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XX

In jenen Jahren, in denen seine Lieblingskinder Lukas und Helene die meiste Zeit weg waren, führte Gant ein zersplittertes Heimleben; er hauste halb bei sich in der Woodson Street, halb bei Eliza in der Pension. Zwar haßte und fürchtete er das Alleinsein, aber er war ein Gewohnheitsmensch und dachte überhaupt nicht daran, seine behagliche Bleibe aufzugeben und statt dessen mit der kahlen Winterlichkeit von Dixieland vorliebzunehmen. Eliza wollte ihn gar nicht dort haben. Sie war durchaus dafür, daß er zu Tisch kam, aber daß er über Nacht blieb – was häufig vorkam, wenn Helene weg war – und seine Tiraden, die nun immer länger wurden, gingen ihr mehr als je auf die Nerven.

»Du hast doch Dein eigenes Heim«, quengelte sie. »Warum bleibst Du nicht dort, statt hier herumzulungern und mir Scherereien zu machen?«

»Schmeißt ihn nur raus, schmeißt ihn nur raus!« stöhnte er bitter gekränkt. »Schleift seine Knochen über das Pflaster! Er ist ja nur ein Bettler, um den sich kein Mensch schert. O Gott, o Gott! Der alte Ackergaul ist zu nichts mehr nütze, seine Tage sind gezählt: gebt ihm einen Tritt und schickt ihn zum Schinder! Der alte Krüppel kann nichts mehr zum Futtern heimbringen, also: auf den Schutthaufen mit ihm! Entartete, widernatürliche Ungeheuer, die Ihr seid!«

Trotzdem hielt er sich in Dixieland auf, so lange jemand da war, der ihm zuhörte. Für die kleine Gruppe der Wintergäste brachte er den wundervollen Geschmack des großen Daseins mit. Im Schaukelstuhl vorm Kaminfeuer räkelte er sich und erzählte immer wieder aus dem Legendenhort seines eignen Lebens. Sie saßen herum und hörten ihm hungrig zu. Da griff er vor ihren verzauberten Augen einen romantischen Vorfall heraus, verschönerte und dramatisierte ihn, baute ihn auf, verwob ihn mit historischen Zusammenhängen. Eine ganze Mythologie entstand.

Der General Fithugh Lee, der in den Tagen des Bürgerkriegs hoch zu Roß vor dem Farmerbuben gehalten und einen Trunk Wasser verlangt hatte ... dieser General trank jetzt aus der eichenen Schöpfkelle des Ziehbrunnens und schüttete den Rest zur Seite: er erkundigte sich alsdann bei dem Buben bis ins kleinste über die Straßen und Anmarschwege nach Gettysburg, fragte ihn, ob er feindliche Detachements gesehen habe, schrieb sich den Namen des Jungen in ein kleines Notizbuch und sagte, als er weiterritt, zu seinem Stab: »Der Junge da wird's zu was bringen. Ein Volk, das solche Jungen hervorbringt, ist unbesiegbar.«

Friedliche Indianer, die er, als er nach einem alten Fort unterwegs auf einem Esel durch die Wüste von Neu-Mexiko ritt, freundlich gegrüßt hatte ... diese Indianer verfolgten ihn nun in voller Karriere, wollten ihn skalpieren, spornten ihre schaumbedeckten Rosse und stießen ein wildes Schlachtgeheul aus; durch die verdutzten Dörfer der Rothäute ging die Jagd, bis er bei zwei Cowboys, die urplötzlich auftauchten, Schutz und Beistand fand.

Jener Dieb, der in tiefster Nacht in New Orleans in sein Zimmer eingedrungen war und seine Kleider gestohlen hatte ... mit diesem Dieb kämpfte er nun, ringend wälzten sie sich am Boden, und dann verfolgte er ihn im Nachthemd siebzehn (nicht mehr fünf!) Straßenblöcke entlang, die Canal Street hinunter.

Allwöchentlich ging er ein paarmal ins Kino und nahm Eugen mit. Er saß vornübergebeugt, völlig absorbiert da, und stets sah er sich das ganze Programm zweimal an. Um halb elf oder elf Uhr traten sie auf das kalte, hallende Straßenpflaster heraus, in eine gleichsam kahlgefrorne Welt, in die tote Stadt der geschlossnen Läden, der leblosen Schaufensterauslagen, der wächsernen Modelle, die durch die Scheiben der Hut- und Kleiderläden heiter in die frostige Stille lächelten.

