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XXIX

Eugen war allein, verzweifelt allein.

Aber die Universität war ein bezaubernder, ein unvergeßlicher Ort. Sie lag in dem Dorfe Pulpit Hill, ungefähr in der Mitte des großen Staats. Die Studenten reisten mit der Bahn bis zu der trübseligen Tabakstadt Exeter und fuhren von dort die 18 Kilometer mit dem Bus oder im Auto nach Pulpit Hill. Die Gegend, wellig mit Feld und Wald, war von einer rohen, großartigen Häßlichkeit. Aber die Universität lag herrlich in einer bukolischen Wildnis auf dem langgezognen Tafelberg, der sich steil aus dem flachhügligen Land erhob. Oben angekommen war man plötzlich am äußersten Ende der langen Hauptstraße, die anderthalb Kilometer lang zwischen Fakultätshäusern durchs Dorf zur Universität hinführte. Der zentrale Kampus war ein großer, welliger Parkrasen mit herrlichen alten Bäumen. Ein Karree von schönen, alten Backsteinbauten, kurz nach dem amerikanischen Freiheitskrieg errichtet, stand am äußersten Ende. Um diese Mitte gruppierten sich weitere Bauten in jenem üblen neo-hellenischen Stil, in dem man heutzutage, vermutlich aus pädagogischen Gründen, so gern Schulen ausführt. Und dahinter kam die dichte Waldwildnis: ihr Geruch wehte über den ganzen Ort; man spürte die Entlegenheit, den Zauber des Isoliertseins. Eugen verglich Pulpit Hill einem vorgeschobnen, von der Wildnis umlauerten Vorposten des alten Rom.

In dieser herrlichen Umgebung konnte ein junger Mensch behaglich und vergnügt vier üppige und träge Jahre zubringen. Da war weiß Gott Einsamkeit genug für mönchischen Fleiß, aber die romantische Atmosphäre hätte selbst einen Bücherwurm vom Studieren abgebracht. Die Studenten bummelten und genossen die Freiheit. Mit aller Energie, allem Enthusiasmus ereiferten sie sich für gesellschaftliche Angelegenheiten und die kleine Universitätspolitik. Sie stellten Sportmannschaften zusammen, gründeten Glee-Clubs, Diskussions-Clubs, Amateurtheater-Clubs. Und sie führten große Reden. Immer und überall redeten sie; sie standen unter den Bäumen und schwatzten, sie standen vor den efenüberwucherten Mauern und schwatzten, sie hockten auf ihren Buden und schwatzten. Sie schwatzten den ungegliederten, breiten, trägen, unaufhörlichen, reizvollen, gedankenlosen Schwatz, der in den alten Südstaaten zuhaus ist: – sie redeten großzügig und leichthin über Gott und den Teufel, über Philosophie und Mädchen, über Politik und Sport, über akademische Bruderschaften und nochmals über Mädchen ... o Gott ja! wie sie schwatzten, was für Reden sie führten.

 

Ehe sein erstes Studienjahr um war, hatte Eugen vier- oder fünfmal die Bude gewechselt. Am Schluß des Lehrjahrs hauste er allein in einem großen, kahlen Zimmer ohne Teppich. So zu wohnen war eine Seltenheit in Pulpit Hill, denn die Studenten lebten meist zu zweien oder zu dreien zusammen. In jenem Zimmer begann für Eugen eine räumliche, anfangs schwer zu ertragende Isolation, die ihm später zum unerläßlichen Bedürfnis des Körpers und Geistes wurde.

Eugen lebte in einer kleinen Welt. Aber die Schäden und Mißstände dieser Welt, mochten sie auch noch so unerheblich scheinen, erzeugten tiefgehende, verheerende Wirkungen in seinem Wesen. Er hatte keine Freunde; stolz und hochfahrend zog er sich in seine Zelle zurück, blindlings widersetzte er sich dem Gemeinschaftsleben, das ihn umgab.

In dem ersten, bittren und verzweifelten Herbst fing Eugens Bekanntschaft mit Jim Trivett an.

Jim Trivett, Sohn eines reichen Tabakpflanzers aus dem Osten des Staates, war ein gutmütiges Rauhbein von zwanzig Jahren. Er war ein stattlicher Bursche, machte aber keinen gewinnenden Eindruck. Sein grober, vorgeschobener, dicklippiger Mund stand immer ein wenig offen und lächelte lose und leer; man sah seine schlechten Zähne; die Mundwinkel waren von Kautabakspeichel verschmiert. Er hatte hellbraunes, trocknes Haar, dessen widerspenstige Zotteln sich nie ordentlich legen ließen. Er zog sich auffallend an; nach dem billigen, furchtbaren Geschmack der damaligen Mode: – enge Hosenröhren, die drei Zentimeter über den Halbschuhen freiließen und heruntergerollte Socken bloßstellten; – langschößige Röcke mit einem Halbgürtel im Kreuz; – breite Umlegekragen aus gestreifter Seide. Unter dem Rock trug Jim Trivett einen Sportsweater mit den eingewirkten Nummern der höheren Lehranstalt, die er besucht hatte, ehe er auf die Universität zog.

