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XXXII

Es war sein zweites Studienjahr. Als er nach Pulpit Hill zurückkehrte, hatte sich dort alles nüchtern und säuberlich auf Krieg eingestellt. Die Universität war still und traurig; es waren weniger Studenten da, und sie waren jünger, denn die älteren waren fast alle eingezogen. Die Studenten lebten in einem Zustand wilder, jedoch unterdrückter Ruhlosigkeit. Sie scherten sich nichts um Kurse, Karriere, Erfolg. Das triumphante Nun des Kriegs hatte sie erschüttert. Was für einen Sinn hatte das Morgen? Was für einen Sinn hatte es, auf das Morgen zu arbeiten? Vom erschütternden Radau der großen Kanonen waren alle feingesponnenen Lebenspläne zerrissen; das Ende aller Arbeit, die einem weitgesteckten Ziele galt, wurde mit wilder, mit heimlicher Freude begrüßt. Das Erziehungs- und Bildungsgeschäft wurde nur halbherzig betrieben, mit einem zerstreuten, geistesabwesenden Blick. Sie saßen in den Klassen, die Augen ungenau auf ein Buch gerichtet, die Ohren aber scharf gespannt auf irgendeinen Alarm, der von draußen kommen könnte.

 

Eugen fing das Jahr sehr ernst an, als Zimmergenosse eines jungen Mannes, der Primus in der höheren Schule in Altamont gewesen war. Er hieß Bob Sterling. Er war neunzehn Jahre alt, der Sohn einer Witwe. Er war mittelgroß, immer nett und sauber angezogen; es war nichts Auffälliges an ihm. Aus diesem Grunde konnte er sichs leisten, gutmütig und ein wenig spießerhaft über alles Auffällige zu lachen. Er hatte einen tadellosen Verstand: hell, wach, beflissen und ohne eine Spur von Originellem oder Erfinderischem. Für alles gab es bei ihm eine festgesetzte Zeit. Ein Teil seiner Stunden war der Vorbereitung des Lehrstoffs gewidmet: er ging jede Aufgabe dreimal durch und murmelte sie schnell vor sich hin. Pünktlich jeden Montag schickte er seine Wäsche zur Waschanstalt. Wenn er in lustige Gesellschaft geriet, lachte er herzhaft mit den anderen und war vergnügt; stets aber war er zeitbedacht. Er sah auf die Uhr, erklärte: »Na, das ist zwar alles recht schön, aber die Arbeit bleibt dabei ungetan«, und ging.

Jedermann sagte, daß Bob Sterling eine glänzende Zukunft habe. Gutmütig-ernst ermahnte er Eugen wegen seiner Gewohnheiten. Er solle nicht seine Kleider überall herumliegen lassen. Er solle seine schmutzigen Hemden und Untersachen rechtzeitig zur Wäscherei schicken. Er solle sich zu festgesetzten Stunden auf seine Kurse vorbereiten. Er solle mit einer regelmäßigen Zeiteinteilung leben.

Sie wohnten in einem Privatquartier am Rande des Kampus, einem großen, hellen Zimmer, dessen Wände Bob Sterling mit Universitätswimpeln drapiert hatte.

Bob Sterling war herzleidend. Wenn er die Treppe gestiegen war, dann kam er nach Luft schnappend oben an. Eugen machte ihm die Tür auf. Bob Sterlings angenehmes, mit fahlen Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht war dann totenbleich. Seine Lippen bebten und waren blau.

»Was ist los, Bob? Ist Dir schwach?« fragte Eugen.

»Komm mal her!« sagte Bob Sterling grinsend. »Leg mal Dein Ohr auf meine Brust!« Er nahm Eugens Kopf und drückte ihn an sein Herz. Die große Pumpe ging langsam und unregelmäßig, mit einem zischenden Geräusch, als ob Luft entwiche.

»Guter Gott!« rief Eugen aus.

»Gelt, da hörst Du's!« sagte Bob Sterling und fing an zu lachen. Er ging ins Zimmer und rieb sich die trocknen Hände schnell aneinander.

Er wurde krank und konnte nicht ins Kolleg gehn. Er wurde ins Universitätskrankenhaus überführt, wo er ein paar Wochen lang lag, allem Anschein nach nicht sehr krank, aber ständig mit blauen Lippen, langsamem Puls und Untertemperatur. Dagegen ließ sich nichts tun.

Seine Mutter kam und nahm ihn mit nach Hause. Eugen schrieb ihm regelmäßig, zweimal in der Woche und erhielt als Antwort kurze, fröhliche Botschaften. Dann eines Tages starb Bob Sterling.

Zwei Wochen später erschien die Witwe, um die Sachen ihres Jungen zu holen. Stillschweigend packte sie die Kleider ein, die nun niemand mehr tragen würde. Sie war eine stämmige Frau von vierzig Jahren. Eugen nahm die Universitätswimpel von den Wänden und faltete sie zusammen. Sie legte sie oben in den Handkoffer und schickte sich an wegzugehn.

»Da ist noch einer«, sagte Eugen.

Sie brach plötzlich in Tränen aus und ergriff seine Hand.

»Er war so tapfer«, sagte sie. »Diese verlornen Tage – ach, ich meinte ja nicht – Ihre Briefe haben ihn so glücklich gemacht.«

Nun ist sie allein, dachte Eugen.

 

Ich kann da nicht wohnen bleiben, dachte er. Wir haben zusammen gehaust. Hier. Überall hier ist er gewesen. Dagewesen. Ich würde ihn immer sehn, wie er oben auf dem Treppenabsatz stand und nach Luft schnappte mit blauen Lippen. Oder ihn seine Aufgaben murmeln hören. Und nachts wäre das andre Bett leer. Ich werde fortan allein hausen.

 

Aber er zog für den Rest der Studienzeit in eines der offiziellen Dormitorien. Er hatte zwei Zimmergenossen. Der eine war ein junger Altamonter, L. K. Duncan, nicht bei seinem Vornamen Lawrence, sondern stets nach seinen Initialen »Elk« genannt. Der andre, Harold Gay, war der Sohn eines episkopalianischen Pastors. Beide waren älter als Eugen: Elk Duncan war vierundzwanzig, Harold Gay zweiundzwanzig. Sie hatten zwei kleine Zimmer zusammen, deren eines sie als »Study« benutzten. Es ist fraglich, ob je drei so ausgefallne Burschen zusammen in zwei so kleinen Buden gehaust haben.

Elk Duncan war der Sohn eines Altamonter Staatsanwalts, eines kleinen Politikers aus der demokratischen Partei, der in den Affären der County eine Rolle spielte. Elk Duncan war zwei Meter lang und unglaublich dünn und schmal. Er hatte bereits eine leichte Glatze über der hohen, vorgebauten Stirn. Er hatte große, blasse Stielaugen. Von der Augenhöhe abwärts bis zum Kinn war sein Gesicht zurückfliehend. Seine Schultern waren ein wenig rund und sehr schmal. Sein Körper hatte die Symmetrie eines Bleistifts. Er zog sich stets sehr stutzerhaft an, in knappsitzenden Anzügen aus blauem Flanell, mit hohen Stehkragen, dicken Seidenkrawatten und bunten seidnen Taschentüchern. Er war Jurist und ging auf die Law School, verbrachte jedoch einen guten Teil seiner Zeit damit, dem Studium aus dem Wege zu gehen.

Jüngere Studenten, besonders die Freshmen, versammelten sich nach den Mahlzeiten um ihn und bewunderten ihn mit halboffnen Mündern. Sie lebten von seinen Worten wie von Manna und verlangten hungrig nach mehr, je wilder seine Fabeln wurden. Elk Duncans Lebenseinstellung glich sehr der eines Ausrufers vor einer Schaubude auf dem Jahrmarkt; sie war schwatzhaft, gönnerisch und zynisch.

Harold Gay war eine gute Seele von einem Kind. Er trug eine Brille; sonst war nichts helles in seinem trübgrauen, doofen Gesicht. Er war gutmütig und häßlich, ohne die geringste Spur von irgendeiner Distinktion. Vier Fünftel aller Daseinsphänomene erschienen ihm von jeher so rätselhaft, daß er den Versuch, sie zu begreifen, längst aufgegeben hatte. Er verbarg sein scheues und bestürztes Wesen unter einem wiehernden Lachen, das immer zur Unzeit und stets am falschen Ort erschallte, und einem absurden Grinsen, das eine geradezu teuflische Eingeweihtheit vortäuschen sollte. Seine Freundschaft mit Elk Duncan war einer der erhabnen Gipfel seines Daseins. Er suhlte sich in dem purpurblauen Glanz, in dem jener Tüchtige badete, rauchte Zigaretten mit den genäschigen Seitenblicken eines alten Lüstlings und fluchte laut und unbehaglich wie ein davongejagter Pastor.

