernde Hand Gottes. Phantastische Qual: Eugen stellte sich vor, daß er Widerstand leisten und zurückschlagen würde ... Dann sah er sich vorsichtig um, ob der Gewaltige nicht etwa seine verruchten Gedanken erraten habe.

Der Rektor hieß Leonard. Jeden Morgen, nach einem Gebet von zehn Minuten, hielt er eine längere Ansprache an die Schüler. Er hatte eine hohe, laute Stimme. Manchmal vergaß er sich und verfiel in eine komische, bäurisch-rauhe, langgedehnte Sprechweise. Es geschah oft, daß er den Faden verlor und mitten im Satz zu träumen anfing. Dann starrte er mit halboffnem Mund vor sich hin, lachte plötzlich ein leeres, karges, verständnisloses Lachen und kehrte, die Gedanken immer noch unterwegs, zur Sache zurück.

Jeden Morgen, zwanzig Minuten lang, ließ er ein planloses, langweilig-pompöses Gerede auf die Kinder los. Die Lehrer gähnten vorsichtig in die Hände, die Kinder kritzelten etwas vor sich hin oder schrieben einander Zettelchen. Der Rektor sprach von »höherem Leben« und von den »Dingen des Geistes«. Er versicherte, die Schüler seien »Männer und Frauen des morgigen Tags«, »die Hoffnung der Welt«. Woraufhin er Longfellow zitierte.

Ein rechtschaffner, dumpf-ehrlicher Mann, dieser Leonard. Es war ein gut Stück erdhafter Roheit an ihm. Abgesehen von seiner Leidenschaft für die Schulmeisterei ging ihm nichts über eine Farm. Er hatte ein großes, baufälliges Haus vor der Stadt gepachtet; es stand auf einem Hügel in einem Hain alter, stattlicher Eichen. Dort hauste er mit einer Frau und seinen zwei Kindern. Er hielt eine Kuh, denn ohne Kuh konnte er nicht leben. Frühmorgens und abends molk er sie mit eigner Hand.

Leonard war ein harthändiger Herr. Er duldete keinen Widerspruch. Wenn ein Junge frech war, packte er ihn beim Kragen und schleppte den Zappelnden schweratmend ins Rektorzimmer, wo er dem Gefangnen mit scharfen Meerrohrhieben eine strenge Lehre erteilte.

Heute nun hatte er die Schüler versammelt, um einen kleinen Aufsatz schreiben zu lassen. Mit leeren Gesichtern dösten die Kinder vor sich hin, als er ihnen aufs Geratewohl auseinandersetzte, was sie schreiben sollten. Schließlich verkündigte er, daß er einen Preis ausgesetzt habe. Er würde aus eigner Tasche demjenigen, der die beste Arbeit abliefre, fünf Dollar geben. Sofort war das Interesse geweckt.

Der Aufsatz war über ein französisches Bild, das »Das Lied der Lerche« hieß. Auf dem Bild war ein Bauernmädchen dargestellt. Es war barfuß; in der Hand hielt es eine Sichel. Das Morgenlicht lag auf den Feldern. Das Mädchen hob das Gesicht gen Himmel und lauschte den Trillern des Vogels. Die Kinder sollten schreiben, was das Gesicht des Mädchens ausdrücke. Sie sollten schreiben, was ihnen das Bild bedeute. Es war im Lesebuch reproduziert; zudem hing es nun groß und in Buntdruck zur Besichtigung an der Wand. Gelbe Papierbogen wurden verteilt. Die Kinder stierten, kauten an ihren Bleistiften. Es wurde still im Saal, man hörte das feine Gekratz der Schreibenden.

Der warme Wind flog um die Giebel. Draußen, leise sausend, wellte das Gras.