Der Springbrunnen auf dem Stadtplatz spielte zur niedrigsten Strahlhöhe. Träge plätscherte das kalte Wasser ins eisberingte Becken. Ach, im Sommer, da spielt die Fontäne hoch, eine blaue Sprühfahne weht übern Platz! Jetzt haben sie sie heruntergestellt – ja, ja, mit dem Brünnchen am eignen Leib geht's ja nicht anders. Kein Wind blies.

Die Augen auf den asphaltnen Bürgersteig gerichtet, schritt Gant aus. Er murmelte vor sich hin, komponierte eine Inhaltsangabe des Films. Der kalte Stahl neuer Nähmaschinen glitzerte durch die Schaufensterscheiben von Singers Nähmaschinengeschäft. Der Singerbau in New York ist das höchste Haus der Welt. Das steppende Geräusch von Elizas Nähmaschine. Eh Du Dich versiehst, hast Du die Nadel durch den Fingernagel. Vor Schmerz zog Gant die Luft durch die Zähne.

Sie gingen am Sluder-Building an der Ecke des Stadtplatzes vorbei. Fagg Sluder kriegt siebenhundert Dollar im Monat Miete dafür. »TRINKT COCA-COLA« sagte ein Plakat neben einem Schaufenster im Erdgeschoß. Manche behaupten, daß Candler die Formel von einem alten Weib aus dem Gebirg gestohlen hat. Nun hat er fünfzig Millionen. In der großen Drogerie, bei Woods, ist das Gesöff übrigens besser. Gant trank neuerdings Coca-Cola gern; vier oder fünf Glas täglich.

Der David Stern hatte seine alte Holzbude hier an der Ecke, zwanzig Jahr' lang, dann kaufte Fagg Sluder das Grundstück. Früher hat es zu Pastons Gut gehört. Ich hätt's für ein paar Heller haben können; dann schwämm' ich jetzt im Geld. David Stern zog dann in die North Main Street. Stinkt jetzt nach Geld, der Jud. Vermögen in Wiener Würstchen gemacht. Dreizehn Kinder. Sie kriegt alle Jahr eins. Nun ist sie so breit, wie sie lang ist. Werden alle fett, diese Judenweiber. Die Kinder arbeiten alle. Zahlen den Alten ihren Unterhalt. Haushaltungsbeitrag. Meine nicht! Da kannst Du Dich drauf verlassen! Da sieht man, wieso die Juden reich werden.

Dieser reine Blick! dachte Eugen. Ach, dieser reine Blick, den sie alle haben. Am Schluß, wenn er sie küßt, die langen Wimpern über den feuchten Augen. Die süßen, wollustbebenden Lippen. Wenn er sie an sich reißt, wenn er sich über ihren hingebungsvollen Leib beugt und hungrige Küsse auf ihren Mund küßt. Der Fremde, ja, der Fremde.

Eugen dachte an den Fremden. Stahlgraue Augen. Beherrschtes Gesicht. Eine Achtelsekunde schneller schußfertig mit den Pistolen als sonst jemand in Wild-West. Mit beiden Pistolen! Die Linke so sicher wie die Rechte! Er klatschte sich auf die Schenkel und schoß mit dem mörderisch ausgestreckten Zeigefinger Mülleimer und Laternenpfähle um.

Kam da ein Frühlingstag mit vieler Blüte. Und dann Dunkelheit. Das Bild einer zu Boden getrampelten Lilie. Das bedeutete, daß er sie verführt hat. Das ist Kunst! Er hat ihr ein Kind gemacht. Jetzt darfst Du mich nicht verlassen. Warum? Ja weil –. Scheu schlug sie die Augen nieder, sie errötete. Er starrte sie fragend an. Dann entdeckte sein forschender Blick (o gut so!) das Babykleidchen, an dem sie genäht hatte. Es tagte. Wirklich, Grace? Errötend, halb lachend, halb seufzend fiel sie ihm um den Hals.