»Haroldchen, Haroldchen!« mahnte Elk Duncan vorwurfsvoll, »wenn Du es so weiter treibst, mein Junge, dann wirst Du noch Gummi kauen und das Geld für die Kollekte im Kindergottesdienst fürs Kino vergeuden. Nimm doch Rücksicht auf uns! Der junge Eugen hier ist noch rein wie ein Stallbursch, und ich habe stets in den besten Kreisen der Schankhalter und mit den höchst damenhaften Straßengängerinnen verkehrt. Weißt Du, was Hochwürden Dein Vater tun würde, wenn er Dich so fluchen hörte? Er würde Dir das Zigarettengeld kürzen, mein Sohn!«

»Verdammt nochmal! Elk!« sagte Harold rauhpautzig und grinste. »Zur Hölle!!« brüllte er, so laut er konnte. Und aus den Fenstern des ganzen Dormitoriums erschallten lautes Geheul, beifälliges Lachen, ironische Aufmunterungen, wütende Rufe »Zur Hölle!« und »Hört auf damit!«, was Harold Gay sehr wohlgefiel.

 

Die verstreute Familie versammelte sich zu Weihnachten. Eine Ahnung von bevorstehenden Trennungen, von Verlust und Tod brachte sie zusammen. Der Chirurg in Baltimore hatte keine Hoffnungen gemacht. Was er gesagt hatte, klang wie eine Todesbürgschaft.

»Wie lang hat er denn wohl noch zu leben?« hatte Helene gefragt.

Der Arzt zuckte die Achseln.

»Ich habe nicht die geringste Idee. Ihr Vater ist ein Wunder. Wissen Sie, daß das ganze Hospital ihn bestaunt? Sämtliche Chirurgen im Bau haben sich den Fall angesehn. Wie lange er noch mitmacht, kann niemand sagen. Es geht über meine Erfahrung. Als Ihr Vater hier nach der Operation wegging, dachte ich, ihn nie wiederzusehen. Ich zweifelte daran, ob er den Winter überstehen könne. Und jetzt ist er wieder da. Und es kann sein, daß er noch öfters zurückkommen wird.«

»Glauben Sie, daß die Radiumbehandlung was nützt? Können Sie ihm überhaupt helfen?«

»Ich kann ihm Erleichterung verschaffen. Ich kann sogar das Fortwuchern der Krankheit eine Zeitlang aufhalten. Darüber hinaus vermag ich nichts. Aber seine Lebenskraft ist ungeheuer und völlig unberechenbar. Er ist wie ein hinfälliges Torgitter, das gerade noch an einer Angel hängt ... aber immerhin: noch hängt.«

 

So hatte sie ihn heimgebracht. Der Schatten seines Todes hing über ihnen wie ein Damoklesschwert. Auf Panthertatzen schlich die Angst umher. Helene lebte in einem Dauerzustand unterdrückter Hysterie: täglich einmal kam es zu Ausbrüchen, entweder in Elizas Küche in Dixieland oder in ihrem eignen Heim. Hugo Barton hatte ein Haus gekauft; sie hatten sich eingerichtet.

»Du wirst keinen Frieden haben, solang Du mit Deiner Familie zusammen steckst. Sonst fehlt Dir nichts«, erklärte er.

 

Sie war andauernd krank, belagerte die Ärzte, holte sich Rat, ließ sich behandeln. Manchmal ging sie auf ein paar Tage ins Krankenhaus. Ihr Leiden manifestierte sich auf vielerlei Weise: manchmal als rasende Ohrenschmerzen, manchmal als völlige nervöse Erschöpfung, manchmal in Zusammenbrüchen, in denen sie abwechselnd in Lach- und Weinkrämpfe verfiel. Ihr Zustand war zu einem Teil von Gants Siechtum beherrscht, zum andern entsprang er aus ihrer morbiden Verzweiflung darüber, daß sie keine Kinder bekam. Zeitweise ergab sie sich dem heimlichen Trunk: sie nippte, um sich aufzuplustern, betrank sich aber nie. Sie trank übles Zeug. Es kam ihr lediglich auf die alkoholische Wirkung an, und so genügten ihr Flüssigkeiten, wie sie unter Titeln wie »Medikament«, »Tonikum«, »Extrakt«, »Essenz« und so weiter beim Apotheker zu haben sind. Fast bewußt hatte sie ihren Geschmack für anständige, trinkbare Stoffe ruiniert. Die gefälligen Schildchen auf den Arzneiflaschen halfen ihr, unbezichtigt dem wüsten, häßlichen Hunger ihres Bluts zu frönen. Natürlich gestand sie das nicht ein. Leben fand seinen Ausdruck in einer Reihe von Täuschungen, die sie um die Symbole ihrer Gehässigkeit, ihrer Zuneigung und ihrer Sorge aufrichtete. Sie brandmarkte stets alle möglichen Ursachen, bekannte niemals den wahren Grund.

Wenn sie nicht tatsächlich bettlägerig war, hielt sie sich nie länger als ein paar Stunden von ihrem Vater fern. Sein Tod warf seinen Schatten voraus, sie alle schauderten vor Entsetzen. Das Drohende, Rätselhafte, Unverständliche, das über ihnen hing, nahm ihnen den Mut und die Haltung. Sie überantworteten sich jenem gemeinen und entwürdigenden Egoismus, der trübselig und stumpfsinnig über den Tod andrer hinwegsieht, aber im Tod am eignen Fleisch und Blut einen Widerspruch gegen alle Naturgesetze zu erkennen glaubt. Es war schwer für sie, sich Gants Tod vorzustellen; viel eher hätten sie sich Gottes Tod vorstellen können, denn Gant war eine faßbarere Wirklichkeit als Gott, er erschien unsterblicher als Gott, er war Gott.

Das Zwielicht des Grauens, in das ihre Leben geglitten waren, entsetzte Eugen und machte ihn rasend. Wenn er Post von zu Haus gelesen hatte, tobte er und schlug mit den Fäusten an die harten Gipswände des Dormitoriums, bis ihm die Knöchel bluteten. Sie haben ihm den Mut genommen, dachte er. Sie haben einen winselnden Feigling aus ihm gemacht. Wenn ich mal sterbe, dann wird so keine verdammte Familie um mich rumlungern und mich beschnüffeln und mir die Angst mit dem Atem ins Gesicht blasen! Schweinerei das! Dieses Herumhocken und Glotzen, bis einem Menschen die Luft ausgeht. Ihm mit herzhaftem Lächeln vorerzählen, wie gut er aussähe, und hinter seinem Rücken die besorgte Fratze schneiden! Widerlich! widerlich! widerlich! so ein Tod! Können wir denn nie allein sein, allein hausen, allein leben, allein denken? Ha! Ich werde es schaffen! Allein, ganz allein, weit weg von allem, allein im herunterrauschenden Regen.

Er stürzte rüber ins Arbeitszimmer. Elk Duncan saß über einem juristischen Werk, ein bunter Vogel, den das Gesetz, eine große Schlange, in Hypnose hielt.

»Sollen wir wie Ratten verrecken?« fragte Eugen. »In Erdlöchern ersticken, was?«

»Verdammt!« sagte Elk Duncan und verschanzte sich hinter dem dicken Kalbslederband. »Ja, so ists recht! Bleib ruhig! Du bist Napoleon Bonaparte, und ich bin Dein alter Spießgeselle Oliver Cromwell! Harold! Zu Hilfe! Der Eugen hat seinen Wärter erschlagen und ist aus der Irrenanstalt ausgebrochen!«

»He!« gellte Harold Gay und schleuderte ein dickes Buch zu Boden. »Eugen! Was weißt Du in punkto Geschichte? Wer hat die Magna Charta unterzeichnet?«

»Sie wurde nicht unterzeichnet«, erklärte Eugen. »Der König konnte nicht schreiben, so nahmen sie halt ein Mimeogramm auf.«

»Stimmt!« brüllte Harold Gay. »Und wer war Ethelred der Unredliche?«

»Sohn Kynewulfs des Albernen, aus seiner Ehe mit Undine der Ungewaschnen«, sagte Eugen.