Engen schrieb:

»– Das Mädchen lauscht dem Lied der Lerche. Es weiß, das bedeutet, der Frühling ist da. Das Mädchen ist ungefähr siebzehn oder achtzehn. Seine Leute sind arm; es ist nie woanders gewesen. Im Winter trägt es Holzpantinen. Das Mädchen spitzt den Mund ein wenig, als ob es pfeifen wolle. Aber es pfeift nicht, damit der Vogel nicht merkt, daß es ihn beobachtet. Seine Leute kommen hinter ihm her; sie steigen auf dem. Feldweg den Hügel hinan, darum sehen wir sie nicht. Das Mädchen hat einen Vater, eine Mutter und zwei Brüder. Alle haben sie ihr Lebtag gearbeitet. Das Mädchen ist das jüngste Kind in der Familie. Es hegt den Wunsch, woandershin zu reisen und die Welt zu sehen. Manchmal hört es einen Zug pfeifen, der nach Paris geht. Es ist noch nie Eisenbahn gefahren. Es möchte gern mal nach Paris. Es möchte schöne Kleider haben und reisen. Vielleicht möchte es in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ein neues Leben anfangen. Das Mädchen hat es nicht gut gehabt; seine Angehörigen verstehen es nicht. Wenn sie jetzt sähen, wie es der Lerche lauscht, würden sie es verspotten. Das Mädchen hat nie die Vorteile einer guten Schulbildung genossen. Seine Leute sind zu arm dazu. Wenn ihm aber diese Gelegenheit gegeben wäre, dann würde es sie mehr nützen, als manche andere Kinder tun, denen diese Vorteile geboten werden, denn am Gesicht sieht man, daß das Mädchen klug und verständig ist.«

Das war Anfang Mai. In vierzehn Tagen sollten die Abschlußprüfungen sein. Eugen freute sich sehr darauf. Er hatte das Pauken, das Überfliegen des Lehrstoffs gern; es machte ihm Spaß, seine aufgespeicherten Kenntnisse zu Papier zu bringen; die hochgespannte, nervöse Atmosphäre im Prüfungssaal regte ihn an. Und dann würden die trägen, heißen Ferienmonate kommen. Ach, wenn er dann hier sein könnte, mit dem großen Gipsabdruck der Minerva allein, oder mit Bessie Barnes oder mit Miss –, mit Miss –

»Den Jungen müssen wir kriegen«, sagte Margaret Leonard und reichte ihrem Gatten Eugens Aufsatz. Sie wollten eine Privatschule für Knaben aufmachen; aus diesem Grunde hatte der Rektor den Aufsatz schreiben lassen.

Leonard tat so, als läse er eine halbe Seite, starrte geistesabwesend in die Ewigkeit und kratzte sich am Kinn, wobei er sein Gesicht kreidestaubig machte. Dann, als er ihren Blick auffing, lachte er ein kurzes, blödes Lachen und bemerkte: »Wie? Den kleinen Nichtsnutz? Ach was? Glaubst Du wirklich ...?« Er beugte sich vornüber, mit eingezognem Atem lachend und klatschte sich auf die Knie, wo er Kreidespuren zurückließ. Er brachte einen fetten Schmalzlaut hervor und sagte schließlich: »Barmherziger Heiland!«

.»Hier, vorwärts, sieh Dir das an und mach keine Flausen!« sagte sie und lächelte zärtlich amüsiert über ihn. »Faß Dich und geh und besuch die Eltern dieses Jungen!« Sie liebte ihren Gatten sehr; er liebte sie.

Ein paar Tage später versammelte Leonard die Oberklassen abermals in der Aula. Er hielt eine wirre Rede, in der er den Schülern kundtat, daß einer unter ihnen den Preis gewonnen hätte; den Namen des Preisträgers verschwieg er; schließlich las er nach längeren, selbstgenießerischen Umschweifen Eugens Aufsatz vor, nannte den Namen und rief ihn vor.

Kreidegesicht nahm Kreidehand. Das Herz des Jungen raste an die Rippen. Er schmeckte Ruhm. Die stolzen Homer erschallten.