Die Geschichte von dem kleinen Tanzmädchen. Jim Faro, der Falschspieler. Gefährlich lächelnd. Unzüchtig. Die lange, nasse Zigarre im Mundwinkel. Er mischte die Karten, sah sich um. Der Geierblick. Mord im Herzen und drei falsche Asse im Ärmelaufschlag. Aber den kalten, stahlgrauen Augen des Fremden entgeht nichts. Sein Colt-Revolver bellte eine Sechstelsekunde früher als die Pistole des Falschspielers. Jim Faro hustete und glitt langsam vom Stuhl. Erledigt. Und der Sheriff rief aus: »Bei Gott, Fremder, ich wußte nicht, daß der Mann lebt, der schneller mit dem Schießprügel spricht als Jim Faro. Wie heißt Er?« – »In der Familienbibel zu Haus, Partner«, sagte der Fremde, »steht Eugen Gant. Aber hierzuland nennen mich die Leute den Dixie Ghost.« – Den Leuten verschlug es den Atem. »Bei Gott!« wisperten sie, »er ist der Dixie Ghost!«

»Wie kann ich Ihm danken?« rief das Mädchen. »Er hat mich von einem Schicksal errettet, das schlimmer als der Tod ist!«

Und ER, der Dixie Ghost, der dem Tod so oft ohne mit der Wimper zu zucken ins Auge gesehen hatte, konnte nun einem Etwas, das ihn aus den großen, braunen Augen ansah, nicht mit dem Blick begegnen. Er nahm den Sombrero ab und drehte ihn verlegen in der Hand.

»Nicht der Rede wert, Madam«, sagte er verlegen. »Jederzeit froh, einer Dame behilflich gewesen zu sein.«

Mittlerweile hatten die beiden Barkellner ein Tischtuch auf den toten Jim Faro gedeckt, die Leiche ins Hinterzimmer geschleppt und waren auf ihre Plätze hinterm Schanktisch zurückgekehrt. Die Gäste standen in kleinen erregten Gruppen umher. Im Nu saß der Klavierspieler an dem alten Klapperkasten und spielte 'nen Walzer.

»Tanzt Er mal mit mir, Mister Dixie Ghost?« Zwei weiße Zahnreihen blitzten, zwei Grübchen spielten in lächelnden Wangen.

Im Wild-West jener Tage waren die Leidenschaften primitiv, jäh kam die Rache, schnell ging das Leben wieder seinen gewohnten Gang.

Seine Gedanken drehten sich ums Geheimnis der Liebe. Rein, aber leidenschaftlich. Der Augenschein spricht gegen sie, das ist wahr. Der stinkende Atem der Verleumdung ... Sie arbeitete als Tanzmädchen in diesem verrufnen Lokal. Aber ihr Herz war rein. Was könnte man sonst auf der Welt gegen sie sagen. Er hielt Totschlag für ein sauberes, angenehmes Geschäft. Fröhlich, mit Kinderaugen, betrachtete er seine toten Feinde. Männer im Film sterben eines heftigen, aber reinlichen Todes. Päng! Päng! Lebt wohl, Freunde, mit mir ist's aus! Ein sauberes, kleines Loch durch den Kopf oder das Herz. Kein Blut. Er war unschuldig geblieben. Ob vielleicht doch die Eingeweide austreten, das Hirn herumspritzt? Kinnschuß, und das Gesicht sieht wie ein Klumpen Johannisbeergelee aus ...

Sie bogen in die lange Academy Street ein. Im Hirn brannten ihm Ketten von Bildern, scharf wie Gemmen, wandelbar wie Chamäleons. Sein Leben war der Schatten eines Schattens, ein Spielen in einem Spiel. Er wurde der Star, der den Helden spielt. Der Lord der Lichtspiele, der Liebhaber der schönsten Kinokönigin. Er war der Dixie Ghost und war der Mann, der den Dixie Ghost spielte.

Er war alle die Helden, die er bewunderte, und an Schönheit, Adel und echtem Mannestum übertraf er die verächtlichen Gesellen, die immer siegten und ewig von schönen Frauen geliebt wurden. Er selber war erkoren und ward geliebt von einem Schwärm weltberühmter Schönheiten – von vampirischen Weibsteufeln sowohl wie von reinen, süßen Engeln –, die sich, die schweren Blondinen voran, um seine Gunst bewarben und teilweise ihn sogar mit moralisch zweideutigen Schlichen und Listen zu gewinnen trachteten. Aus unaufhörlichen Großaufnahmen sahen ihre Augen ihn an. Er feierte Feste an ihren dargebotnen Lippen. Und wenn der Konflikt vorüber, der Totschlag geheiligt, die Tugend gekrönt war, dann schritt er mit seiner Sirene in den willkommnen Glanz einer ständig untergehenden Sonne.