»Und seitens seines Onkels Jasper war er mit Paul dem Pockennarbigen und Genoveva der Unangenehmen verwandt«, ergänzte Elk Duncan.

»Durch eine päpstliche Bulle vom Jahre 903 wurde er exkommuniziert, ließ sich aber nicht einschüchtern ...«, sagte Eugen.

»... sondern rief statt dessen die Geistlichkeit seines Landes zusammen und ließ den Erzbischof von Canterbury – Doktor Gay war sein Name – zum Papst wählen. So kam es zu einem großen Schisma der Kirche«, ergänzte Elk Duncan.

»Wie gewöhnlich jedoch stand Gott auf der Seite der meisten Kanonen«, fuhr Eugen fort. »Später wanderte die Familie nach Kalifornien aus, wo sie 1849 auf den großen Goldfeldern ihr Vermögen erwusch.«

»Hört auf! Hört auf! Da kann ich nicht mit!« gellte Harald Gay und sprang plötzlich auf. »Hopp! Los! Wer geht mit ins Pic?« Das »Pic« – Kurzform für Moving-»Pic«ture-Theatre – war die einzige ständige Unterhaltung, die das Dorf Pulpit Hill gewährte. Dieses Kino füllte sich allabendlich mit lärmenden Studentenrudeln, die durch die mit Erdnußschalen bestreuten Gänge stampften, allerlei Unfug, besonders mit den Freshmen, trieben und sich nebenbei auch an dem armseligen Flickertanz der Puppen, den ein abgespielter Filmstreifen auf die Leinwand warf, mit Radau und lauten Zurufen ergötzten. Eine langweilige, aber fleißige Dame, namens Myrtle, hämmerte auf einem abgenutzten Klavier herum; wenn sie einmal fünf Minuten Pause machte, johlte die ganze Bande und verlangte ironisch: »Musik! Myrtle! Musik!«

 

In dieser merkwürdigen Atmosphäre gedieh und entwickelte Eugen sich aufs erstaunlichste. Er stand außerhalb der allgemeinen Eifersucht. Es war allzu offenbar, daß er kein sicherer Kantonist, kein gesunder, strebsamer junger Mann wäre. Ganz entschieden: er war eine irreguläre Person. Er würde nie in das gültige Schema des in allen Dingen abgerundeten Bürgers passen. Offensichtlich: er würde es nie zum Gouverneur bringen. Nicht einmal Politiker würde er werden, denn er sagte »so komische Sachen«. Er war nicht der Mann, der eine Klasse anführt, nicht der, der vor der Versammlung das Gebet spricht. Er war ein Mann für »kuriose« Unternehmungen. Nun ja, dachten die anderen wohlwollend, solche Leute muß es auch geben; man braucht auch sie; wir sind nicht alle für die gewichtigen Geschäfte geeignet.

Er war glücklicher als je zuvor und ungehemmter. Seine Einsamkeit war vollkommener und freudiger. Er war dem Familienleben mit seinen dumpfen Bedrohungen entronnen: Das beseligte, gab Schwungkraft, machte freiheitstrunken. Et war allein gekommen, ohne Gefährten. Er hatte keinerlei Beziehungen oder Verbindungen; er hatte, selbst jetzt, nicht einmal einen Freund. Und dieses Isoliertsein sprach für ihn. Jeder kannte ihn vom Ansehn, jeder nannte ihn beim Vornamen und unterhielt sich gern mit ihm. Er war nicht unbeliebt. Er war ein glücklicher Enthusiast; voll von freimütigem Frohsinn. Eine große Zärtlichkeit, eine Liebe für die ganze wunderbare und unbesuchte Erde blendete seine Augen. Näher als je war er der brüderlichen Empfindung für alle und vor allem. Und dabei war er einsamer, als er je gewesen war ... Es war ihm völlig gleichgültig, was man von seinem Auftreten hielt; eine göttliche Unbekümmertheit gegenüber allem Augenschein erfüllte ihn. Der Wein der Freude rollte in seinen Adern. Er kam die Kampuspfade heruntergestürmt, wilde Schreie in der Kehle, und sprang hoch, um sich einen Apfel vom Zweig zu reißen.

Er fing an beizutreten. Er hatte nie zuvor irgendeiner Gruppe angehört; aber nun luden ihn alle ein. An der Zeitung und am Magazin, das die Studenten schrieben und herausgaben, hatte er sich mühelos einen Namen gemacht, und schon regnete es Auszeichnungen. Er wurde in »literarische«, »dramatische«, »theatralische«, »rhetorische«, »debattistische«, »journalistische« Bruderschaften aufgenommen, und im Frühling dann in eine »gesellschaftliche«. Begeistert trat er bei, mit fanatischer Freude unterzog er sich den gebräuchlichen Einweihungsriten und lief lahm und mit wunden Gliedern herum, erfreut wie ein Kind oder ein Barbar über die bunten Bänder im Knopfloch seines Rockaufschlags und seine mit Nadeln, Abzeichen, Symbolen und griechischen Lettern bepflasterte Weste.

 

Aber es hatte Überwindung gekostet. Der Herbst war glanzlos und träge; der Schatten Lauras suchte ihn heim. Als er zu Weihnachten heimreiste, fand er die Berge schnöd und eng, die Stadt gemein und zusammengerückt vor der grimmigen Kargheit des Winters. Eine lächerliche, verzweifelte und verkrampfte Fröhlichkeit herrschte in der Familie.

»Also!« sagte Eliza kummervoll und sah vom Herd auf, »nun wollen wir uns alle bemühn, glücklich zu sein und stille Weihnachten feiern. Man weiß ja nie! Man weiß ja nie!« Sie schüttelte den Kopf, konnte nicht weitersprechen. Tränen standen ihr in den Augen. »Es kann das letzte Mal sein, daß wir alle zusammen sind. Das alte Leiden, ach, das alte Leiden!« sagte sie heiser und sah Eugen an.

»Was für ein altes Leiden?« fragte er ärgerlich. »Guter Gott, tu doch nicht so geheimnisvoll!«

»Mein Herz!« flüsterte sie tapfer lächelnd. »Ich hab keinem Menschen was davon gesagt, aber vorige Woche, da war mir so, ich weiß nicht, als war ich schon gestorben.« Sie flüsterte dies in einem Ton, der das Schlimmste ahnen ließ.

»O Du mein Gott!« stöhnte Eugen. »Du wirst noch lang leben, wenn wir andern mit Haut und Haaren verfault sind.«

Helene lachte rauh, sah ihn an und stocherte ihn in die Rippen.

»Ei, ei ei! Sie hat halt immer was Schlimmeres. Wenn Du eines Tages ohne Blinddarm zu ihr kommst, dann fehlt ihr sicher gleich der ganze Magen. Sie kann immer mit einem ärgeren Leiden aufwarten, der Trick versagt nie.«

»Lacht nur über mich! Lacht nur!« sagte Eliza bitter hinter Tränen lächelnd. »Vielleicht werdet Ihr nicht mehr lang lachen können.«

»Guter Himmel, aber Mama!« rief Helene gereizt aus. »Dir fehlt ja doch gar nichts. Papa ist der Kranke! Er braucht Pflege und Aufwartung. Bist Du Dir nicht klar darüber, daß er ... stirbt! Und ich bin auch krank! Du wirst noch leben, wenn wir beide längst unterm Rasen sind.«

»Man weiß ja nie!« sagte Eliza geheimnisvoll. »Man weiß ja nie, wer als erster dran glauben muß. Erst letzte Woche, da ist der alte Mister Cosgrave, ein blühender Mann in den besten Jahren ...«

»Seid Ihr schon wieder dabei?« schrie Eugen, irrlachend, sprang auf und stampfte in der Küche auf und ab in einem Anfall von Raserei.

Sein Vater saß fast den ganzen Tag vorm offnen Kamin im Wohnzimmer und starrte mit leerem Blick ins Feuer. Miss Florry Mangle, die Krankenpflegerin, schenkte ihm den morschen Trost ihrer Schweigsamkeit. Die Arme über ihre Hängebrüste gefaltet saß sie im Schaukelstuhl und wippte auf und ab, auf und ab, dreißig Absatztapfen in der Minute.