Jim Trivett wohnte mit drei anderen Studenten aus seiner Vaterstadt zusammen in einem Lodging-House, ganz in Eugens Nachbarschaft, etwas näher am Westtor der Universität. Die vier jungen Herren, die sich der Sicherheit und Kameradschaft halber zusammengeschlossen hatten, hausten in zwei unaufgeräumten, von kleinen gußeisernen Öfchen zu einer trocknen Backofenhitze überheizten Zimmern. Ständig trafen sie die ernsthaftesten Vorbereitungen zur Arbeit, aber sie schafften nie etwas. Man trat entschlossen ein, verkündigte, daß man auf morgen höllisch zu büffeln habe, richtete gemächlich die Bücher her, rückte die Lampe richtig, spitzte umständlich die Bleistifte, ging zu dem hochroten Öfchen und schürte tüchtig nach, rückte den Stuhl zurecht, setzte einen Augenschirm auf, putzte die Pfeife, stopfte sie, zündete sie an, zündete sie abermals an, leerte sie aus ... und hörte dann mit einem Seufzer der Erleichterung, daß jemand an die Tür klopfte.

»Rein in die gute Stube! Gott verdammt nochmal!« erschallte die gastfreie Aufforderung.

»Hallo, Eugen! Nimm 'nen Stuhl und setz Dich!« sagte Tom Grant. Er war ein dicker, vierschrötiger Kerl, gutmütig, dumm und träg; dichtes, schwarzes Haar über der niedern Stirn; auffallend angezogen.

»Habt Ihr geschafft?«

»Zum Teufel ja!« rief Jim Trivett. »Geschuftet hab' ich wie der Sohn einer Hündin.«

»Armer Junge, eines Tages wirst Du uns an Überarbeitung eingehn«, sagte Tom Grant und drehte sich langsam nach ihm um. Er schüttelte betrübt den Kopf und lachte: »Wenn Dein Alter wüßte, wie fleißig Du sein Geld verstudierst, verdammt noch mal, er bekäm' sicher 'nen Leistenbruch vor Aufregung!«

»Du kennst Dich doch mit dem Englischen aus, Langbein«, sagte Jim Trivett zu Eugen.

»Was er nicht weiß, kannst Du hinten auf 'ne Briefmarke schreiben'«, sagte Tom Grant.

»Ich muß 'ne lange Klausurarbeit machen, aber mir fällt weiß Gott nichts ein«, erklärte Jim Trivett.

»Warum sagst Du das mir?« fragte Eugen. »Soll ich sie Dir etwa schreiben?«

»Ja«, sagte Jim Trivett.

»Schreib Deine verdammte Arbeit selber«, sagte Eugen mit gemimter Härte. »Ich schreib sie Dir nicht. Aber helfen will ich Dir, wenn ich's kann.«

Tom Grant wandte sich an Eugen: »Sag mal, wann ziehst Du mit dem ›harten Knaben‹ nach Exeter, Langbein?« fragte er und blinzelte zu Jim Trivett, dem »harten Knaben«, herüber.

Eugen errötete; die Frage war ihm peinlich.

»Jederzeit, wann's ihm paßt«, erklärte er.

»Schau her, Langbein«, sagte Jim Trivett anzüglich grinsend. »Meinst Du das ernst oder ist es Bluff?«

»Ich sag Dir's ja, daß ich mitmache«, sagte Eugen ärgerlich. Er zitterte ein wenig.

Tom Grant schmunzelte schlau zu Jim Trivett hinüber.

»Das wird 'nen Mann aus Dir machen, Eugen«, sagte er. »Junge, dann wachsen Dir Haare auf der Brust.« Er lachte unbeherrscht vor sich hin, wackelte mit dem Kopf dazu, als schüttle er sich über einen heimlichen Gedanken.

Jim Trivetts loses Lächeln wurde anzüglicher, deutlicher.

»Herrje, sie werden dort denken, der Frühling wäre gekommen, wenn sie das Langbein sehn. Sie brauchen 'ne Leiter, um zu ihm 'raufzukommen.«

Tom Grant lachte feist und laut. »Sicher!« sagte er.

»Also wie steht's damit, Eugen?« fragte Jim Trivett unvermittelt. »Ist die Sache abgemacht? Samstag?«

»Paßt mir«, sagte Eugen.

Als er gegangen war, schmunzelten die beiden einander an. Durstig. Wohlgefällig. Die Verführer zur Unkeuschheit.