 

Geduldig belagerte Leonard Eliza und Gant. Gant wich aus, war und blieb unverbindlich, wies ihn schließlich an Eliza. »Sie müssen mit der Mutter reden!« Privatim äußerte er sich sehr aufgebracht über den Antrag und hielt laute Reden über die Verdienste der Volksschule als einer Brutstatt rechtschaffnen Staatsbürgersinns. Die Familie rümpfte die Nase: »Privatschule?! Mister Vanderbilt, was?! Dem Bürschlein große Rosinen in den Kopf setzen, so daß sein Lebtag nichts aus ihm wird!«

Woraufhin Eliza nachdenklich wurde. Eine gediegne Strähne Snobismus war in ihr. Mister Vanderbilt?! Ei warum nicht?! War sie etwa etwas Geringeres? Keineswegs! Sie würde es schon beweisen.

»Haben Sie schon Kunden zusammengetrommelt? Wessen Söhne werden in Ihre Schule kommen?« fragte sie.

Leonard nannte ein paar modische und reiche Leute, die ihm ihre Söhne schicken würden: – Dr. Kitchener, der Ohren-, Rachen-, Nasen- und Augensoezialist; Mister Arthur; der Syndikus einer Großfirma; Bischof Raper von der episkopalischen Diözese.

Eliza wurde noch nachdenklicher: Sie dachte an Pett, Will Pentlands Frau. Hatte die es vielleicht nötig, so dickzutun?

»Wie hoch ist das Schulgeld?« fragte sie.

Hundert Dollar im Jahr, erklärte er. Sie schürzte die Lippe statt einer Antwort. Sie lächelte neckisch und sah Eugen an.

»Hm, das ist ein ganzer Haufen Geld«, sagte sie schließlich. »Wissen Sie«, – ihr Lächeln wurde wehleidig – »wie die armen Nigger so sagen, wir sind ein poweres Volk.«

Eugen zuckte zusammen.

»Na, was ist denn, Junge?« sagte Eliza scherzhaft zu ihm, »glaubst Du, daß Du das Geld wert bist?«

Mister Leonard legte seine weiße, trockne Hand gönnerisch auf Eugens Schulter und fuhr ihm, überall Kreidespuren zurücklassend, den Rücken hinunter. Dann packte er den Jungen fest bei den schmalen Handgelenken.

»Dieser Bursche ist es wert«, versicherte er und schüttelte ihn langsam hin und her.

Eugen lächelte peinlich verlegen. Eliza schürzte wieder die Lippe. Sie spürte eine starke, seelische Verwandtschaft mit Leonard. Sie beide gehörten zu der Sorte, die sich zu allem Zeit läßt. Sie lächelte schlau, rieb sich die gerötete Nase.

»Ja, sagen Sie mal«, legte sie los, »ich war mal selber Schullehrerin, das wissen Sie wohl gar nicht, was? Aber dafür bekam ich längst nicht so viel Geld, wie Sie da verlangen. Ich war herzlich froh, wenn ich 'nen Freitisch und zwanzig Dollar im Monat bekam.«

»Ei was? Wirklich. Mistress Gant?« entgegnete Mister Leonard höchst interessiert. »Na also!« Er lachte leer und schüttelte Eugen heftiger, wobei er ihn so hart anpackte, daß er ihm fast die Adern abschnürte.

Eliza begann wieder:

»Jaja, ich erinner' mich noch ganz genau ... da war mein Vater, es war lange vor Deiner Geburt ...« – bemerkte sie zu Eugen, – »denn Deinen Papa hatte ich damals noch mit keinem Auge gesehn, und wie die Kerle so sagen. Du warst damals weiter nichts, wie ein schmutziges Spüllümpchen, das im Himmel zum Trocknen aufgehängt ist ... jaja, damals hätte ich jedem ins Gesicht gelacht, der mir was vom Heiraten vorgeschwätzt hätte. Also, was ich sagen wollte ...« – hier schüttelte sie traurig den Kopf und verzog den Mund vor Wehmut – »wir waren damals sehr, sehr arm, kann ich nur sagen, ich hab erst neulich wieder dran gedacht, wie oft wir damals nicht wußten, wo die nächste Mahlzeit herkommen sollte. Also wie gesagt ...« – sie wandte sich immer noch an Eugen – »Dein Großvater kam eines Abends heim und fragte mich: ›Also rat mal, wen ich heut getroffen habe?‹ Ich erinnere mich so genau, als stünde er leibhaftig vor mir im Zimmer. Na also, mir schwante so was, wissen Sie ...« – hier wandte sie sich an Leonard mit einem fragenwollenden Lächeln – »... so Ahnungen sind schon merkwürdig, wenn man später darüber nachdenkt. Also, ich hatte gerade meiner Tante Jane beim Tischdecken geholfen; sie wohnte in Yancey County und war damals bei uns zu Besuch ... es war gerade ein Jahr, daß ich fast an doppelseitiger Lungenentzündung gestorben wäre, und mein Vater hatte mir einen großen Sack Äpfel mit heimgebracht. Da rief ich aus: ›Ei Papa! Da hast Du mir ja Äpfel mitgebracht.‹ er aber sah so sonderbarlich aus und sagte einfach: ›Ich habe gute Nachricht für Dich, Eliza. Und nun rate mal, wen ich heut getroffen habe!‹ ›Aber ich habe nicht die geringste Idee, wen!‹ antwortete ich, und da sagte er: ›Der alte Professor Trueman war es. Er ist in der Stadt auf mich zugekommen und sagte: ›Hör mal, ich hab 'ne Stelle für die Eliza. Wenn sie will, kann sie den Winter über in Beaverdam Schule halten.‹ ›Ach was‹, sagte mein Vater, ›sie hat ja nie im Leben einen Tag Schule gehalten‹, aber der alte Professor Trueman lachte einfach laut heraus und sagte: ›I bewahre, das macht nichts, die Eliza kann alles, was sie will ...‹ jaja ... so ist es denn zustand gekommen ...«

Mit höchst besorgter Miene hielt sie inne. Ihre Gedanken wanderten auf den überwucherten Wegen der vergangnen Jahre.

»Also, hallo, mein Junge«, sagte Mister Leonard unsicher, gab Eugen, einen Stoß und lachte selbstgenüßlich vor sich hin.

Eliza schürzte langsam die Lippe.

»Schön!« entschied sie, »ich werde Ihnen den Jungen auf ein Jahr schicken.«

Dies war ihre Art, Geschäfte zu erledigen. Die Flut stieg in Sargasso.

So: auf den haarfeinen Spuren von Millionen kleiner Impulse wirkte das Schicksal auf Eugens Leben ein.

 

Mister Leonard hatte ein großes, altmodisches, leicht baufälliges Haus vor der Stadt gepachtet. Es war vor dem Bürgerkrieg gebaut und stand breitaufgesetzt in einem Hain großer Eichen auf einem Hügel. Die Fronten gingen nach Westen und Süden, gegen Biltburn hin und gegen das Südende der Stadt mit dem Bahnhofsviertel und den Mietskasernen, in denen Neger wohnten.

Eines Tages, früh im September, nahm er Eugen mit hinaus. Sie sprachen gewichtig von Politik, als sie die Hatton Avenue herunterschritten. Sie gingen durch die Stadt und die gewundne Straße hügelan zum Hause hinauf. Wehmütige Vorherbstmusik rauschte in den alten Bäumen, als sie in das große Grundstück eintraten.

In der geräumigen Wohndiele sah Eugen zum erstenmal Rektor Leonards Frau. Sie hatte eine Schürze vorgebunden und trug einen Besen in der Hand. Eugens erster Eindruck war überraschend. Margaret Leonard war ein ungemein zartes, schier zerbrechliches Wesen.

Sie war damals vierunddreißig. Sie hatte zwei Kinder, einen sechsjährigen Sohn und eine zweijährige Tochter. Als sie vor ihm stand, die lange, feine Hand um den Besenstiel gelegt, bemerkte Eugen, daß die Spitze ihres rechten Zeigefingers flach war, so, als sei sie mit einem Hammer unheilbar plattgeschlagen worden. Jahre später erst erfuhr er, daß Tuberkulöse zuweilen solche Finger haben.