Manchmal sprach sie zu ihm von Krankheiten und vom Sterben. Gant war unheimlich gealtert und zusammengefallen. Die Anzüge schlotterten um sein spindeldürres Gestell. Sein Gesicht war wächsern und durchsichtig; die Nase sah wie ein großer Schnabel aus. Er machte einen sauberen, zerbrechlichen Eindruck; – der Krebs blüht in ihm – dachte Eugen – wie eine furchtbare, aber schöne Pflanze. Gant war sehr klar im Kopf, sein Verstand hatte nicht nachgelassen, aber er war traurig und alt. Er sprach sehr wenig, mit einer fast komischen Sanftmut; er hörte auf zuzuhören, sobald man ihm antwortete.

»Wie ist's Dir gegangen, Sohn?« fragte er. »Kommst Du gut voran?«

»Ja. Ich bin Reporter an der Universitätszeitung, nächstes Jahr werde ich wohl Redakteur werden. Ich bin zu verschiednen studentischen Organisationen gewählt worden ...« Er fuhr begierig fort zu berichten, er war froh, daß er zu Einem von ihnen über sein Leben auf der Universität sprechen konnte. Aber als er aufsah, wurde er gewahr, daß sein Vater geistesabwesend und traurig ins Feuer starrte. Eugen hielt inne, verwirrt vor Schmerz und Bitterkeit.

»Das ist gut«, sagte Gant, als er merkte, daß Eugen aufgehört hatte zu sprechen. »Halt Dich brav, Sohn. Wir sind stolz auf dich.«

 

Ben kam zwei Tage vor Weihnachten heim. Er schlich im Haus umher wie ein allen wohlbekannter Schatten. Nach der Rückkehr von Baltimore hatte er Altamont verlassen. Drei Monate lang war er allein im Süden herumgewandert und hatte in den Kleinstädten bei den Kaufleuten um Annoncen geworben. Die Wäschereien pflegen ihre Kundschaft mit vorgedruckten, ausführlich rubrizierten Listen zu versorgen, in die die braven Hausfrauen lediglich die Zahl der Taschentücher, Unterhosen oder Bettlaken einzutragen brauchen. Rings um diese Listen bleiben abgeteilte Felder für Reklame. Dieser Reklamevertrieb ist organisiert. Ben hatte Annoncen für ihn geworben.

Wie gut oder schlecht er bei diesem sonderbaren Geschäft gefahren war, sagte er nicht. Er war tadellos sauber und reinlich wie immer, aber seine Kleider waren fadenscheinig, und er sah sehr, sehr hager aus. Schließlich hatte er eine Anstellung an einer Zeitung in einer reichen Tabakstadt im Piedmont, der dem Gebirg in südlicher Richtung vorgelagerten Ebne, gefunden. Nach Weihnachten sollte er die Stelle antreten.

Er war wie immer mit Geschenken heimgekehrt.

 

Lukas kam von der Marineschule in Newport. Er traf am Weihnachtsabend ein. Sie hörten seinen dröhnenden Tenor bereits, als er noch draußen auf der Straße stand und Leuten Grüße zurief. Wie ein Windstoß kam er ins Haus hereingewirbelt. Alle begannen zu grinsen.

»Ah! Also da sind wir! Der Admiral ist zurück! Papa! Na, wie gefällt Dir der Knabe? Ei bei Gott!« rief er aus, umarmte Gant und tätschelte ihn auf den Rücken, »ich dacht', ich käm' einen Kranken zu sehn, und da stehst Du und siehst aus wie Frühlingsblumen! Wie geht's, wie steht's?«

»Ganz leidlich, mein Junge. Und dir?« fragte Gant, erfreut lächelnd.

»Könnte gar nicht besser gehn, Colonel. Na, Eugen, wie geht's bei Dir, alter Pfadfinder?« sagte er, ohne Antwort zu erwarten.

»Ei ei! Wenn das nicht der alte Glatzkopf ist!?« rief er aus und schüttelte Bens Hand wie einen Pumpenschwengel. »Ich wußte gar nicht, ob Du heimkämst.«

»Mama! Altes Mädchen!« sagte er und umarmte sie. »Na, wie geht's denn, wie geht's denn? Gelt, immer noch mit allen sechs Zylindern! Fein!!!« gellte er, ehe überhaupt noch jemand Zeit gehabt hatte, ihm zu antworten.

»Aber Sohn! Um alles in der Welt!« rief Eliza bestürzt aus. Sie trat einen Schritt zurück, um ihn anzugucken. »Was hast Du Dir denn getan? Du gehst ja, als wärst Du lahm!«

Als er ihr bekümmertes Gesicht sah, platzte er heraus, idiotisch lachend, und kitzelte sie in die Rippen.

»Wha! Wha! Ein Unterseeboot hat mich torpediert!« erklärte er. »Es ist nichts«, sagte er dann bescheiden. »Ich hab ein Stückchen Haut abgegeben, um einem Kerl dort auf der Schule auf die Beine zu helfen.«

»Wa-a-as?!« kreischte Eliza. »Wieviel hast Du hergegeben?«

»Ach, nur 'nen kleinen Streifen, zwanzig Zentimeter«, erklärte er lässig. »Der arme Kerl hatte sich schlimm verbrannt; da sind ein paar von uns hingegangen und haben ihm jeder mit einem Streifen Haut ausgeholfen.«

»Barmherzigkeit!« rief Eliza aus. »Du wirst lebenslänglich gelähmt bleiben. Es ist ein Wunder, daß Du gehn kannst.«

»Er denkt immer an andre, dieser Junge«, erklärte Gant stolz. »Er würde sein Herzblut für seine Mitmenschen hergeben.«

Der Seemann hatte sich einen extra Handkoffer besorgt und hatte eine Auswahl guter Getränke für seinen Vater darin verstaut: mehrere Flaschen Scotch Whisky und Rye Whisky, zwei Flaschen Gin, eine Flasche Rum, eine Flasche Portwein und eine Flasche Sherry.

Vor dem Abendessen waren alle plötzlich so mild und gesellig aufgelegt.

»Geben wir dem armen Kleinen auch was zu trinken!« sagte Helene. »Es wird ihm nichts schaden.«

»Was? dem Baby! Gelt, Sohn, Du wirst keinen Tropfen anrühren, nicht wahr?« sagte Eliza neckisch.

»Nicht wahr?« sagte Helene und pockte ihn mit dem Zeigefinger. »Ha! Ha! Ha!«

Sie schenkte ihm einen tüchtigen Schluck Scotch Whisky ein.

»Hier!« kredenzte sie fröhlich. »Das kann Dir nichts schaden.«

»Sohn!« sagte Eliza ernst, das Weinglas in der Hand balancierend, »ich möchte nicht, daß Du je Geschmack daran findest.« Sie hing noch immer treu an der Doktrin ihres Vaters, des alten Majors.

»Nein, beileibe nicht!« sagte Gant. »Das ruiniert einen Menschen schneller als alle anderen Übel der Welt zusammengenommen.«

»Nimm eines Narren Rat an«, sagte Lukas. »Wenn der Suff die Oberhand über Dich kriegt, Jung', dann ist's rum.«

Sie überhäuften ihn mit schönen Warnungen, als er sein Glas hob. Er würgte einen Augenblick, als ihm der feurige Whisky in der Gurgel brannte. Der Atem blieb ihm aus, Tränen traten ihm in die Augen. Er hatte nur sehr selten vorher genippt; ganz geringe Mengen, die ihm Helene in der Woodson Street verabreicht hatte, und einmal mit Jim Trivett einen Schluck, woraufhin er sich ganz beschwipst vorgekommen war.

Nach dem Essen tranken sie wieder. Sie erlaubten ihm »einen Kleinen«. Dann gingen sie alle in die Stadt, um ihre letzten, verspäteten Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Er blieb allein im Haus.

Der Whisky rollte warm und angenehm in seinen Adern, badete seine zappeligen Nervenenden, gab ihm ein Gefühl von Macht und Ruhe, wie er es nie gekannt hatte. Er ging in die Speisekammer, wo die Flaschen aufbewahrt wurden. Er nahm ein Wasserglas und füllte es experimentierlustig zu gleichen Teilen mit Whisky, Gin und Rum. Dann setzte er sich an den Küchentisch und trank langsam das Glas aus.

