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XVII

Eugen verbrachte seine nächsten vier Lebensjahre in Leonards Schule. Er kannte die entsetzliche Öde in Dixieland ..., er sah den dunklen Schmerzensgang, den Gant mit seinen großen Gliedern bergab ging ..., er ermaß bereits, daß er in seinem Eigenleben auf ewig eingesperrt sei ..., und so erschienen ihm diese vier Jahre wie ein Aufenthalt im Hain, wo goldne Äpfel reifen.

Was Leonard selbst ihm gab, war sehr wenig: – ein trockner Kriegszug durch die Riesenwüsten lateinischer Prosa; – zuerst eine ruppige, steifgerittne Attacke auf die Grammatik, die ihn unnötigerweise furchtsam machte und bestürzte, ihn auf Jahre hinaus in absurde Vorurteile gegen die Gesetze der Sprachform trieb und ihm eine ungesunde Abneigung gegen die Syntax eingab; – dann ein Jahr lang die karge, knappe Genauigkeit des Cäsar, die großartige Struktur und Schärfe seines Stils, die Sicherheit seines Satzbaus, ein Studium, das das dumpfe Einteilen in Tagespensen, das mickrige Zerlegen der Sätze in Bestandteile, das rohe Klischee pedantischer Übersetzerei, tödlich machte. Die herrlich-dunkle Lebendigkeit des »Gallischen Kriegs«, die ein großer Lehrer mit ein paar Zügen in den Bericht des großen Realisten hätte bringen können ..., sie fehlte. Statt dessen gab es methodische Routine und Gedächtnisarbeit: – Cogitata. Neutrum Pluralis des Partizips als Substantiv verwandt. Quo statt Ut zur Anzeigung der Absicht gebraucht, wenn Komparativ folgt. März letzten Jahres fehlten drei Tage am Pensum. Achtzig Zeilen für morgen durchgehn.

Sie saßen ein mühseliges Zeitalter über diesem langweiligen Hund Cicero. De Senectute. De Amicitia. Virgil wurde umgangen, weil John Dorsey Leonard ein schlechter Seemann war und sich in virgilanischer Navigation nicht auskannte. Er haßte Forschungsfahrten, mißtraute dem Reisen. Und die großen Namen des Ovid, des Herrn der Bodengeister, des bacchischen Flötenspielers der »Amores« und des Lucretius, der vom Rhythmus der Gezeiten klingt, auch sie wurden umgangen. Nox est perpetua.

»Höh!« kam es langgezogen aus Leonards Kehle. Er lachte leer. Vom Kinn bis zu den Knien war er mit Kreide beschmiert. Stefan Reinhart, genannt »Pap«, beugte sich vorsichtig vor und stieß Eugen mit dem spitzen Bleistift in die Weichen. Eugen knurrte; es tat weh.

»Ihr wollt wissen warum?« sagte Mister Leonard und rieb sich das Kinn. »Es ist eben ein ganz andres Latein.«

»Wieso anders?« fragte Tom Davies hartnäckig. »Schwerer als Cicero?«

»Na«, entschied Mister Leonard unschlüssig, »eben anders. Jedenfalls noch ein bißchen zu hoch für euch.«

– est perpetua. Una dormienda. Luna dies et nox.

»Sind lateinische Gedichte schwer zu lesen?« erkundigte sich Eugen.

»Na ...« Mister Leonard schüttelte den Kopf. »Leicht jedenfalls nicht Horaz zum Beispiel ...«, fing er vorsichtig an.

»Er hat Oden und Epoden geschrieben«, sagte Tom Davies. »Was ist eigentlich 'ne Epode, Mister Leonard?«

»Wieso? Eine Epode ist eine Gedichtform«, verkündete Mister Leonard nachdenklich.

»Ei, der Teufel!« flüsterte Pap Reinhart rauh in Eugens Ohr. »Das wußte ich, ehe mein Alter Schulgeld berappte.«

Leonard lächelte üppig, rieb sich das Kinn und machte es noch kreidiger. Er wollte zur Lektion des Tages zurückkehren.

»Also hier waren wir stehen geblieben.«

»Bitte, wer war Catull?« begehrte Eugen heftig zu wissen. Wie ein Speer sauste der Name durch sein Hirn.

»Ei, ein Dichter!« antwortete Leonard, gedankenlos, schnell, aufgeschreckt. Schon tat ihm die Auskunft leid.

»Was für Gedichte hat er denn geschrieben?« fragte Eugen.

Keine Antwort.

»Ähnlich wie Horaz?«

»Eigentlich nicht«, sagte Leonard nachdenklich. »Er schrieb anders als Horaz.«

»Wie denn? Worüber denn?« wollte Tom Davies wissen.

»Wie Deine Großmutter, wenn sie Bauchgrimmen hat«, flüsterte Pap Reinhart.

»Er schrieb über Dinge, die damals von allgemeinem Interesse waren«, sagte Mister Leonard leichthin.

»Über Liebschaften, nicht wahr?« sagte Eugen mit bebender Stimme.

Tom Davies sah ihn erstaunt an. »Geh fort!« rief er und fing an zu lachen.

»Ja, er schrieb Liebesgedichte«, behauptete Eugen leidenschaftlich. »Er war in eine Dame namens Lesbia verliebt. Frag Mister Leonard, wenn Du's mir nicht glaubst.«

Sie sahen den Lehrer an.

»Na – ja – nein – das weiß ich selber nicht so genau«, sagte der verwirrte Mister Leonard abweisend. »Woher weißt Du denn das, Eugen?«

»Ich hab's in einem Buch gelesen«, sagte Eugen. Er fragte sich selbst, wo. Wie ein sausender Speer der Name.

– dessen Zunge wie eine Schlangenzunge gespalten war, dessen Sprache wie eine Lanze der Leidenschaft und Ekstase flog. –

Odi et amo; quare id faciam ...

»Nicht alle seine Gedichte«, sagte Mister Leonard, »nur einige.«

... fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior.

»Wer war sie denn?« fragte Tom Davies.

»Das war damals so Brauch«, sagte Mister Leonard nachlässig. »Wie mit Dante und Beatrice. Es war die Form, in der Dichter ihre Komplimente abstatteten.«

Die Schlange flüsterte. Etwas Wildes schoß Eugen ins Blut. Die Gewänder des Gehorsams, der Untertänigkeit, der schicklichen Achtung vor dem Lehrer fielen von ihm ab.

»Sie war die Frau eines anderen«, behauptete er laut.

Entsetzliche Stille.