Sie war mittelgroß, etwa 1,6o Meter. Als Eugens Verlegenheit abflaute, merkte er, daß sie höchstens siebzig oder achtzig Pfund wiegen könne. Von den Kindern hatte er reden hören; nun fielen sie ihm ein. Zwangsläufig, mit kaltem Entsetzen dachte er an Leonards schweren, weißen Muskelwulst. Die Vorstellung der geschlechtlichen Beziehungen zwischen den beiden drängte sich ihm jählings auf: furchtsam und ungläubig wehrte er den Gedanken ab.

Sie trug ein Kleid aus steifem, grauem Gingham, das keineswegs lose oder füllig um ihre abgezehrte Gestalt fiel, sondern ihren Körper so verhüllte, als wäre er ein drapierter Stock.

Während Eugen noch in diesen qualvollen Eindrücken befangen war, hörte er ihre Stimme. Beschämt blickte er auf und sah ihr ins Gesicht. Es war das stillste und gleichermaßen leidenschaftlichste Gesicht, das er je gesehen hatte. Unter der aschfahlen, dünnen Haut zeichneten sich die zarten Linien der Gesichts- und Schädelknochen klar ab. Die merkwürdige Gespanntheit, die die Gesichter Sterbender haben, war gerade überwunden. Dieser Mensch hatte soweit zurückgefunden, daß das Leben ihm die Waagschale von Krankheit und Genesung im Gleichgewicht hielt. Alles, was sie tat, müßte diese Frau erwägen und bemessen.

Eine sehr gerade Nase und ein langes, feingeschnittenes Kinn gaben dem schmalen Gesicht einen Anflug weltkluger Entschiedenheit. Um winzige Grübchen in der schlaffen Wangenhaut und um die Mundwinkel zuckten von Augenblick zu Augenblick ein paar zerrißne Nervenbündel, was aber die aus einer tiefen, inneren Stille gespeiste Schönheit des Ausdrucks nicht störte. Dieses Gesicht spiegelte einen dauernden nervösen Kampf wider und darüber hinaus den Sieg einer steten, stillen Energie über alle Unruhe. Eugen hatte immer das Gefühl, als hielte Margaret Leonard eine Hand aufs Herz gekrampft, um all die widerspenstig gespannten Drähte ihres Wesens gewaltsam zusammenzufassen. Er spürte, wenn sie einmal die Hand wegnähme, würde sie zerbrechen, würde die große Welle ihrer Tapferkeit verebben. Buchstäblich, körperlich empfand er das so. Sie erschien ihm wie ein ruhmbedeckter, sagenhaft ruhiger Feldherr, der, tödlich verwundet, die zerrißne Schlagader mit einem Griff abpressend, seinen Tod um eine Stunde hinhält und die Schlacht weiter lenkt.

Ihr Haar war grob, ziemlich dicht, mattbraun, leicht angegraut; sie trug es in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Knoten zusammengeknüpft. Alles an ihr war äußerst reinlich, wie ein makellos gescheuerter Küchentisch. Sie nahm seine Hand, und er spürte die nervöse Lebenskraft ihrer Finger und bemerkte, wie sauber und gebürstet diese von Arbeit etwas abgenutzten Hände waren. Wenn er jetzt ihrer Abgezehrtheit überhaupt noch gewahr war, erschien sie ihm als Purifikation. Er fühlte sich nicht mit Krankheit in Verbindung gebracht, sondern mit der größten Gesundheit, die er je gekannt hatte. Ihr Wesen durchdrang ihn wie hohe Musik. Sein Herz hob sich.

»Das ist der Mister Eugen Gant«, stellte Rektor Leonard vor und streichelte ihn mit der Hand über den Rücken.