Der furchtbare Trank schmiß ihn um mit der Wucht und Plötzlichkeit einer Boxerfaust. Er war auf der Stelle betrunken, und auf der Stelle wußte er, warum Menschen trinken. Es war – das merkte er – einer der großen Augenblicke seines Lebens. Er lag da, gierig und beobachtete, wie der Trank die Herrschaft über sein jungfräuliches Fleisch gewann; er war wie ein junges Mädchen, das zum erstenmal von seinem Liebhaber umarmt und besessen wird. Und plötzlich ward ihm klar, wie sehr er seines Vaters Sohn, wie ganz und gar, mit was für einer erhöhten Daseinslust und welch einer erlesenen Verfeinerung der Sinne er ein Gant war. Er freute sich über seinen langen Leib und seine großen Glieder, an denen die Zaubermacht des mächtigen Likörs ein besseres Wirkungsfeld habe. In der ganzen Welt gab es seinesgleichen nicht mehr, gab es keinen zweiten Menschen, der so dafür geschaffen war, erhaben und großartig betrunken zu sein. Betrunkensein war größer als alle Musik, die er gehört hatte, es war so groß, wie die größte Dichtung. Warum hatte man ihm das nie gesagt? Warum hatte niemand entsprechend darüber geschrieben? Warum, wenn es möglich war, sich einen Gott in der Flasche zu kaufen, ihn zu trinken und dadurch selber ein Gott zu werden, waren die Menschen nicht immer betrunken?

Er erlebte den Augenblick des großen, herrlichen Wunders, in dem wir einfache, ungesagte, begrabne Dinge in uns entdecken. Tatbestände, die bewußt, aber unausgesprochen in uns liegen. So mag sich ein Mensch vorkommen, der nach dem Tode im Jenseits aufwacht und um sich den Himmel erkennt.

Eine göttlich lähmende, schwere Starre bekroch nun sein Fleisch. Seine Glieder wurden steif, seine Zunge wurde dick und dicker, bis sie endlich ganz ungelenk war. Er sprach laut vor sich hin, wiederholte schwierige Sätze über und über, lachte laut und verzückt über seine Bemühungen. Über seinem betrunknen Körper hing sein Bewußtsein wie ein Falke in der Schwebe. Es sah hohnvoll auf ihn herunter. Es nahm kummervoll und mitleidig von seinem Gelächter Kenntnis. Es war etwas Unsichtbares, Unberührbares in ihm, etwas, das jenseits seiner selbst und über ihm war: – ein Auge innerhalb des Auges, ein Hirn über seinem Hirn, der Fremdling, der in ihm wohnte, der ihn betrachtete, der er selbst war, der Fremdling, den er nicht kannte. Aber, dachte er, ich bin nun allein in diesem Haus; wenn es mir gelingen könnte, diesen Fremdling kennenzulernen, will ich's versuchen.

Er stand auf, verließ die helle, warme Küche und ging hinaus in die Diele, wo ein trübes Licht brannte und die hohen Wände eine kalte Nässe ausschwitzten. Das also, dachte er, ist das Haus.

Er setzte sich in einen großen, hölzernen Sessel und lauschte auf das kalte Gesinter der Stille. Das ist das Haus, in dem ich als Verbannter weilte. Es haust ein Fremdling in diesem Haus, und es haust ein Fremdling in mir.

O Haus des Admet, in dem ich (obschon ein Gott) so vieles ertrug. Nun Haus, ich fürchte mich nicht. Kein Gespenst braucht vor mir bange zu sein. Wenn da eine Tür in die Stille führt, soll sie sich auftun. Meine Stille ist größer als Deine. Und Du, der Du in mir bist, Du, der ich selber bin, tritt hervor aus dem stillen Gehäus meines Fleischs, das keine Anstalten trifft, Dich zu verleugnen. Niemand kann uns sehn: O komm mit ungebeugter Miene, o komm, mein Bruder und mein Herr! Wären mir vierzigtausend Jahre gegönnt, dann würde ich sie alle, bis auf die neunzig letzten, der Stille schenken. Ich würde an der Erde anwachsen, wie ein Hügel oder ein Fels. Entwirke dieses Gewebe aus Tagen und Nächten; wickle mein Leben zurück von der Spule bis zu meiner Geburt; nimm mich heim in die Nacktheit und baue mich wieder auf aus allen Summen, die ich nicht gezählt habe. Oder laß mich das lebendige Antlitz der Dunkelheit sehn, laß mich das furchtbare Urteil Deiner Stimme vernehmen.

Da war nichts als die lebendige Stille des Hauses: keine Türen taten sich auf.

 

Alsbald stand er auf und verließ das Haus. Er trug weder Mantel noch Hut; er konnte sie nicht finden. Dichter Nebelrauch hing um die Laternen; alle Geräusche waren gedämpft und heiter; die Erde war erfüllt von Weihnacht. Es fiel ihm ein, daß er noch keine Geschenke gekauft hatte. Er hatte ein paar Dollars in der Tasche. Ehe die Läden schlössen, mußte er für jeden in der Familie etwas erstehen. Barhaupt ging er zur Stadt hinauf. Er wußte, daß er betrunken war; er wußte, daß er wankte; aber er glaubte, daß er seinen Zustand vor den Leuten verbergen könne. Der Bürgersteig war betoniert mit einem einfachen, quadratischen Muster; in der Mitte lief eine Riefe. Er fixierte den Blick auf diese Riefe; er tappte, schwankte, geriet davon ab, kehrte aber sofort wieder zu dieser Leitspur zurück. Als er ins Geschäftsviertel kam, war die Straße voll von Leuten, die ihre letzten Einkäufe gemacht hatten. Auf allem lag eine Stimmung des Erfülltseins und Vollendethabens. Die Leute strömten heim zum Weihnachtsfest. Er ging vom Staatplatz die schmale Avenue h8nunter, an starrenden Passanten vorbei. Er hielt sich streng an die Riefe. Er wußte nicht, wo er hingehn wollte. Er wußte nicht, was er kaufen sollte.

Als er am Eingang von Woods Drogerie vorüberkam, erschallte von drinnen das laute Lachen der Galane. Im nächsten Augenblick starrte Eugen in die freundlich grinsenden Gesichter zweier früherer Klassenkameraden aus Leonards Schule. Dies waren Julius Arthur und Van Yeats.

»Zum Teufel! Wo willst Du hin, Eugen?« fragte Julius Arthur.

Er versuchte, es ihnen klarzumachen. Stammelte etwas Dickzüngiges, Verworrnes.

»Er ist besoffen wie ein Gockel«, sagte Van Yeats.

»Gib Du auf ihn acht«, sagte Julius. »Bring ihn in eine Torhalle, so daß ihn keins von seinen Angehörigen sieht. Ich hol das Auto.«

Van Yeats stemmte ihn vorsichtig gegen eine Mauer. Julius Arthur rannte schnell in die Church Street. Einen Augenblick später stoppte er sein Auto am Rinnstein. Eugen hatte eine übermächtige Neigung, sich achtlos an der nächstbesten Stütze anzuhalten. Er hängte sich mit den Armen auf die Schultern der beiden und brach zusammen. Sie zwängten ihn zwischen sich auf den Vordersitz. Irgendwo läuteten die Christglocken.

»Ding-dong!« sagte Eugen, sehr heiter. »Ding-dong! Weinnacht!«

Die beiden brüllten vor Lachen.

Das Haus war noch leer, als sie vorfuhren. Sie zwängten ihn aus dem Wagen und schleiften ihn über die Terrasse. Es tat ihm verdammt leid, daß ihr Zusammensein schon aufhören sollte.

»Wo ist Dein Zimmer, Eugen?« fragte Julius Arthur schwerschnaufend, als sie ihn in der Diele hatten.

»Das ist so gut wie ein andres«, sagte Van Yeats.

Die Tür zu dem Schlafraum vornheraus, gegenüber dem Speisezimmer, stand offen. Sie nahmen ihn hinein und legten ihn aufs Bett.

»Ziehn wir ihm die Schuh aus!« sagte Julius.

Er wollte ihnen sagen, sie möchten ihn ausziehn, ihn unter die Bettdecke stecken und die Tür zumachen, damit die Familie nichts merken solle, aber er hatte die Gewalt über seine Zunge verloren. Nachdem sie ihn eins Weile grinsend angesehn hatten, gingen sie hinaus, ohne die Tür zu schließen.

Er lag auf dem Bett, außerstand sich zu bewegen. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber sein Hirn arbeitete sehr klar. Er wußte, daß er aufstehn, die Tür zuriegeln und sich ausziehn solle ... und war wie gelähmt.