»Na! Aber schau her! Wer hat Dir denn das gesagt, Junge?« Mister Leonard war bestürzt. Er betrachtete diese Heirat als eine wilde, möglicherweise gefährliche Mythe. »Wer hat Dir das gesagt, Junge?!«

»Ei, was war sie denn wirklich?« fragte Tom Davies spitz.

»Nein, das stimmt nicht ganz, daß sie eines anderen Frau war«, brummte Mister Leonard.

»Sie war ein schlechtes Frauenzimmer«, sagte Eugen. Und dann fügte er verzweifelt hinzu: »Sie war 'ne kleine Schneppe.«

Pap Reinhart zog scharf den Atem ein.

»Was?! Was?! Was?!« rief Mister Leonard schrill als er wieder Worte fand. Er kochte vor Wut. Er sprang auf. »Was hast Du da gesagt, Eugen?«

Aber dann dachte er an Margaret. Wie gelähmt sah er dem Jungen in das bleiche, verstörte Gesicht. Das war zuweit gegangen. Er setzte sich wieder. Er war erschüttert.

– dessen unzüchtigster Schrei noch von Leidenschaft befeuert war, dessen musikalischster Vers aus dem Schmutz der Gosse blüht. –

Nulla potest mulier tantum se dicerse amatam. Vere, quantum a me Lesbia amata mea est.

»Du solltest vorsichtiger mit Deinen Reden sein, Eugen«, warnte Mister Leonard freundschaftlich.

»Aber vorwärts jetzt«, rief er plötzlich aus und nahm sein Buch. »So kommen wir mit der Arbeit nicht weiter. Also los!« Er spuckte in seine intellektuellen Hände. »Ich weiß, was Ihr vorhabt, Ihr Racker! Ihr möchtet die ganze Lehrstunde mit dieser Fragerei vertrödeln.«

Tom Davies lachte laut.

»Also los, Tom!« befahl Leonard scharf. »Du fängst an. Seite 43. Sechster Absatz. Zeile 15.«

In diesem Augenblick schellte es, und Tom Davies' Lachen schallte durchs Klassenzimmer.

Nichtsdestoweniger: auf den begangnen Pfaden des Lehrbrauchs gab John Dorsey Leonard verläßlichen Unterricht. Es wäre ihm vielleicht schwer gefallen, eine Seite Latein, Vers oder Prosa, mit der er nicht seit Jahren vertraut war, zu zergliedern. Im Griechischen haperte es noch mehr; aber immerhin hätte er einen zweiten Aorist oder einen Optativ, der ihm schon einmal begegnet war, im Dunkeln wiedererkannt. Zum Abschluß gab es nämlich zwei Jahre Griechisch; sie lasen die Anabasis.

»Wozu lernen wir das Zeug eigentlich?« bemerkte der diskussionslustige Tom Davies.

Hier stand Mister Leonard mit sicheren Füßen auf der dauernden, wohlgegründeten Erde. Den Wert der Klassiker kannte er.

»Es lehrt den Menschen, die höheren Dinge zu schätzen. Es legt den Grund zu einer liberalen Erziehung. Es trainiert den Verstand.«

»Und was nutzt ihm das, wenn's nachher ans Geldverdienen geht?« fragte Pap Reinhart. »Deshalb kann man doch nicht mehr Mais auf seinem Grundstück bauen!«

»Nanu! So sicher ist das nicht!« protestierte Mister Leonard lachend. »Ich glaube meinerseits, daß es dazu hilft.«

Der gutmütige, frühreife Pap sah ihn komisch an. Er hatte einen langen dürren Hals, auf dem er seinen Hahnenkopf merkwürdig drehen und wenden konnte ... Er saß voller argloser Späße, hatte eine barsche Stimme und kaute ständig Tabak, Sein Vater war ein wohlhabender Mann; er wohnte auf seiner großen Farm in einem Tal in der Nachbarschaft. In der Stadt besaß er eine Molkerei und einen Eisenhammer. Einfache Leute, die sich nicht dick taten, die Reinharts. Deutscher Abkunft.

»Leuchtet mir nicht ein, Mister Leonard«, sagte Pap Reinhart. »Soll man etwa mit den Farmarbeitern Latein reden?«

»Gibibus mirus Mistgablus«, sagte Tom Davies lachend. Mister Leonard lachte geistesabwesend mit; die Redensart stammte von ihm.

»Es trainiert den Verstand darauf, mit Problemen aller Art fertig zu werden«, erklärte er.

»Ihrer Meinung nach also«, stellte Tom Davies fest, »müßte ein Mann, der griechisch gelernt hat, einen besseren Klempner abgeben als einer, der es nicht kann.«

»Ja, durchaus«, sagte Mister Leonard und nickte entschieden mit dem Kopf. »Du weißt ja, ich glaube es ganz bestimmt.« Dann fiel er mit einem schlabberigen Kichern in das dröhnende Gelächter seiner Schüler ein.

Er stand hier mit festen Füßen auf hartgetretnem Grund. Die Schüler verlockten ihn zu langen Debatten, während er seinen Mittagsimbiß aß. Verführerisch, mit liebenswürdiger Vernunft und erschöpfender Genauigkeit, bewies er ihnen die Beziehungen zwischen Griechisch und dem Grünwarenhandel. Der große Wind aus Athen hatte ihn nie gestreift. Von der delikaten, sinnlichen Intelligenz der Hellenen, ihrer femininen Grazie, der konstruktiven Macht und Subtilität ihres Denkens, der Unstabilität ihres Charakters, von der Struktur, dem Maß und der Vollkommenheit ihrer Formen, davon sagte er nichts.

Auf einer amerikanischen Universität hatte er einen Blick auf die große Ausdrucksform der architektonischsten aller Sprachen erhascht. Er spürte die plastische Vollkommenheit eines Wortes wie γυναιχός, aber seine Meinungen rochen nach Kreide und Studierfunzel. Griechisch war gut, weil es alt, klassisch und akademisch war. Das Wesen war ihm fremd wie Lesbos. Er war einfach das Schallrohr einer Formel, deren Richtigkeit er für sicher hielt. Er hatte keinen echten Glauben.