Er verrenkte den Hals und sah Gant von der Seite an. Sie gingen an einem neugebauten Lichtspielpalast vorüber. Das Haus war verdunkelt, die Vorstellung aus. Gant sah nach der Uhr. Elf Uhr zwölf Minuten. Gegenüber der Baptistenkirche, vor dem Geschäft des Bestatters Gorham, fuhr ein Leichenwagen vor. Das matte Licht einer Ampel schien durch die Farne. Wer mag da wohl gestorben sein? dachte Gant. Die schwerkranke, achtzigjährige Miss Annie Patton? Oder irgendein spitznäsiges, lungensüchtiges Jüdchen aus New York? Einer muß immer dran glauben. Die letzte, schwere Stunde. Ach Gott!

An der Baptistenkirche bogen sie in die Spring Street ein. Wirklich, wie ausgestorben, diese Stadt, dachte Eugen. Wenn doch mal ein Zauberer mit einem Fingerschnick das ganze Leben auf der Welt anhalten würde, einen Nu lang, der hundert Jahre dauert!? Schlafverstrickt alle Menschen, lauter Dornröschen! Wenn Du aufwachst / weck mich früh, ach / weck mich früh / oh Mutter mein!

Er versuchte, sich Leben und Bewegung hinter den starren Häusermauern vorzustellen. Es ging nicht, Ein Haus verrät nichts; drinnen kann gemordet werden, und das Gesicht des Hauses bleibt still. Er dachte, Troja müsse so still sein wie diese Straßen, seit dem Tage, an dem Hektor fiel. Aber Troja ward ja verbrannt ... Oh, alte Städte finden, nicht als Ruinen, sondern ganz so, wie sie damals waren ... dieser Gedanke beseligte ihn. Atlantis, die Ville d'Ys, alte, ins Meer versunkne Städte. Große, leere Straßen, unverschüttete, in denen das einsame Echo seiner Tritte hallte; weite Arkaden, die er durchschritt; das Atrium, in das er eindrang; der Klang seiner Schuhe auf den Fliesen des Tempels.

Oder – so phantasierte er wollüstig – mit einer Gruppe schöner Frauen als einziger am Leben bleiben in einer Stadt, deren übrige Bevölkerung vor einer Seuche, einem Erdbeben, einem Vulkanausbruch oder irgend sonst einer Gefahr, die ihn nicht betraf, geflüchtet war ... Er rollte die Zunge im Mund, so schmeckte ihm diese Vorstellung ... sybaritisch bummelte er durch die Feinkostläden und labte sich an leckeren Dingen: kleine Fische aus Frankreich und Sardinien importiert, Kaviar aus Rußland, schwarzen Räucherschinken aus England, reife Oliven, Pfirsiche in Branntwein, feines Likörkonfekt. Er sah sich in die Keller hinuntersteigen, schweren Burgunder zechen, erdgekühlten Flaschen Pol Roger an der Wand die vergoldeten Hälse brechen, seinen Mittagsdurst am Spund eines großen Fasses Münchner Dunkles stillen. Wenn seine Wäsche angeschmutzt wäre, dann würde er sich mit neuem seidnem Unterzeug und den feinsten Hemden bedienen; jeden Tag würde er einen andern Hut aufsetzen und einen neuen Anzug anziehen, so oft es ihm paßte.

Und jeden Tag würde er in einem andern Haus wohnen, jede Nacht in einem andern Bett schlafen; schließlich würde er sich die luxuriöseste Wohnstatt zum Daueraufenthalt erkiesen und dort die reichsten Schätze aus allen Bibliotheken der Stadt zusammentragen. Und zu guter Letzt: wenn er eine der Frauen begehrte, die mit ihm in der Stadt geblieben waren und deren ganzes Denken und Trachten sich nun um seine Person drehte, dann würde er sie zu sich befehlen, indem er die Nummer, die er ihr verliehen hatte, in Glockenschlägen vom Amtsgerichtsturm verkündigte.