Alsbald kamen die Gants heim. Nur Eliza war noch über Einkäufen bedächtig erwägend in der Stadt. Es war nach elf Uhr. Gant, seine Tochter und seine zwei Söhne kamen ins Zimmer und starrten ihn an. Als sie ihn anredeten, lallte er hilflos.

»Sprich doch! Sprich!« gellte Lukas, fiel über ihn her und rüttelte ihn so heftig, daß er fast erstickte. »Bist Du stumm, Idiot!«

Ich werde daran denken, dachte Eugen.

»Hast Du keinen Stolz? Hast Du keine Ehre? Ist es so weit mit Dir gekommen?« brüllte der entrüstete Seemann dramatisch los, während er im Zimmer auf und ab stolzierte.

Glaubt er vielleicht, er wäre ein Höllenkerl, oder was? dachte Eugen. Er konnte zwar keine Worte mehr bilden, aber er brachte Laute hervor, mit denen er den Tonfall der Moralpredigt nachäffte. »Tuh-tuh-tuh-tuh-tuh-tuh? Tuh-tuh-tuh-tuh-tuh-tuh-tuh?!« machte er. Er produzierte auf diese Art ein ulkiges, rhythmisch genaues Mimikry. Helene, die ihm gerade den Hemdkragen aufknöpfte, platzte lautlachend heraus. Ben grinste flüchtig unter der tief gefurchten Stirnrune.

Hast Du kein Dies? Hast Du kein Das? Hast Du kein Dies? Hast Du kein Das? ... der Rhythmus lullte ihn. Bedaure sehr, gnädige Frau, unser Vorrat an Ehre ist heute ausgegangen, aber wir haben eine frische Sendung Selbstachtung, wirklich prima Ware, auf Lager.

»Hör auf!« knurrte Ben. »Es ist ja niemand gestorben.«

»Hol heißes Wasser, er muß das Zeug aus dem Magen kriegen«, ordnete Gant sachlich an. Er schien auf einmal nicht mehr alt. In seinem abgezehrten Schatten erwachte das Leben auf einen wunderbaren Augenblick, er strahlte vor Gesundheit und Tatkraft.

»Spar Dein Feuerwerk!« sagte Helene im Hinausgehn zu Lukas. »Und macht die Tür zu. Gebt acht, wenn sich's irgend machen läßt, daß Mama nichts merkt.«

Ein großer moralischer Anlaß das, dachte Eugen. Ihm wurde allmählich übel.

Helene kehrte mit einem dampfenden Wasserkessel und einer Sodaschachtel zurück. Mitleidslos flößte Gant seinem Sohn die Lösung ein, bis er erbrach. Als die Sache im besten Gang war, erschien Eliza. Er hob seinen Kopf von der Schüssel und sah ihr weißes Gesicht in der Tür, ihre matten braunen Augen, die immer so scharf funkelten, wenn etwas ihren Argwohn erweckte.

»Ei, ach, was ist?« fragte Eliza.

Natürlich wußte sie, was es war.

»Was sagt Ihr?« sagte Eliza, ehe noch jemand etwas gesagt hatte. Eugen grinste sie matt an. Trotz der Übelkeit und seines Kummers belustigte es ihn ungemein, daß sie sich in so putziger Weise dumm stellte. Alle lachten über sie, als sie wie immer in solchen Fällen blinde Unschuld sichtlich vortäuschend dastand.

»Ach Du lieber Herrgott! Da ist sie!« sagte Helene. »Wir hatten gehofft, Du würdest nicht heimkommen, bis die Sache vorüber wäre. Na, komm mal näher und sieh Dir Dein Baby an!« Sie stützte Eugens Kopf mit der Hand auf.

»Gehts besser jetzt, Sohn?« fragte Gant gütig.

»Ja, besser«, murmelte er, freudig überrascht, daß er die Sprache nicht auf immer verloren habe.

»Na also! Da siehst Du's!« erklärte Helene. »Das beweist doch, daß wir alle gleich sind in dieser Beziehung. Es steckt uns im Blut.«

»Dieser furchtbare Fluch!« klagte Eliza. »Ich hatte gehofft, daß wenigstens einer meiner Söhne davon verschont bliebe.« Sie brach in Tränen aus. »Das Gottesgericht ist über uns hereingebrochen! Die Sünden der Väter werden gerächt!«

»Um Himmels willen!« schrie Helene ärgerlich auf. »Hör auf! Er wird nicht dran sterben. Es wird ihm eine Lehre sein.«

Gant biß sich die dünnen Lippen. Er leckte seinen Daumen mit der großen, alten Gebärde.

»Du weißt doch, daß ich dran schuld bin«, sagte er. »Wenn sich eines von Euch ein Bein bricht, ist's auch mein Fehler.«

»Eines ist sicher«, sagte Eliza, »aus meiner Familie stammt diese Anlage nicht. Du kannst sagen, was Du willst, im Hause seines Großvaters, des alten Majors Pentland, wurde nicht ein Tropfen getrunken.«

»Verdamm den Major Pentland«, sagte Gant. »Wenn Du Dich auf ihn verlassen hättest, hättest Du Hunger gelitten.«

Ganz gewiß aber Durst, dachte Eugen.

»Vergiß drauf«, sagte Helene. »Es ist Weihnachten. Laßt uns einmal im Jahr in Frieden leben.«

Sie gingen hinaus. Eugen versuchte, sie sich in jene zuckersüße Versöhnungslaune eingelullt vorzustellen, die oft auf ähnliche Szenen folgte, jene zahme Stimmung, die verheerender für ihn war als wüster, offner Krach.

Alles in ihm und um ihn schwamm gräßlich im Finstern. Bald aber glitt er in die Grube eines gepeinigten Schlafs.

 

Die Familie war übereingekommen, ihm geflissentlich zu vergeben. Aufdringlich-vorsichtig, die Gemüter von Weihnachten und Barmherzigkeit erfüllt, beschwiegen sie seine Missetat. Ben betrachtete ihn mit ganz natürlichem Stirnrunzeln, Helene kitzelte ihn in die Rippen und grinste wie sonst; Eliza und Lukas gehabten sich hold, sorgsam und still vor ihm. Die ganze Verzeihlichkeit dröhnte ihm laut in den Ohren.

Im Lauf des Vormittags forderte ihn sein Vater zu einem Spaziergang auf. Gant war verlegen und kopfhängerisch; die Rolle des milden Ermahners, die Eliza und Helene ihm aufgebürdet hatten, bedrückte ihn offensichtlich sehr. Kein Zweiter tat es Gant gleich, wenn es galt, im großen Wauwaustil loszulegen, aber niemand war weniger als er geeignet, die Lebenspfade licht und leis mit Zartsinnsblüten zu bestreuen. Sein Zorn und seine Schmählust waren heftig, unmittelbar und jach, aber, aber für die Aufgabe, mit der er nun betraut worden war, hatte er keine Donnerkeile im Köcher. Er schätzte sie nicht, er kam sich mitschuldig vor, so wie ein Stadtrichter, der den Saufkumpan von gestern nacht heut früh wegen Trunkenheit zur Rechenschaft ziehen soll. Und außerdem: – wie wär's, wenn seine bacchantische Ader auf den Sohn übergegangen wäre?

Sie gingen stillschweigend über den Stadtplatz, an dem eisberingten Brunnenbecken vorbei. Gant hatte sich bereits mehrere Male verlegen geräuspert.

»Sohn«, sagte er schließlich, »ich hoffe, Du läßt Dir den Vorfall von gestern nacht zur Warnung dienen. Es wäre entsetzlich, wenn die Trunksucht Macht über Dich bekäme. Ich will Dir wahrhaftig keine Vorwürfe machen, aber ich hoffe, daß es Dir eine Lehre gewesen ist. Besser tot als ein Säufer. Willst Du Dir's merken?«

So, Schluß damit, das wäre überstanden! Gant war froh, daß er's hinter sich hatte.

»Ja, ich will«, sagte Eugen. Dankerfüllt und erleichtert. Wie gut sie alle zu ihm waren! Es drängte ihn, leidenschaftliche Gelübde abzulegen, große Versprechungen zu machen. Er wollte es aussagen, konnte jedoch nicht. Es gab zu viel zu erklären.

Und so beging er diese Weihnachten, die mit elterlichem Rat anfingen, in Zerknirschung, unter Liebesbezeigungen und in Schicklichkeit. Sie versteckten ihr wildes Leben unter Gesellschaftskleidern und feierten das Fest in den üblichen, konventionellen Formen. Sie dachten »nun sind wir wie andre Familien«, aber sie waren schüchtern und steif und scheu wie Bauern im Sonntagsanzug.