»Schön!« sagte sie, mit einer leisen Stimme, in der es von fernen Drähten summte. »Es freut mich, Dich kennenzulernen.« In ihrer Stimme vernahm er das ruhige Sichwundern, wie er es bei Leuten, die etwas Übernatürliches, etwas Merkwürdiges aus dem Jenseits berichteten, gehört hatte: eine Note des schlichten Hinnehmens. Und plötzlich wußte er, daß dieser Frau alles Leben ewig fremd scheinen müsse, daß sie unmittelbar in die Schönheit, das Mysterium und die Tragödie der Menschenherzen hineinsah, und er spürte, daß er ihr schön erschien.

Ihr Antlitz verdunkelte sich von der seltsamen, leidenschaftlichen Lebenskraft, die keine Zeichen hat und körperlos wie das Ursein in ihr war. Das Braun ihrer Augen wurde schwarz, so, als sei ein Vogel durch ihren Blick geflogen und hätte den Schatten seiner Flügel darin zurückgelassen. Sie sah Eugens kleines, müdes, traumverlornes Gesicht, sah die brennenden Augen, sah das Gestell aus Haut und Knochen, die geraden, mageren Schenkel und die etwas einwärts gedrehten Füße, sah die Schmutzspuren auf den Knien seiner Strümpfe, die dünnen Arme, die ungelenk aus den Ärmeln der billigen, schlechtsitzenden Jacke hervorkamen, sah die schmalen, armseligen, abfallenden Schultern, sah das dichte Wirrhaar, – sie sah alles, und sie lachte nicht.

Er hob ihr sein Gesicht entgegen wie ein Gefangner, der in die Freiheit blickt, wie ein lang im Finstern eingekerkerter Mensch, der sich nun im großen Teich des Tages badet, wie ein Blinder, der plötzlich Kern und Wesen unwandelbarer Helle in die Augen empfängt. Sein ganzer Körper trank das Licht ihres Wesens ein, wie ein Ausgestoßener in der Wüste den Regen trinkt. Er schloß die Augen und ließ das Licht über sich hingehen. Und als er wieder aufblickte, sah er, daß ihre Augen feucht glänzten.

Dann fing sie an zu lachen. »Ei schau!« sagte sie zu ihrem Gatten, »er ist fast so groß wie Du! Stell Dich mal hierher, Junge, ich muß Euch mal aneinander messen.« Mit gewandten Händen stellte sie beide Rücken an Rücken auf. Leonard war sechs oder acht Zentimeter größer als Eugen. Er lachte weinerlich.

»Was? Der Taugenichts!« rief er. »Der nichtige Wicht!«

»Wie alt bist Du, Eugen?« fragte sie.

»Im nächsten Monat werde ich zwölf.«

»So? Das soll mal einer verstehn!« sagte sie verwundert. Dann fuhr sie fort: »Ich will Dir eines sagen, wir müssen sehen, daß Du etwas Fleisch an die Knochen kriegst. So darfst Du nicht herumlaufen, das gefällt mir nicht.«

Sie schüttelte den Kopf.

Diese Bemerkung war ihm unbehaglich. Er war ein wenig gekränkt. Es machte ihn stets schlau und verlegen, wenn jemand sagte, er sei »delikat«; es verletzte seinen Stolz.

Sie nahm ihn mit in den großen Raum zur Linken, der als Wohnzimmer und Bibliothek eingerichtet war. Sie beobachtete, wie seine Mienen sich aufhellten, als er die fünfzehnhundert oder zweitausend Bücher, die dort auf verschiedenen Gestellen standen, erblickte. Linkisch nahm er in einem Korbsessel am Tisch Platz und wartete, bis sie zurückkam. Sie brachte ihm Dickmilch (die er noch nie gegessen hatte) in einem Glas und einen Teller belegte Brote dazu.

Als er gegessen hatte, zog sie einen Stuhl neben seinen und setzte sich. Sie hatte Leonard weggeschickt, er solle irgend etwas in der Scheuer erledigen. Man hörte, wie er draußen befehlshaberisch sein Vieh rief.