Καί χατά γήν χαί χατά δάλατταν

Den Unterricht in Mathematik und Geschichte erteilte John Dorsey Leonards Schwester, Miss Amy. Sie war eine mächtige Person, 1,90 Meter groß, 160 Pfund schwer. Sie hatte dichtes, öliges, schwarzes Strähnenhaar und pechschwarze Augen, was ihrem Gesicht ein sehr sinnliches Aussehen verlieh. Ihre starken Unterarme waren mit leichten Daunen behaart. Sie war nicht fett, aber sehr einkorsettiert; die schweren Schultern und die mächtigen Arme zeichneten sich unter dem kühlen Weiß ihrer Blusen ab. Bei heißem Wetter schwitzte sie stark; unter den Achseln bildeten sich breite Schweißplacken an ihrer Bluse. Im Winter wärmte sie sich am Feuer. Sie hatte den aufregenden Duft von Kreide und den starken, guten Geruch eines gesunden Tiers. Eines Winterabends ging Eugen über die windbefegte Rückveranda und blickte in ihr Zimmer, als ihre kleine Nichte gerade zur Tür heraus kam. Miss Amy saß vor einem großen, flackernden Kohlenfeuer, das im offnen Kamin brannte. Sie hatte gerade gebadet und zog ihre Strümpfe an. Fasziniert starrte Eugen die von der Hitze geröteten Schultern und den großen, tierhaften, dampfenden Leib an.

Sie liebte Feuer und Wärme. Am liebsten saß sie, schläfrig und dennoch wach, am Ofen, die Beine beim Sitzen gespreizt, und saugte Hitze ein. Ihre Erdhaftigkeit war noch ausgesprochener, noch sinnlicher als die ihres Bruders. Wärme streichelte sie, regte sie langsam an. Träge, mit gleichgültiger Liebenswürdigkeit lächelte sie alle Jungen an. Niemals empfing sie Männerbesuch und war doch wie ein Teich durstig nach Lippen. Sie suchte keine Männer. Träge warm, katzenhaft lächelte sie alle Welt an.

Sie war eine gute Mathematiklehrerin. Ihr Zahlensinn war angeboren. Träge gab sie die Aufgabe, träge rechnete sie die Lösung vor und lächelte mit gutmütiger Geringschätzung. Hinter ihr stöhnte Durand Jarvis leidenschaftlich in Eugens Ohr, krümmte sich in erotischer Verzücktheit, krampfte sich an das Pult.

 

Die Schwester Sheba traf gegen Ende des zweiten Schuljahrs ein, begleitet von ihrem schwindsüchtigen Gatten, Mister Lattimer, einem wandelnden Leichnam mit Blutspuren an den Lippen, 73 Jahre alt. Die Leonards sagten, er wäre 49, die Krankheit habe ihn zum Greis gemacht. Lattimer war über zwei Meter groß, wächsern und ausgemergelt, mit langen, geraden Schnurrbartspitzen; er sah wie ein Mandarin aus. Er malte: Bilder in impressionistischen Farbklumpen: – Schafe auf struppiger Bergtrift; Fischerboote am Pier mit einem roten Wirrwarr von Backsteinhäusern im Hintergrund; die alte Stadt Gloucester; Seestücke mit merkwürdigen, vorspringenden Uferfelsen; Volkstypen vom Cape Cod; Seebären mit jener stillbrütenden Leere im Gesicht, die anzeigt, daß ein Mensch mit dem Meer vermählt ist.

Das brachte den Geruch von Salz und Tang, von Teer und trocknenden Fischen mit. Wie wohl das Meer in der Frühlingsmorgenfrühe aussieht? Die kalten Möwen schlafen auf dem Wind. Rosig aber der Himmel.

Die Schüler sahen den wächsernen Mandarin dreimal den Weg vorm Haus auf und ab spazieren. Es war Frühling; Südwind sang in den hohen Bäumen. Mister Lattimer schwankte an einem Stock, den er mit blauer, schwindsüchtiger Hand vor sich hinsetzte. Seine Augen waren blaßblau, wie die Augen eines Ertrunknen.

Er hatte zwei Kinder von Sheba: Mädchen, exotische, zarte Blüten, schwarz und milchweiß; seltsam und lieblich wie der Frühling selbst. Die Buben beschäftigten sich neugierig mit ihnen.

»Er taugt, scheint's, doch noch mehr, als er aussieht«, bemerkte Tom Davies. »Die Kleinen sind erst zwei und drei Jahre alt.«

»Er ist überhaupt nicht so alt, wie er aussieht«, behauptete Eugen. »Es kommt, weil er so krank ist. Er ist neunundvierzig.«

»Woher willst Du das wissen?« fragte Tom Davies.

»Miss Amy hat es mir gesagt«, gestand Eugen unschuldig.

Pap Reinhart verrenkte komisch den Kopf und schob den Kautabakpriem mit der Zungenspitze in die andere Backe. »Neuhundvierzig!« sagte er. »Du bist nicht bei Trost. Laß Dich mal auf Deinen Geisteszustand untersuchen, Junge. Der Mann ist so alt wie Gott.«

»Aber sie hat es doch gesägt!« bestand Eugen störrisch.

»Natürlich behauptet sie das«, erwiderte Pap Reinhart. »Glaubst Du, sie werden's Dir auf die Nase binden? Wo sie hier ihre Privatschule haben!«

»Junge, Junge, bist Du doof!« warf Jack Chandler ein, der sich bisher überhaupt nicht um die Sache bekümmert hatte.

»Hölle und Schwefel!« sagte Julius Arthur, »siehst Du denn nichts ein? Du bist ihr Liebling. Und sie wissen genau, daß Du alles für bare Münze nimmst, was sie Dir vorerzählen.«

Pap Reinhart sah Eugen forschend an und schüttelte den Kopf. »Hier ist eine Kur ausgeschlossen.« Die Mitschüler lachten über Eugens Gutgläubigkeit.

»Na, wenn er schon so steinalt ist«, fing Eugen wieder an, »dann sagt mir doch, warum die Madame Sheba ihn geheiratet hat.«

»Einfach weil sie keinen andern kriegen konnte«, entschied Pap Reinhart ungeduldig.

»Glaubt ihr, daß sie ihn zu ernähren hat?« fragte Tom Davies ungeduldig. Stillschweigend wunderten sie sich.

Eugen war bestürzt. Da sah er die zwei lieblichen Töchterchen wie Blütenblätter von den schweren Brüsten ihrer Mutter fallen, da sah er den wächsernen Kunstmaler seine letzten Schritte dem Tod entgegen wanken, da hörte er Shebas laute Stimme, wenn sie in saftiger Burleske ihre Meinungen zum besten gab ... und er stand vor einem unlöslichen Rätsel: der Tod hatte Leben gezeugt, aus der groben Erde waren Blüten entsprungen.