 

Schweigen aber konnten sie nicht. Keineswegs, daß sie engherzig oder gemein waren, nein, es war ihnen lediglich nicht anerzogen, Selbstbeherrschung zu üben, sich zurückzuhalten oder sich einen Zwang aufzuerlegen. Helene hing das Mäntelchen nach dem Wind ihrer Hysterien. Der ungewisse Wechsel von Ebbe und Flut ihres Temperaments bestimmte sie. Manchmal, wenn sie daheim vor ihrem Feuer saß und sich matt fühlte und draußen den Wind heulen hörte, dann überkam sie etwas, so daß sie Eugen fast haßte.

»Es ist lachhaft, geradezu lachhaft!« sagte sie zu Lukas. »Wie er sich aufführt! Er ist doch noch ein grüner Junge. An ihn ist alles gehängt worden, an uns nichts. Nun sieht man, wohin es geführt hat.«

»Die Universität hat ihn ruiniert«, sagte der Seemann, durchaus nicht betrübt darüber, daß sein Licht in dieser schlimmen Finsternis um so heller brannte.

»Warum sprichst Du nicht mit Mama darüber?« sagte sie gereizt. »Auf mich hört sie ja nicht. Sag ihr genau das! Du hast ja gehört, wie sie es dem alten, armen Papa unter die Nase gerieben hat, nicht wahr? Glaubst Du, der Alte – krank wie er ist – wäre dran schuld? Eugen ist ja gar kein Gant, er schlägt in ihre Familie. Er ist ein Querkopf, wie alle Pentlands. Wir, wir sind die Gants«, erklärte sie mit bitterm Nachdruck.

Eugen tat vielfache Buße für seinen Fehltritt. Die Nachwehen gingen ihm entsetzlich auf die Nerven. Er zählte die Stunden bis zu seiner Abreise, beherrschte sich, war wie ein Stier unterm Joch, schwieg still.

Er wandte sich an Ben. Und das hätte er nicht tun sollen. Ben, tief unzufrieden mit sich selbst, verschlossen, verbissen, gepeinigt, zur Verzweiflung getrieben und von Selbsthaß aufgerieben, tadelte ihn bitter und scharf. Es war unerträglich. Eugen kam sich verraten und betrogen vor, so anmaßend, aufsässig und vorwurfsvoll begegnete ihm Ben.

Drei Tage vor seiner Abreise abends im Empfangszimmer kam es zum Ausbruch. Ben hatte ihm fast eine Stunde lang in wildem Monoton Vorhaltungen gemacht, offenbar in der Absicht, ihn zum Angriff zu reizen. Eugen, kochend vor Wut, hatte an sich gehalten und ihn angehört.

»...und stell Dich nicht so hin, Du kleiner Gauner, und stier mich an. Ich sag Dir alles zu Deinem Besten, damit kein Zuchthausvogel aus Dir wird.«

»Dir fehlt es einfach an Erkenntlichkeit«, sagte Lukas. »Du merkst nicht, was alles für Dich getan wird. Für Dich wird jedes Opfer gebracht, und Du siehst es nicht einmal ein. Die Universität hat Dich ruiniert.«

Eugen wandte sich langsam an Ben.

»Jetzt ist's genug, Ben«, erklärte er mit äußerster Beherrschtheit. »Was der Lukas da quatscht, ist mir schnuppe, aber von Dir hab ich jetzt genug gehört.«

Darauf hatte Ben gewartet. Sie waren alle furchtbar aufeinander geladen.

»Spiel Dich nicht so auf, Du Tropf, oder ich schlag Dir den Schädel in Stücke!«

Fauchend wie eine Katze fiel Eugen über Ben her. Er packte ihn, hob ihn hoch und legte ihn glatt zu Boden, als wäre er ein Kind. Ben war so schwach und zerbrechlich, daß sich Eugen augenblicklich seiner körperlichen Überlegenheit schämte. Seine Wut war schon halb verflogen, als Lukas, aufgeregt quietschend, ihn hinterrücks anfiel. Lukas strangulierte Eugen am Hals und schlug mit der andern Hand tölpisch auf ihn ein.

»Pack ihn b-b-bei den B-b-beinen, B-b-ben!« stotterte Lukas.

Eine wüste Rauferei entwickelte sich. Der Radau umfallender Stühle und Feuergeräte brachte Eliza sofort an die Tür.

»Barmherzigkeit!« schrie sie, »sie bringen ihn um!«

Eugen fauchte und schlug um sich wie ein Irrsinniger. Obgleich er überwältigt wurde, hielt er sich gut, oder in der stolzen Sprache des alten Südens ausgedrückt: Er unterlag, wurde aber nicht geschlagen.

Dann, als es vorbei war, und er wieder sprechen konnte, sagte er ruhig, das Beben in seiner Stimme bemeisternd:

»Es tut mir leid, Ben, daß ich Dich angefallen habe. Du«, – er wandte sich an den aufgeregten Seemann, – »hast Dich hinterrücks über mich hergemacht wie ein Feigling. Aber trotzdem – was vorgefallen ist, tut mir leid. Auch mein Benehmen am Weihnachtsabend tut mir leid; ich habe es deutlich und oft genug gesagt, aber Ihr konntet die Sache nicht ruhen lassen. Und Du, Ben, hast alles getan, um mich mit Deinen Reden zum Äußersten zu bringen. Ich hätte es nicht«, – keuchte er – »nein, ich hätte es nie für möglich gehalten, daß Du mich so im Stich lassen könntest. Daß die andern mich hassen, das weiß ich ...«

»Dich hassen!« schrie Lukas aufgeregt. »Um Go-go-gottes willen, Du bist nicht bei Trost! Wir geben uns alle Mühe zu Deinem Besten, wir wollen Dir helfen, weiter nichts. Warum sollten wir Dich hassen?«

»Ja, Du haßt mich!« sagte Eugen, »und Du schämst Dich, es einzugestehn. Ich weiß nicht, warum Du mich haßt, aber es ist Tatsache. Du hast Angst, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen.« Er wandte sich wieder anklagend an Ben: »Mit Dir, Ben, ist es ganz anders. Wir sind immer wie Brüder zueinander gestanden, und nun hast Du Dich auf die Gegenseite geschlagen.«

»Ach was!« knurrte Ben und wandte sich nervös ab. »Du bist verrückt. Ich weiß überhaupt nicht, wovon Du sprichst.« Er zündete eine Zigarette an, das Zündholz flackerte in seiner zitternden Hand.

»Kinder, Kinder!« sagte Eliza kummervoll. »Wir müssen versuchen, einander zu lieben. Es kann das letzte Mal sein, daß wir alle beisammen sind.« Sie fing an zu weinen. »Ich hab so ein schweres Leben gehabt, nichts wie Kampf ums Dasein und Plackerei, und ich verdiene wirklich ein bißchen Glück und Frieden.«

Die alte, bittre Scham voreinander befiel sie. Sie konnten sich nicht in die Augen sehn. Und die ungeheure, rätselhafte und schmerzliche Verwirrung, die an ihrem Leben riß, machte sie bedrückt und still.

»Kein Mensch, Eugen«, begann Lukas ruhig, »hat sich gegen Dich gestellt. Wir wollen Dir einfach helfen, damit was Rechtes aus Dir wird. Die letzte Möglichkeit steht bei Dir. Wenn der Alkohol die Macht über Dich bekommt, die er über uns andre bekommen hat, dann bist Du verloren.«

Eugen war sehr erschöpft. Seine Stimme klang matt und leise. Er sprach aus stumpfer Verzweiflung. Was er sagte, hatte eine unbestreitbare Endgültigkeit.