Er verlangte nach opulenter Einsamkeit. Seine dunklen Visionen entzündeten sich an Königreichen auf dem Meeresgrund, an windumknatterten Burgzinnen, an Elfenländern tief im Herzen der Erde. Er tappte und tastete nach der Märchenwelt, zu der es keine Eingangstür gibt, die sich unter irgendeinem Stein, einem Halm auftut. Wo kein Vogel singt.

Ein wenig praktischer erträumte er große, unterirdische Hausungen für sich, tiefe Berggrotten. Säle im braunen Erdreich, in denen mit bienenhaftem Fleiß aller Luxus zusammengetragen war ... Durch kühle, versteckte Zisternen würde Luft kommen; von einem Auslug in der Bergflanke würde er auf eine gewundne Landstraße und auf Reisige, die nach ihm fahndeten, ausspähen; er würde ihr Fußgetrappel über sich hören. Aus unterirdischen Teichen würde er fette Fische fangen; sein mächtiger Keller würde große Fässer voll mit altem Wein halten; er würde die ganze Welt ihrer Schätze, einschließlich der schönsten Weiber, berauben können und nie, nie erwischt werden.

Salomos Goldminen. Sie. Proserpina. Ali Baba. Orpheus und Eurydike. Nackt kam ich aus meiner Mutter Schoß. Nackt will ich zurückkehren. Der Mutterbauch der Erde umschließe mich! Nackt, ein tapfrer, kleiner Kerl von einem Mann, von der großen, braunen Wamme umschlossen.

Sie kamen in die Nähe von Elizas Haus. Eugen bemerkte plötzlich, daß sie sehr viel schneller gingen. Er mußte fast traben, um mit Gant, der linkisch schiebend neben ihm ging, Schritt zu halten.

Gant stöhnte leis, mit langgezognem, bebendem Atem. Er hielt eine Hand auf die schmerzende Stelle gekrampft. Eugen brach in ein idiotisches Lachen aus. Gant sah ihn gequält und vorwurfsvoll an.

»Au-u-u! Barmherziger Gott!« winselte er. »Das tut weh.«

Unvermittelt spürte Eugen echtes Mitleid mit ihm. Zum erstenmal sah er, daß der große Gant alt geworden war. Das hagere Gesicht war vergilbt und eingefallen. Die dünnen Lippen waren schlaff. Die Chemie des Verfalls hatte ihre Spuren hinterlassen.

Nein, hier gab es kein Zurück mehr. Eugen sah ein, daß Gant langsam dahinsiechte. Die Widerstandskraft war gebrochen. Der große Rahmen war wackelig und splitterte, wie ein an Land verschlagnes Schiff. Gant war krank. Alt.

Er litt an einer Krankheit, die bei Männern, die achtlos ihren Lüsten gefrönt haben, im Alter sehr häufig auftritt: Vergrößerung der prostatischen Drüse. Diese Krankheit ist nur ganz selten tödlich; sie gehört zu den Geißeln des Alters; sie ist häßlich und unbequem. Im allgemeinen wird sie durch chirurgische Eingriffe erfolgreich behandelt. Die Operation ist nicht allzu gefährlich. Aber Gant hatte Angst vor dem Messer. Allen, die ihm vom Messer abrieten, lieh er ein williges Ohr.

Er war ein unphilosophischer Mensch. Er hatte keine Distanz zum Leben. Er konnte nicht gleichsam unbeteiligt das Absterben der Sinne, das Abflauen der Begierden, den Eintritt der körperlichen Impotenz mitansehen. Hungrig und geil, mit heißem Atem und gierig hervorquellenden Augen gab er jeder Verlockung nach. Die angenehme Ironie, mit der ein philosophischer Geist jener Torheiten spottet, die er nicht länger zu genießen imstand ist, war ihm nicht gegeben.

Resignation – das kannte er nicht In ihm brannte die brennendste aller Lüste, die Wollust der Erinnerung, jener heißhungrige Wille, der das Gestorbne gewaltsam wieder zu erwecken versucht. Es war so weit gekommen, daß er gierig über die Zeitung herfiel, bloß um nachzusehen, wer gestorben wäre. Wenn Freunde oder Bekannte das Zeitliche gesegnet hatten, dann schüttelte er trübselig-heuchlerisch den Kopf und sagte: »Einer nach dem andern kratzt ab, o Gott, der nächste werde ich sein.« Natürlich glaubte er das nicht. Der Tod wartete immer noch auf die andern, nicht auf ihn.