Sein Glaube war ein Ding für sich; er hatte mit seinen Überzeugungen nichts zu tun. Er hatte schmerzliche Enttäuschungen genug erlebt, um bittre Verdachte zu hegen und der Welt zu mißtrauen. Unwissend hatte er sich hier eine Mythologie aufgebaut, der er um so heftiger anhing, je klarer er sich über ihre Unwahrheit war. Bruchstückweise und unklar fing er an zu erkennen, daß Menschen – das heißt schöpferische Menschen – nicht für reale Wahrheiten leben, sondern die Tatbestände verfälschen. Manchmal war sein junges, unersättliches Hirn jeder Herrschaft entraten: ein gräßlicher Vögel hackte ihm mit dem Schnabel ins Herz, riß ihm mit den Fängen in den Eingeweiden. Und dieser Vogeldämon umflog ihn, stieß zu, hackte drein und zerriß ... dann flog er davon, kam wieder, siegreich und böse ... und das, was Eugen als Wunder erlebt hatte, war nackt, gemein und niedrig geworden.

Eugen sah ein, hoffnungsvoll, daß er dennoch nie umlernen könne. Immer blieb ja der Schimmer, das Gold. Seine Zunge war bitter, weil sein Herz so viel glaubte.

Sein wacher, mitleidloser Verstand lag auf der Lauer wie eine geringelte Schlange: sie bemerkte jede Gebärde, erfaßte jeden schnellen Blick über seinen Kopf hinweg, durchschaute das billige Gewebe jeder Täuschung. Aber Leute wie die Leonards existierten für ihn jenseits des menschlichen Irrens. Er hatte für Margaret ein Fenster seines Herzens aufgetan, und nun wandelten sie gemeinsam im heiligen Hain der Dichtung. Aber all seine dunklen Wünsche, die Sehnsucht nach schönen Gestalten und all die Misere seines Familienlebens verbarg er bange vor ihr. Er hatte Angst, sie könne davon hören. Verzweifelt fragte er sich oft, wieviele von seinen Mitschülern darum wußten. Alles was Margaret zu den gemeinen Tatsachen des Lebens hätte herabziehen können, schien ihm unwahr, war ihm entsetzlich wie ein Alp.

Daß sie beinah an Schwindsucht gestorben war, daß die laute und geschwätzige Sheba an einen brüchigen Greis verheiratet war, der mit ihr zwei Kinder gezeugt hatte und nun starb, daß die ganze Leonardsippe treulich zusammenhaltend ihre offenen Wunden geheimhielt und vor den scharfen Augen und den rasselnden Zungen der Schuljungen eine Scheidewand aus durchsichtigem Betrug und schalen Ausflüchten errichtete, das lähmte ihn, gab ihm ein Gefühl der Unwirklichkeit.

Eugen glaubte an den Ruhm und das Gold.

 

Er wohnte nun hauptsächlich in Dixieland. Seit sie ihn zu den Leonards geschickt hatte, fühlte er sich stärker mit Eliza verbünden. Gant, Helene und Lukas waren darüber aufgebracht, daß er die Privatschule besuchte. Die Geschwister grollten; es war Neid dabei. Die Mißgunst hatte ihren Stachel:

»Du hast ihn ganz verdorben, seit Du ihn auf die Privatschule geschickt hast.« Oder: »Er darf sich unmöglich die Finger schmutzig machen, nachdem er in so eine feine Schule geht.«

Eliza trieb ihn unermüdlich zur Arbeit an. Oft erwähnte sie, wie schwer es ihr bei ihrer Armut falle, das Schulgeld aufzubringen ... er müsse hinter der Arbeit her sein und ihr in seiner Freizeit helfen ... im Sommer solle er zum Bahnhof gehen und unter den ankommenden Touristen Kunden zusammentrommeln.

»Zum Donnerwetter, was ist denn los mit Dir?« spottete Lukas. »Schämst Du Dich etwa, ein bißchen ehrliche Arbeit zu scha-schaffen?«

Pension Dixieland! Drei Schritt vom Stadtplatz! Besitzerin: Mistress Eliza Gant! Hierher, meine Herrschaften! Jawoll, Herr Kap'tän, aller Komfort der Neuzeit, ganz wie in einem modernen Gefängnis. Und Kuchen und Biskuits im Haus gebacken, ganz wie's bei Muttern hätte sein sollen, aber nicht war!

Geschäftstüchtiger Bursche das!

Zum Schluß des ersten Schuljahrs sagte Eliza zu John Dorsey Leonard, daß sie das Schulgeld nicht länger zahlen könne. Er besprach sich mit Margaret, kam wieder und willigte ein, den Jungen um den halben Preis zu behalten.

»Er kann Ihnen helfen, neue Kundschaft zusammenzutrommeln«, sagte Eliza.

»Ja«, pflichtete Leonard bei, »das ist das Richtige.«

 

Ben hatte sich ein Paar neue Schuhe gekauft. Sie waren hellbraun. Er hatte sechs Dollar dafür bezahlt. Er kaufte stets gute Sachen. Aber diese Schuhe verbrannten ihm die Fußsohlen. Er kam heim, die Stirn wütend geballt, hupfte in sein Zimmer und zog die Schuhe aus.

»Gott verdammt noch einmal!« gellte er und schmiß die Schuhe an die Wand. Eliza erschien in der Tür.

»Du wirst es nie zu was bringen, Junge, wenn Du das Geld in dieser Weise zum Fenster hinauswirfst.« Sie schüttelte den Kopf und zog eine Schnute.

»Um Gottes willen!« fauchte er. »Nun hör Dir das an, bitte! Habe ich je Geld von Euch verlangt?« Er war wütend.

Sie nahm die Schuhe und gab sie Eugen.

»Es wäre schade um die teuren Schuhe«, sagte sie. »Probier sie mal, Junge.«

Eugen zwängte sie an. Seine Füße waren bereits größer als Bens. Er tat ein paar vorsichtige, schmerzliche Schritte.

»Na, gehn sie?« fragte Eliza.

»Vielleicht«, sagte er. »Sie sind sehr eng.«

Er liebte den guten Schnitt, das starkriechende, körnige Leder. Er hatte nie so gute Schuhe gehabt.

Ben kam in die Küche.

»Dummes Vieh!« sagte er zu Eugen. »Du hast ja Hufe wie ein Maulesel!« Stirnrunzelnd kniete er hin und tastete das gespannte Oberleder über den Zehen ab. Eugen zuckte zusammen vor Schmerz.