»Sag mir mal, Junge, was Du gelesen hast«, fragte sie.

Er gab einen geschickten Überblick über die Wüsteneien von Gedrucktem, die er durchwandert hatte. Er verweilte absichtlich bei jenen Lieblingsbüchern, von denen er spürte, daß sie ihren Beifall hätten. Und da er alles, Gutes und Schlechtes, aus der Stadtbibliothek verschlungen hatte, konnte er mit seiner Belesenheit Eindruck auf sie machen. Manchmal hielt sie ihn an und fragte etwas über ein Buch; dann erzählte er den Inhalt, großzügig, mit ein paar grellen Details, so daß sie völlig zufrieden war. Sie war aufgeregt, sie brannte darauf, diesen Heißhunger nach Kenntnis, Erfahrung und Weisheit zu stillen. Und Eugen spürte plötzlich die Lust des Gehorsams. Das ungestüme, dumpfe Tappen, das blinde Jagen, die verzweifelte, rastlose Gier, das würde nun aufhören. Er würde geleitet, angewiesen, geführt werden. Der Seeweg nach Indien durch die schmalen Meeresstraßen, den er nie gefunden hatte, würde nun auf der Karte für ihn vorgezeichnet werden. Ehe er wegging, gab sie ihm einen dicken Band von neunhundert Seiten, illustriert, mit lebhaften Darstellungen von Liebesbegegnungen und Kampfszenen, aus dem Zeitalter, das er am meisten liebte.

Um Mitternacht noch war er tief versunken in den Schicksalen des Mannes, der den Bären erschlug und die Windmühle niederbrannte, der die Geißel der Banditen war ... tief versunken in der Landstraßen- und Tavernenwelt des Mittelalters ... begeistert von dem tapferen, schönen Gerard, dem Samen des Genius, dem Vater des Erasmus. Eugen hielt Charles Reades »The Cloister and the Hearth« für die schönste Geschichte, die er je gelesen hatte.

Die Altamont Fitting School war das größte Abenteuer im Leben der Leonards. All den verspäteten Erfolg, von dem er als junger Mann geträumt hatte, gedachte Leonard nun einzuheimsen. Für ihn bedeutete die Schule Unabhängigkeit, Herrschaft, Macht und – so hoffte er – auch Wohlstand. Für Margaret war das Leben Selbstzweck, war die Lust am Menschenbilden der Arbeit hoher Lohn. Lehren war ihre lyrische Musik, ihr Leben, die Welt, in der sie Gutes und Schönes stiften und aufbauen konnte. Lehren war der Herr, der dem Geist Leben gibt, während er den Leib zerbricht.

Die kleinen Buschmotten der Menschenvergötzung taumelten ins Vulkanfeuer des Bewußtseins und verbrannten. Eugens Götter und Helden wurden alle von der mitleidslosen Sense der Jahre dahingerafft. Welche Hoffnung hatte sich denn im Leben erfüllt? Was hatte dem grausamen Wachstum widerstanden? Warum war das Gold so trüb geworden? Sein ganzes Leben lang – so schien es – fing Eugen mit leidenschaftlichen Beziehungen zu Menschen an und endete vor Bildern. Das Leben, an das er sich zu lehnen gedachte, entwich, und er hielt ein Standbild umarmt. Aber siegreich und wirklich inmitten des von Schatten heimgesuchten Herzens blieb jene Frau lebendig, die seine blinden Augen zuerst mit dem Licht berührt hatte, die seiner verhängten, unbehausten Seele ein Heim gab. Sie blieb.

O Tod-im-Leben, der uns die Menschen in Steine verwandelt! O Wandel, der gleichmachend über unsre Götter dahingeht! Wenn einer von ihnen noch unter der Asche der verzehrenden Jahre lebt, soll nicht der Staub geweckt werden, soll nicht der tote Glaube wieder entbrennen, sollen wir nicht Gott wieder schauen wie einst auf den Bergen des Morgens? Wer geht mit uns auf die Berge?


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