Er alterte rapide. Vor ihren Augen fing er an, eines langsamen Todes zu sterben, unfähig und hinfällig zu werden. Es war entsetzlich, weil Unmäßigkeit im Fressen und Saufen, wüste Ausschweifungen so sehr zu seinem Leben gehört hatten. Es war unglaubhaft und furchtbar zugleich, diesen Riesenkörper hinsiechen zu sehen. Sie fingen an, den Fortschritt der Krankheit mit jenem Horror zu verfolgen, mit dem man die Bewegungen eines Hundes, der sich ein Bein gebrochen hat, verfolgt. Dieser Horror ist größer als das Entsetzen, das einen packt, wenn man einen Menschen mit gebrochnen Beinen sieht. Ein Mensch kann letzten Endes ohne Beine auskommen. Ein Hund steckt ganz in seiner Haut.

Ein seniler Eigensinn mäßigte nun seinen wilden Bombast. Er fluchte und winselte abwechselnd. Mitten in der Nacht stand er auf, gepeinigt und erschreckt, und lästerte einen Augenblick seinen Gott, nur um ihn im nächsten Augenblick jammernd um Vergebung anzuflehen. Hinter all dem Getu stand der tatsächliche, unbestreitbare körperliche Schmerz.

»Au-u-u! Ich verfluche den Tag, an dem das grimmige, blutdürstige Ungeheuer da, droben mich ins Leben geschickt hat. A-u-u! Au-u-u! O Jesus, vergib mir! Erbarm Dich, mein Gott! Ich weiß, daß ich schlecht war. Hab Mitleid mit mir! Au-u-u! Gib mir noch eine Gelegenheit zum Leben.«

Eugen kochte oft vor Zorn über dieses Getue. Ihn ärgerte, daß Gant, der seinen Kuchen gegessen hatte, sich nun über Bauchweh beklagte und obendrein noch mehr Kuchen haben wollte. Er erkannte nicht ohne Bitterkeit, daß sein Vater alles, was ihm das Leben je geboten hatte, gierig verschlungen habe, daß der Alte seinen Lüsten ausgiebiger gefrönt habe und in seinen Forderungen an andere rücksichtsloser gewesen sei als die meisten Männer. Er fand, diese wilden Anschuldigungen und das feige Geläbber vor einem Gott, um den sich Gant und Eliza, wenn es ihnen gut ging, nie kümmerten, erbärmlich und gemein. Die ständige Beschäftigung der beiden mit dem Tod andrer Leute ... ihre Art, einen Akt Gottes im Sterben einer achtzigjährigen Schwerkranken, die ihnen bekannt war, zu erkennen, während Feuersbrünste, Hungersnot und Gemetzel in einer etwas entlegeneren Ecke der Erde sie nichts anging, ... ihren Aberglauben an alles, was lokal und unwichtig war ... ihre dumpfe Überzeugung, daß sie selber vor den göttlichen Gesetzen und der natürlichen Ordnung immun seien ... – das alles erfüllte ihn mit heller Wut.

 

Elizas Gesundheit war glänzend. Sie war Mitte der Fünfzig; die Anfälligkeiten der mittleren Lebensjahre hatte sie siegreich überwunden. Sie war stärker, schwerer, widerstandsfähiger als je. In ihrem Betrieb in Dixieland bewältigte sie täglich ein Pensum an Plackerei, das einen starken Neger umgelegt hätte. Sie kam fast nie vor zwei Uhr nachts ins Bett und war jeden Morgen vor sieben wieder auf den Beinen.

Höchst ungern gestand sie vor anderen ihre Gesundheit ein. Die geringste Unpäßlichkeit bauschte sie auf. Gants Klagen begegnete sie stets mit einem entsprechenden Leiden ihrerseits. Wenn Helene ihr vorwarf, daß sie den Kranken vernachlässige, oder wenn die Bemühungen der Tochter um Gant ihre Eifersucht anstachelten, dann lächelte sie ein weißes, bitter gekränktes Lächeln und erging sich in dunklen Anspielungen:

»Es kann sehr wohl so kommen, daß er nicht als erster von uns zweien die Augen auf immer zumacht ... mir hat da neulich so was geschwant, kann ich Dir nur sagen, ganz unheimlich war das ... wirklich, nimm Dich in acht, so sehr lange wird es wohl nicht mehr dauern mit mir ...« Ihre Augen schwammen vor Selbstmitleid, es zuckte um ihren verkrampften Mund, sie weinte über ihr eignes Leichenbegängnis.