»Um Gottes willen, Mama«, schrie Ben. »Zwing dem Kleinen doch nicht diese Schuhe auf, sie sind zu eng. Ich will ihm ein Paar neue kaufen, wenn Du zu knauserig bist, das Geld dran zu hängen.«

»Ach was! Was soll denn mit diesen Schuhen los sein?« sagte Eliza. Sie fühlte mit den Fingern Eugens Fuß ab. »Alle neuen Schuhe drücken; sie müssen erst ausgetreten werden.«

Aber nach sechs Wochen mußte Eugen auf die Schuhe verzichten. Das harte Leder gab nicht nach; seine Füße schmerzten täglich mehr. Er hinkte herum, Schritt für Schritt, wie ein Gepeinigter, dem die Beine in Holzstöcke gepreßt sind. Seine Füße waren lahm und leblos, die Zehenballen wund. Eines Tages packte ihn Ben, warf ihn wütend zu Boden und zog ihm die Schuhe aus. Es dauerte Tage, bis Eugen wieder bequem gehen konnte. Die Zehen, die ihm von Kind auf gerade und lang gewachsen waren, waren verklumpt, die Knochen verkrüppelt, die Nägel abgestorben.

»Ewig schad um die guten Schuhe!« seufzte Eliza.

 

Aber sie hatte merkwürdige Anfälle von Freigebigkeit. Eugen verstand das nicht.

Aus dem Westen kam ein Mädchen nach Altamont. Sie sagte, sie wäre aus Sevier, einer Stadt im Gebirg. Sie war groß und braun und hatte das schwarze Haar, die schwarzen Augen der Cherokee-Indianer.

»Paßt mal auf«, sagte Gant, »die Person hat sicher Cherokesenblut in den Adern.«

Sie nahm ein Zimmer. Tagelang wiegte sie sich im Schaukelstuhl vorm Kamin des Wohnzimmers. Sie war scheu, furchtsam, ein bißchen muffig. Sie benahm sich ländlich-umständlich. Sie sprach nie, wenn sie nicht angesprochen wurde.

Manchmal war sie krank und blieb im Bett liegen. Eliza brachte ihr dann Essen und war äußerst gütig zu ihr.

Tag um Tag schaukelte das Mädchen, den ganzen stürmischen Vorherbst hindurch. Eugen konnte den Rhythmus ihrer Füße hören, die den Schaukelstuhl unablässig in Gang hielten. Sie nannte sich Mistress Morgan.

Eines Tages, als Eugen gerade Kohle auf das Feuer legte, vor dem sie saß, kam Eliza ins Zimmer. Mistress Morgan schaukelte unverdrossen weiter. Eliza stand eine Weile vorm Feuer, schürzte nachdenklich die Lippe, faltete still die Hände überm Bauch. Sie sah durchs Fenster auf den wolkenstürmenden Himmel, auf die windbefegte, kahle Straße hinaus.

»Sieht aus«, sagte sie, »als käm' ein harter Winter für die Armen.«

»Ja, Madam«, sagte Mistress Morgan muffig und schaukelte weiter.

Eliza schwieg eine Weile.

»Wo ist eigentlich Ihr Mann?« fragte sie dann.

»In Sevier«, sagte Mistress Morgan. »Er ist bei der Eisenbahn angestellt.«

»Ei was!« sagte Eliza. Schnell, komisch. »Ein Eisenbahner, sagen Sie?« fragte sie scharf.

»Ja, Madam.«

»Na, das sieht mir sonderbar aus, daß er nicht mal herkommen kann, um nach Ihnen zu sehen«, stellte Eliza mit einer ungeheuer anklägerischen Ruhe fest. »Ein Kerl, der sich so benimmt, kommt mir recht wie ein Lump vor.«

Mistress Morgan sagte nichts. Ihre pechschwarzen Augen glitzerten im Feuerschein.

»Haben Sie Geld?« fragte Eliza.

»Nein, Madam.«

Eliza stand gediegen da, wärmte sich, schürzte die Lippe.

»Wann erwarten Sie Ihr Baby?« fragte sie unvermittelt.

Mistress Morgan blieb eine Weile stumm und schaukelte weiter.

»Diesen Monat noch, glaub ich«, antwortete sie dann.

Woche um Woche war sie dicker um den Leib geworden.

Eliza bückte sich und hob den Rock. Bis zum Knie zeigte sie ihr Bein: Baumwollstrümpfe, dicke Flanellunterhosen hineingestopft.

»Pfui!« rief sie keusch aus, als sie bemerkte, daß Eugen hinstarrte. »Dreh Dich um, Junge!« befahl sie. Sie kicherte und rieb sich die Nase. Das Mattgrün zusammengefalteter Dollarnoten glomm durch den Strumpf. Sie zog den Pack Scheine heraus.

»Na, Ich nehme an, daß Sie da ein bißchen Geld nötig haben«, sagte Eliza, schälte zwei Zehndollarscheine aus dem Pack und reichte sie Mistress Morgan.

»Danke, Madam«, sagte Mistress Morgan und nahm das Geld.

»Sie können hier im Haus bleiben, bis Sie wieder arbeitsfähig sind«, sagte Eliza. »Ich kenne einen guten Arzt.«

»Um Himmels willen, Mama«, schnob Helene, »wie in aller Welt kriegst Du solche Leute ins Haus?«

»Barmherziger Gott!« heulte Gant, »was für Gezeug Du hier aufnimmst! Blinde, Lahme, Verrückte, Bastarde!«

Nichtsdestoweniger, wenn er Mistress Morgan traf, machte er ihr eine tiefe Verbeugung und grüßte aufs liebenswürdigste: »Wie geht's, Madam?«

Nachher sagte er zu Helene:

»Ich will Dir was sagen, sie ist ein feines Weibstück!«

»Hahaha!« lachte Helene in ironischem Falsett und gab ihm einen Rippenstoß: »Gelt, da möchtest Du mal dran, was?«

»Das walte Gott«, gestand er aufgelaunt, leckte den Daumen und grinste Eliza verschmitzt an. »Ei, sie hat da vorn so ein Paar Pippinchen!«

Eliza lächelte bitter ins brutzelnde Fett.

»Hm!« sagte sie verächtlich. »Mir ist's gleich, mit wievielen er herumzieht. Alte Narren sind die schlimmsten. Aber gib acht, daß Du's nicht zu scharf treibst; das ist ein Spiel, das zu Zweien gespielt wird.«

»Hahahaha!« lachte Helene dünn. »Nun ist sie wütend.«. Helene lud Mistress Morgan oft in Gants Haus und kochte großartig für sie. Sie brachte ihr Konfitüren und parfümierte Seifen aus der Stadt mit.