»Und wie willst Du es verhindern, Lukas, daß der Alkohol die Macht über mich bekommt? Etwa dadurch, daß Du mich hinterrücks anfällst und mich strangulierst? Das sieht ganz so aus, wie all Deine andren Versuche, mich zu verstehn.«

»Aha!« sagte Lukas ironisch, »Du glaubst also, wir verstünden Dich nicht, was?«

Eugen antwortete ganz still:

»Nein, Ihr versteht mich nicht, das weiß ich. Du weißt überhaupt nichts von mir. Und ich weiß nichts von Dir, nichts von den andern. Ich habe siebzehn Jahre unter Euch gelebt, und ich bin ein Fremdling. Hast Du in all diesen Jahren auch nur einmal wie ein Bruder zum Bruder mit mir geredet? Hast Du mir je etwas von Deinem eignen Leben gesagt? Hast Du je versucht, mein Freund oder mein Kamerad zu sein?«

»Ich weiß nicht, was Du verlangst«, antwortete Lukas. »Ich habe einfach mein Bestes getan. Und was hätte ich Dir von meinem eignen Leben erzählen können; was willst Du denn wissen?«

»Also aha!« sagte Eugen langsam. »Du bist sechs Jahre älter als ich, Du bist aufs Polytechnikum gegangen, Du hast in Großstädten gearbeitet, und jetzt bist Du bei der Kriegsmarine eingetreten und wirst ausgebildet. Warum eigentlich benimmst Du Dich immer, als wärst Du Gott, der Allmächtige?« fuhr er mit wachsender Erbitterung fort. »Ich weiß doch, wie es Matrosen treiben. Sie saufen, nicht wahr? Und sie gehn mit Weibern, nicht wahr?«

»So spricht man nicht in Gegenwart seiner Mutter«, sagte Lukas streng.

»Sohn, Sohn!« sagte die bekümmerte Eliza, »es gefällt mir nicht, daß Du so sprichst.«

»Nun, dann werde ich anders sprechen«, erklärte Eugen. »Ich hatte den Einwand erwartet. Wir hören nicht gern, was wir bereits wissen. Und wir nennen die Dinge nicht gern beim Namen, obschon wir willig genug sind, einander mit bösen Namen zu belegen. Wir nennen Gemeinheit Edelmut, und Haß nennen wir Ehre. Die Methode, Dich zum Helden zu machen, besteht darin, daß Du mich als Schuft anprangerst Natürlich gestehst Du das nicht ein, aber es ist trotzdem so. Also, Lukas, reden wir nicht von den Weibern, den weißen und den schwarzen, die Du kennst oder nicht kennst, denn das verschafft Dir Unbehagen. Statt dessen darfst Du fortfahren, Gott den Allmächtigen zu spielen, und ich werde Deine Ratschläge anhören wie ein kleiner Bub im Kindergottesdienst. Aber offengestanden, ich ziehe es vor, die zehn Gebote zu lesen, wo alles viel kürzer und besser steht.«

»Sohn«, sagte Eliza mit der Miene der Altbetrübten, die ihre Hoffnungen gescheitert sieht, »Sohn«, sagte sie, »wir sollen versuchen, miteinander auszukommen.«

»Nein«, sagte Eugen. »Allein. Wir sollen versuchen allein auszukommen. Allein zu stehn. Allein. Allein. Ich habe hier siebzehn Jahre Lehrzeit durchgemacht, aber nun geht sie zu Ende. Ich weiß nun, daß ich fliehen werde. Ich weiß, daß ich keines großen Verbrechens schuldig bin, und ich habe keine Angst mehr vor Dir.«

»Aber Junge!« sagte Eliza, »wir haben alles für Dich getan, was in unsrer Macht stand. Welches Verbrechen sollen wir Dir denn zur Last gelegt haben?«

»Daß ich Eure Luft atme, Euer Essen esse, unter Eurem Dach wohne, daß ich Dein Leben und Dem Blut in meinen Adern habe, und daß ich Eure Opfer und Eure Entbehrungen annehme und für das alles nicht dankbar bin.«

»Wir sollten uns für alles erkenntlich zeigen«, erklärte Lukas einsichtsvoll. »Mancher junge Kerl gäbe ein Auge dafür, wenn ihm die Gelegenheit geboten würde, die Dir geboten wird.»

»Mir ist nichts geboten worden«, erklärte Eugen heiser vor Leidenschaft. »Nichts! Ich will nicht länger wie ein Gebeugter in diesem Haus herumlaufen. Die Gelegenheiten, die mir zuteil geworden sind, habe ich mir selbst geschaffen. Allein, ganz ohne Euch, ja, sogar gegen Euren Widerstand. Ihr habt mich auf die Universität geschickt, als Euch einfach nichts anders übrig blieb, denn die Leute hier im Städtchen hätten es für eine himmelschreiende Schande gehalten, wenn Ihr es nicht getan hättet. Ihr habt mich geschickt, nachdem mich die Leonards drei Jahre lang wie Marktschreier gepriesen hatten, und dann noch habt Ihr mich ein Jahr zu früh geschickt – ehe ich sechzehn Jahr alt war –, und zwar mit einer Schachtel belegter Brote, zwei Anzügen und der Anweisung, ein braver Bub zu sein.«

»Einiges Geld hast Du auch gekriegt«, sagte Lukas. »Vergiß das nicht.«

»Wenn es mir entfallen wäre, dann wäre ich wahrhaftig der einzige in der Familie, der es je vergessen hätte«, antwortete Eugen. »Denn das Geld steckt ja hinter allem, nicht wahr? Mein Verbrechen neulich abends war nicht, daß ich betrunken war, sondern daß ich betrunken war, ohne eignes Geld dafür zu haben. Falls ich von eigenem Geld studierte und nichts taugte, dann würdet Ihr nicht aufzumucken wagen – nachdem ich aber von Euerm Geld auf die Universität geh und was leiste, müßt Ihr mir dauernd Euere Güte und meine Nichtswürdigkeit vorhalten.«

»Aber Sohn«, versuchte Eliza diplomatisch einzulenken, »kein Mensch hat doch ein Wort über Deine Leistungen auf der Universität gesagt. Wir sind sehr stolz auf Dich!«

»Stolz braucht Ihr nicht zu sein«, sagte er mürrisch. »Ich hab 'ne Menge Zeit vertrödelt und einiges Geld vergeudet. Aber ich hab was dafür gehabt, und zwar mehr als die meisten dafür haben. Ich habe für meinen Lohn soviel Arbeit geleistet, als Ihr verdient. Ich habe Euch einen anständigen Gegenwert für Euer Geld geliefert. Ich danke Euch für nichts.«

»Was war das? Was war das?« fragte Eliza scharf.

»Ich sagte, daß ich Euch für nichts danke, aber ich nehme es zurück.«

»Das klingt besser«, sagte Lukas.

»Ja, ich habe für sehr vieles zu danken«, sagte Eugen. »Ich sage Dank für jedes schmutzige Gelüst und jeden dreckigen Hunger, der ins verseuchte Blut meiner edlen Vorfahren kroch. Ich sage Dank für alle skrofulösen Zeichen, die mich je befallen können. Ich sage Dank für die Liebe und die Barmherzigkeit, die mich am Tage vor meiner Geburt überm Waschzuber knetete. Ich sage Dank für die Bauernschlampe, die meine Pflegerin war und den schmutzigen Verband über meinem Nabel schwären ließ. Ich sage Dank für jeden Puff und Fluch, den ich in meiner Kindheit von Euch empfing, für jede muffige Zelle, die mir als Schlafkammer angewiesen wurde, für die zehn Millionen Stunden Grausamkeit und Gleichgültigkeit und für die dreißig Minuten billiger Ratschläge.«

»Unnatürlicher!« zischte Eliza. »Unnatürlicher Sohn! Du wirst bestraft werden, so wahr ein Gott im Himmel ist.«

»Oh, dort ist einer, sicher ist einer dort«, rief Eugen. »Denn ich bin ja schon gestraft worden. Bei Gott! Ich werde den Rest meiner Tage brauchen, um mein Herz wiederzufinden, um die Wunden auszuheilen und die Narben zu verschmerzen, die mir zugefügt wurden, als ich ein Kind war. Das erste, was ich tat, als ich aus der Wiege kam, war, daß ich nach der Tür krabbelte, und alles was ich seitdem getan habe, war ein Versuch zu entfliehn. Und nun schließlich bin ich von Euch allen frei, auch wenn Ihr mich noch ein paar Jahre festhalten könnt, und sofern ich nicht frei bin, so bin ich doch wenigstens in meinen eignen Kerker gesperrt. Aber ich werde es schaffen, daß Schönheit und Ordnung in mein wirres Leben kommt. Ich werde einen Weg ins Draußen finden, selbst wenn es mich zwanzig Jahre kostet – und zwar allein.«

»Allein?« fragte Eliza mit dem alten Argwohn. »Wohin willst Du denn gehn?«

»Ach!« sagte er. »Du hast nicht aufgepaßt, nicht wahr? Ich bin schon gegangen.«


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