»Himmeldonnerwetter!« platzte Helene wütend heraus. »Dir fehlt nichts! Aber Papa ist ein schwerkranker Mann. Siehst Du denn das nicht?«

Sie sah es nicht.

»I wo!« sagte sie, »das ist gar nicht so schlimm. McGuire sagte mir, daß unter drei Männern über fünfzig zwei dieses Leiden haben.«

Gants Körper kochte Gift und Galle über Elizas zunehmende Gesundheit. Es machte ihn rasend, sie so fest und firm dastehen zu sehen. Er gab seiner Hinfälligkeit in allen Stücken nach, war tyrannisch in seinem Bedürfnis nach Aufwartung, wurde eifersüchtig auf jeden Dienst, der nicht ihm erwiesen wurde. Elizas Gleichgültigkeit seinem Leiden gegenüber erweckte einen krampfhaften Hunger nach Mitleid und Tränen in ihm. Manchmal schrie er wie ein Irrer vor aufgespeicherter Wut; manchmal besoff er sich bis zur Bewußtlosigkeit. Oft auch versuchte er sie zu erschrecken, indem er sich totstellte. Einmal spielte er den toten Mann so erfolgreich, daß Ben tatsächlich getäuscht wurde. Er beugte sich über den Körper, der starr in der Diele lag, und erbleichte.

»Ich kann seinen Herzschlag nicht mehr hören, Mama«, sagte Ben mit nervös zuckendem Mund.

»Aha!« sagte sie. Und nun wählte sie ihre Worte mit absichtlicher Umständlichkeit. »Der Krug ist also einmal zu oft zum Brunnen gegangen. Ich wußte, daß es früher oder später so kommen mußte.«

Aus dem Schlitz seines nicht ganz geschlossenen Lids schoß er ihr einen mörderischen Blick zu. Bedachtsam, die Hände vor dem Bauch gefaltet, musterte sie ihn. Ihr ruhiges, urteilsfähiges Auge bemerkte, wie sein verstohlener Atem leise ging.

»Nimm ihm das Geld ab, Sohn, und alle Papiere, die er bei sich trägt«, befahl sie. »Ich werde den Leichenbestatter anrufen.«

Mit einem Wutgeheul erwachte der Tote.

»Ich dacht' mit schon, daß ich Dich ins Leben zurückbringen könnte«, bemerkte sie behäbig.

Gant stand auf.

»Du Höllenhündin«, gellte er. »Mein Herzblut würdest Du trinken, Du mitleidloses, unbarmherziges, blutgieriges Ungeheuer!«

»Eines Tages«, erklärte Eliza, »wirst Du einmal zu oft Haltet-den-Dieb geschrien haben.«

Dreimal wöchentlich ging Gant zu Cardiac in Behandlung. Der dürre Doktor war alt geworden. Hinter der trocknen Zurückhaltung, hinter der forschen Autorität seiner Manieren offenbarte sich ein lüsterner, zotiger Greis. Er hatte ein angenehmes Vermögen und scherte sich nicht um seine immer kleiner werdende Praxis. Aber er war noch immer ein glänzender Bakteriologe und verbrachte Stunden über blühenden Bazillenkulturen. Verseuchte Prostituierte suchten seine zuverlässige Behandlung auf.

Er riet Gant vom Seziermesser ab, da man das Leiden mittels Katheterbehandlung genügsam lindern könne. Die beiden wurden dicke Freunde. Cardiac widmete Gant ganze Vormittage. Wenn der Masseur seine Arbeit beendet hatte, lag der Patient wollüstig auf dem Massiertisch, und der Arzt unterhielt ihn stundenlang mit den vertraulichen Berufsgeheimnissen leichtlebiger Weiber, erzählte ihm obszöne Geschichten, zeigte ihm seine reichhaltige Sammlung pseudo-wissenschaftlicher Pornographien.


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