Bei der Geburt wurde McGuire zugezogen. Eugen saß im Erdgeschoß und hörte, was im Zimmer oben vorging: ruhige Geschäftigkeit, das leise Stöhnen der Gebärenden; schließlich ein hoher, schriller Schrei. Eliza hatte ständig Kessel mit siedendem Wasser auf dem Gasherd. Von Zeit zu Zeit eilte sie mit einem dampfenden Kessel in den ersten Stock; gleich darauf kam sie langsam die Treppe wieder herunter; sie blieb auf jeder Stufe stehen und horchte.

Helene rumorte mit den Kesseln in der Küche herum und tobte aufgebracht gegen unbekannte Verleumder: »Nach allem! Was wissen wir denn eigentlich Genaues über sie?« sagte sie herausfordernd. »Niemand kann behaupten, daß sie nicht verheiratet ist! Womöglich hat sie wirklich 'nen Gatten. Die Leute sollen sich in acht nehmen, niemand hat ein Recht, solche Sachen herumzutratschen!«

Frostig-klare Nacht. Nicht sehr kalt. Eugen stand neben Ben auf der Veranda. Über dem schwarzen Umriß der östlichen Berge wölbte sich tief die Schale des Himmels mit den fernen, glitzernden Sternen. Die Lichter in den Nachbarhäusern waren von einer juwelenhaften Helle. Ben rauchte. Im ersten Stock schrie das Neugeborene. Eugen kicherte. Ben hob den Arm, wie um zuzuschlagen, ließ die Hand sinken, lächelte. Im »Judenschloß«, einer großen Villa auf dem Hügel, zitterten die Lichter. Stimmen kamen, frostfern, durch die Nacht.

Tiefer Schoß, dunkle Blume. Das Verborgne, die geheime Frucht, vom schweren indianischen Blute genährt. Schoßnacht, brütende Dunkelheit: heimlich blüht es ins Leben.

 

Mistress Morgan reiste ab, als ihr Kind zwei Wochen alt war. Es war ein kleines, braunhäutiges Bübchen mit einem gnomenhaften schwarzen Haarschopf und sehr schwarzen, glänzenden Augen. Ganz wie ein kleiner Indianer.

Zum Abschied schenkte Eliza der Mutter zwanzig Dollar.

»Wo gehen Sie hin?« fragte sie.

»Ich hab Leute in Sevier«, sagte Mistress Morgan.

Sie ging die Straße hinauf. Sie trug einen billigen Handkoffer, imitierte Krokodilhaut. Das Baby an ihrer Schulter wackelte mit dem Kopf und sah munter zurück mit den glänzenden, pechschwarzen Augen. Eliza winkte ihm mit der Hand nach, sie lächelte mit wehem Mund. Dann wandte sie sich ins Haus, schnuffelte. Ihre Augen waren feucht.

Eugen wunderte sich, warum die Mutter nach Dixieland gekommen war.

 

Eliza war gut zu einem kleinen, schnurrbärtigen Mann. Er hatte eine Frau und eine neunjährige Tochter. Er war Ober in einem Hotel, zur Zeit ohne Anstellung. Er wohnte in Dixieland, bis er über hundert Dollar schuldete. Er spaltete das Holz zum Feueranmachen säuberlich auf, schleppte Kohlen, tat notwendige Ausbesserungsarbeiten als Zimmermann und Anstreicher.

Eliza mochte ihn gern. Er war ganz das, was sie »stubenrein«, was sie »einen guten Familienvater« nannte. Häusliche Männer gefielen ihr stets. Und der kleine Mann war sehr gütig, sehr zahm. Eugen konnte ihn gut leiden, weil er vorzüglichen Kaffee kochte. Eliza machte ihm keinerlei Scherereien wegen dem Geld. Schließlich fand er Anstellung mit Unterkunft in einem Hotel. Er zahlte Eliza jeden Taler, den er schuldete.

 

Eugen blieb gewöhnlich über Mittag in der Schule und kam um drei oder vier Uhr nachmittags – manchmal freilich wurde es Abend – nach Hause. Eliza war ärgerlich über sein Ausbleiben; sie setzte ihm das verbrutzelte Essen, das sie in der Herdkachel warmgestellt hatte, vor: fettäugige Gemüsesuppe aus Kohl, Bohnen und Tomaten, Braten oder Huhn, einen Teller kalte Limabohnen, Krautsalat, Biskuits und Kaffee.

Die Schule war ihm Lebensmittelpunkt, und Margaret Leonard war seine geistige Mutter geworden. Er liebte es sehr, nachmittags dortzubleiben, wenn der Schwärm der Schüler sich verzogen hatte. Da konnte er frei im alten Haus herumstreifen oder unter den großen alten Bäumen wandeln. Der Hügel war herrlich einsam. Der Wind wehte, Eicheln prasselten zu Boden. Welkes Laub wurde zusammengerecht und verbrannt.

Er schmökerte, verlor sich heißhungrig in ein Buch, bis ihn Margaret entdeckte und an die frische Luft hinausjagte. Er ging dann zu dem geebneten Basketball-Spielplatz, der am Eingang des Grundstücks neben Bischof Rapers Garten lag. Hier trieb er im Abendrot Sport, rannte, spielte mit einem Kameraden Ball, freute sich an seiner zunehmenden Geschwindigkeit und Gewandtheit, an der Sicherheit, mit der er den Ball in den Korb schoß.

Margaret Leonard wachte mit beinah krankhaftem Eifer über seiner Gesundheit. Ständig mahnte und warnte sie ihn in diesem Sinn. »Komm mal her, Eugen«, pflegte sie zu rufen. »Ich muß Dich 'ne Minute sprechen.«

Etwas verängstigt und sehr nervös setzte er sich zu ihr.

»Wieviel Stunden schläfst Du?« fragte sie.

Hoffnungsvoll log er. Neun Stunden. Das würde wohl so richtig sein.

»Schlafe zehn Stunden, Junge«, befahl sie ihm. »Schau her, Du kannst es Dir einfach nicht leisten, mit Deiner Gesundheit Raubbau zu treiben. Das rächt sich bitter und läßt sich nie wieder gutmachen. Guter Gott! Ich weiß wahrhaftig, wovon ich da spreche. Ich habe den Preis bezahlen müssen, kann ich Dir sagen. Wirklich, Eugen, in einer Welt wie der unseren ist jemand, der nicht gesund ist, so gut wie verloren.«

»Aber mir fehlt doch gar nichts«, begehrte er verzweifelt auf.

»Du bist nicht gut bei Kräften, Eugen. Du hast kein Fleisch auf den Knochen. Und die Ringe unter Deinen Augen machen mir Sorge. Lebst Du regelmäßig?«

Er lebte nicht regelmäßig; er haßte Regelmäßigkeit. Er war viel zu sehr an die Aufregungen und Dauerkrisen in seiner Familie gewöhnt. Ein ruhiges, geordnetes Heimleben hatte er nie gekannt. Vor der Regelmäßigkeit fürchtete er sich. Sie bedeutete Langeweile und Öde für ihn. Und außerdem liebte er die Mitternachtsstunde.

Aber nun versprach er gehorsam, eine strenge Tageseinteilung einzuhalten: regelmäßig zu essen, zu schlafen, zu arbeiten, Leibesübungen zu treiben.

In der Mannschaft zu spielen hatte er immer noch nicht gelernt. Er fürchtete die anderen, konnte sie nicht leiden, mißtraute ihnen. Und beneidete sie um ihre robuste Kraft. Aber da er Margarets Augen auf sich ruhen wußte, stürzte er sich mit zusammengebißnen Zähnen in das wilde Rudel der Spielenden. Mit zerschlagnen Gliedern, Scham im Herzen, kam er täglich vom Tummelplatz zurück. John Dorsey Leonards Schlagworte – vom »fairen Spiel«, von »jener Art, Gewinn und Verlust lächelnd zu tragen«, vom »echten Sportgeist« – plapperte er treulich wie ein Papagei nach, ohne Glauben und Verständnis. Diese Phrasen waren der ganzen Schule geläufig; sie wurden immer wieder zu aller Bewußtsein gebracht. Manchmal, wenn Eugen sie aus dem Munde eines Mitschülers vernahm, packte ihn eine heiße Scham. Er verrenkte krampfhaft den Hals und hob nervös den Fuß vom Boden.

Und zudem bemerkte er – aberundabermals beschämt –, daß diese Schulbuben, die sich so ruppig, so selbstbewußt, so aggressiv-robust gebärdeten, trotz allen Lippendiensts vom fairen Spiel und vom echten Sportgeist weit entfernt waren. Allerwege war der Schwächere rechtmäßig dem Stärkeren ausgeliefert. Selbst Leonard, wenn ihn ein Schüler etwa beim Disputieren übertraf, machte vom Recht des Stärkeren Gebrauch, um die Richtigkeit seiner Sache darzutun. Solche Schauspiele waren widerlich und empörend. Eugen beobachtete sie wie gebannt; es wurde ihm übel dabei.

Leonard war durchaus kein schlechter Kerl; im Gegenteil, er war ein Mann von beträchtlichem Charakter, besaß Güte, war ehrlich bestrebt. Er liebte seine Angehörigen; er stand mutig gegen die Bigotterie. In der Methodistengemeinde saß er im Gemeinderat; er mußte schließlich zurücktreten, weil seine Meinungen, über die Darwinsche Theorie zu ausgesprochen waren: ein Beispiel für das traurige Los der Liberalgesinnten im Dorf: ein fortschrittlicher Denker unter Methodisten, ein Fackelträger am hellen Mittag, das war er. Ein Fürsprecher für die Duldung von Ideen, die ein halbes Jahrhundert lang anerkannt sind. Seine Lehrpflicht trachtete er in Wahrheit zu erfüllen. Aber er war ein Kind der Erde, nicht des Geists. Seine harthändige Heftigkeit hatte die unbewußte Brutalität der Natur. Obschon er sein Interesse in geistigen Dingen immer wieder zur Geltung brachte, sein Interesse an der Scholle war viel größer. Seit seinem Abgang von der Universität hatte er keine nennenswerten Studien mehr getrieben. Er faßte langsam auf; die sensitive Intuition Margarets fehlte ihm völlig. Aber sie liebte ihn mit so leidenschaftlicher Treue, daß sie alle seine Handlungen vor der Welt guthieß. Eugen hatte selbst sogar gehört, wie sie mit schrillbebender Stimme ausschrie, Leonard solle einen Schüler, der ihm frech entgegnet hatte, »ohrfeigen, daß ihm der Kopf wegfliegt«. Eugen wurde es speiübel, als er sie in diesem Zustand sah. Aber er wußte bereits, wie weit Liebe einen Menschen verändern kann. Leonard hielt sein eignes Tun und Lassen für weise und gut. Er war in einer Tradition erzogen, wo strikter Gehorsam vor dem Meister selbstverständlich war. Sein Vater, ein Patriarch auf einer Farm in Tennessee, der sonntags Laienprediger war, hatte jede Rebellion im Hause mit der Reitpeitsche und strengen Gebeten zu unterdrücken gewußt. Von ihm hatte John Dorsey gelernt, wie vorteilhaft es ist, Gott zu sein. Er war der Meinung, daß kleine Buben, die aufbegehrten, Prügel brauchten.

Natürlich trug Leonard klugerweise Sorge, jene Schüler, die aus wohlhabenden und vornehmen Häusern kamen, ebensowenig wie seine eignen Sprößlinge, körperlich zu züchtigen. Im Bewußtsein ihrer Immunität gaben sich diese jungen Burschen alle erdenkliche Mühe, unverschämt und ungehorsam zu sein. Justin Raper, der Sohn des Bischofs, ein dürrer, langer Bengel von dreizehn Jahren, schwarzhaarig, mit einem trüben, pickeligen Gesicht, tippte dreißig Durchschläge von einer Schmutzballade

»Madam, Ihre Tochter sieht piekfein aus!
Schlappuhn!«

und vertrieb sie zu fünf Cent das Stück unter den Mitschülern.

Außerdem ertappte Leonard diesen Jüngling eines Frühlingsnachmittags im hohen Gras unter den blühenden Hundsholzsträuchern auf der Ostseite des Hügels – und zwar ertappte er ihn im Geschlechtsverkehr mit Miss Hazel Bradley, der Tochter eines Kleinkrämers in der Biltburn Avenue, einem Mädchen, dessen übler Ruf stadtbekannt war. Leonard überlegte sich die Sache; er ging nicht zum Papa Bischof, sondern zum Vater Kleinkrämer.

»Jaja«, sagte Mister Bradley und zwirbelte seinen langen Schnurrbart, »da werden Sie wohl eine Warnungstafel ›Betreten verboten‹ aufstellen müssen.«

 

Die Zielscheibe für allen Mißbrauch und Unfug, sowohl für Leonard als auch für die Schüler, war der Sohn eines Juden, Edward Michalove. Sein Vater war Juwelier, ein dunkelhaariger, sehr liebenswerter und gepflegter Mann mit guten Manieren und langen, weißen, delikaten Händen. In seinem Schaufenster lagen antike Broschen, mit Gemmen besetzte Spangen, alte, ziselierte Uhren. Der Junge hatte zwei Schwestern, große, sehr schöne Frauen. Die Mutter war tot. Niemand in der Familie sah jüdisch aus. Etwas Dunkles, Weiches floß um ihre Erscheinungen.

Edward war zwölf, ein hochgewachsener, schlanker Knabe mit bernsteinfarbner Haut und der kleinlichen Weibischkeit einer alten Jungfer. Er hatte Angst vor den anderen Jungen. Seine spitze, giftige Altjüngferlichkeit trat in der Notwehr deutlicher zutage. Wenn er gehänselt, bedroht, gequält wurde, brach er in ein unangenehmes, schrilles Lachen oder in hysterische Tränen aus. Sein merkwürdiger, kurzschrittiger Trippelgang, eine komische Handbewegung, so als wolle er den Saum langer Röcke vom Erdboden abheben, und seine leicht belegte Fistelstimme mit dem weibisch-wollüstigen Unterton ... das lenkte das schwere Geschütz des allgemeinen Mißfallens auf ihn.

Sie nannten ihn »das Fräulein«. Sie rempelten und rüpelten ihn an, bis er in einen Zustand der Dauerhysterie geriet, so daß er sich wie ein fauchendes Kätzchen benahm und die schmalen Krallenhände mit den langen Fingernägeln vor sich hinhielt, um zu kratzen, wenn sie auf ihn losgingen. Lehrer und Schüler machten etwas Verächtliches aus ihm, um dann den zu hassen, den sie aus ihm gemacht hatten.

Eines Tages war ihm Arrest aufgebrummt worden. Er schluchzte. Plötzlich sprang er auf und lief zur Tür hinaus. Er wollte aus der Schule weglaufen. Leonard, schwerschnaubend, setzte ihm nach, erwischte ihn beim Kragen und schleifte den Heulenden ins Klassenzimmer zurück.

»Setz Dich«, brüllte er und warf den Knaben gegen eine Sitzbank, daß es krachte. Plötzlich gewann die Angst, er könnte den Jungen zum Krüppel machen, die Oberhand über seine sinnlose Wut. »Steh auf!« brüllte er und riß den Jungen hoch.

»Du grüner Lümmel«, schnaufte er, »Du dreister, nichtiger Schmachtfetzen! Jetzt wollen wir mal sehen, wer sich hier aufzuspielen hat.«

»Lassen Sie die Hände von mir!« schrie Edward im Entsetzen aus physischer Übelkeit. »Ich sag's meinem Vater, alter Leonard, daß er herkommt und Sie mit Tritten in den fetten Hintern über den Schulhof jagt, das können Sie mir glauben!«

Eugen machte die Augen zu. Es war ihm eiskalt ums Herz. Er glaubte nicht mitansehn zu können, wie dem Jungen jetzt das Lebenslicht ausgeblasen würde. Aber als er die Augen wieder auftat, stand Edward, tiefrot und schluchzend, noch genau dort, wo er zuvor gestanden hatte. Nichts war geschehn.

Eugen wartete, daß Gottes Strafe über den unseligen Lästerer hereinbrechen würde. Aus der Versteinerung in Leonards Gesicht, aus den erfrornen Mienen der Schwester Amy war zu schließen, daß sie ebenfalls darauf warteten.

Edward lebte. Weiter geschah nichts – nichts.

 

Jahre später noch dachte Eugen an diesen jungen Juden zurück. Er dachte an ihn mit der alten heißen Scham, dem stechenden Schmerz, mit dem sich ein Mensch an eine feige, ehrlose Tat, die nie zu sühnen ist, erinnert. Nicht nur deshalb, weil er an der Verfolgung des Knaben teilgenommen hatte! Er war von Herzen froh gewesen, daß noch ein Schwächerer als er da war, jemand, auf den die Schlauchspritze der Lächerlichkeit abgelenkt werden konnte. Jahre später war ihm klar, daß auf den schmalen Schultern des jüdischen Knaben die Bürde lag, die andernfalls er hätte tragen müssen, daß dies überladne Herz von einer Qual verzerrt wurde, die sonst seine Qual hätte sein können.

Mister Leonards »Männer von Morgen« taten ihr Bestes. Der Sinn für Gerechtigkeit und körperliche Ehre war ihnen zwar unbekannt, aber sie bekannten sich desto lauter zum Buchstaben. Jeder von ihnen hatte Angst, erwischt zu werden. Jeder, so gut er es vermochte, baute eine Schanze aus Hochstapelei und Anmaßung vor sich auf. Ritterlichkeit, Mut und Ehre, die großen Männertugenden, verrotteten auf dem Müllhaufen. Die große Sippe der »Go-Getter« und »He-Men«, der sich brüstenden Raffer und der prahlenden Kraftmeier, jener lautdröhnenden und heftigdrohenden Gesellen mit den schäbigen Herzen, war im Anmarsch.

Und Eugen, dessen wirkliches Wesen nun ganz in der Schlüsselfestung seiner Phantasie eingeschlossen war, trug seinen Leib täglich zu neuen Niederlagen auf den Tummelplatz, ahmte, so gut er konnte, die Redeweisen und Allüren seiner Mitschüler nach, nahm tätig oder im Geist an den Attacken auf den Schwächeren teil und wurde dafür manchmal dadurch belohnt, daß er Margaret sagen hörte, er sei ein »Junge, der den rechten Geist in sich hat«. Das sagte sie nämlich sehr oft.

Gant und Eliza hatte er's zu danken, daß er glücklicherweise ein dominant maskuliner Typus war. Er kostete nur selten die Süßigkeit des Siegs; Furcht jedoch kannte er gut. Die Tyrannei der Kraftmeierei erschien ihm später noch so abschreckend, daß er dann – ein junger Mann anfangs zwanzig, als sein großes Knochengerüst schließlich mächtig im Fleisch stand – die Hochstapler und Dicktuer, die Prahlhänse und Großdroher, in Erinnerung des Erlittnen einfach von seinem Pfad stieß, sie zurückwarf, wahnwitzig und wild in ihre erschrocknen Gesichter blickte und sie verfluchte.

Den Juden vergaß er nie. Er dachte immer mit Scham an ihn zurück. Es dauerte viele Jahre, bis er verstand, daß diese sensitive und weibische Person, mit der er durch das furchtbare geheime Band seiner eignen Unehre verbunden war, nichts Perverses, nichts Unnatürliches, nichts Entartetes an sich hatte. Edward war gleichviel Weib wie Mann. Das war alles. Und für den Androgynen ist kein Platz unter den Boy Scouts – er muß zum Parnassus gehn.


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