»Hör mal, harter Knabe«, sagte Tom Grant. »Du solltest es lieber nicht tun. Du bringst den Jungen auf Abwege.«

»I wo, es wird ihm nichts schaden, im Gegenteil, es wird ihm gut tun«, erklärte Jim Trivett. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, grinste.

 

»'nen Augenblick«, flüsterte Jim Trivett. »Ich glaube, das ist das Haus.«

Sie standen in einer schmutzigen, unerleuchteten Seitenstraße fast am Rande der Stadt; ihre Füße raschelten im welken Laub. Es war drei Wochen vor Weihnachten. Sie waren ungefähr zwanzig Minuten gegangen, vom Zentrum der muffigen Tabakstadt weg durch herbstlich dumpfe, nebelkalte Straßen, schließlich einen ausgefahrnen Hügel hinunter, an Hütten vorbei, in denen armes, weißes Gesindel und Neger wohnten. Nun hielten sie vor einem zweistöckigen Holzhaus. Hinter heruntergelassenen Fensterblenden brannte Licht; ein gelber Widerschein glomm in die rauchige Luft hinaus.

»'nen Augenblick«, sagte Tim Trivett, »ich will mich erkundigen.«

Es kamen Schritte durchs welke Laub. Ein Neger erschien vor ihnen.

»Hallo, John!« sagte Jim Trivett fast unhörbar.

»'nAwen', Boß!« sagte der Neger, schläfrig, ebenso leis.

»Wir suchen das Haus von Lily Jones«, erklärte Jim Trivett. »Sind wir da recht?«

»Ja, Suh«, sagte der Neger, »da sein es.«

Eugen lehnte an einem Baumstamm und hörte das leise Verschwörergeflüster an. Die Nacht war weit, lauernd und lauschend wie das böse Gewissen. Seine Lippen waren kalt und bebten, er klemmte eine Zigarette dazwischen. Ihn schauderte; er schlug den Mantelkragen hoch.

»Miss Lily, weiß sie, Sie kommen?« fragte der Neger.

»Nein«, sagte Jim Trivett. »Kennen Sie sich aus?«

»Ja«, sagte der Neger, »gehn Sie mit!«

Eugen wartete unter dem Baum. Jim Trivett und der Neger gingen ums Haus und pochten an die Hintertür.

Er wartete. Er sagte sich selbst lebwohl. Er spürte, daß er mit gezücktem Morddolch über seinem Leben stand. Er war unentwirrbar verstrickt. Ein Entrinnen gab's nicht.

Von drinnen waren schwache Geräusche gekommen, Stimmen, Gelächter, das heisere Kratzen eines alten Grammophons. Nun verstummten sie plötzlich. Das Haus schien aufzuhorchen. Einen Augenblick später ging eine Tür, Eugen hörte eine erstaunte Frauenstimme, die leise und verwirrt fragte: »Wer ist da? Wer?«

Gleich darauf kam Jim Trivett zurück und sagte: »Alles in Ordnung, Eugen. Komm, gehn wir 'rein!«

Jim Trivett gab dem Neger ein Trinkgeld, dankte ihm. Eugen sah dem Schwarzen einen Augenblick in das breite, freundliche Gesicht. Es wurde ihm wärmer. Der dunkle Zutreiber hatte seine Arbeit willig und gern getan; über der gekauften, lieblosen Liebe lag der Schatten seines Wohlwollens.

Sie gingen stillschweigend ins Haus. Eine Frau hielt die Tür auf und riegelte ab, sobald sie eingetreten waren. Sie befanden sich in einer kleinen Diele; eine Lampe mit heruntergeschraubtem Docht brannte matt im Halbdunkel. Eine Holztreppe führte zum zweiten Stock hinauf. Rechts und links waren Türen in die Zimmer des Erdgeschosses. Ein abgetragner Herrenfilzhut hing auf dem langen Kleiderhaken.

Jim Trivett umarmte die Frau sofort, grinste, knutschte ihr die Brüste.

»Hallo, Lily«, begrüßte er sie.

»Jesses!« sagte sie. Sie lächelte mit grobem Mund und sah Eugen neugierig von der Seite an. Dann sagte sie lachend:

»Barmherziger! Die Frau, die den da kriegt, muß ihm erst ein Stück von den Beinen abschneiden.«

Jim Trivett grinste. »Ich möcht' ihn mal mit der Thelma sehn«, sagte er.

Lily Jones lachte heiser. Die Tür rechts ging auf, und die kleine leichtgebaute Thelma erschien. Aus dem Zimmer schallte ein leeres, blödes Männerlachen. Jim Trivett umarmte Thelma.

»Jesses!« sagte Thelma mit blecherner Stimme. »Wen hast Du denn dabei?« Sie wandte Eugen ihr scharfgeschnittnes Vogelgesicht zu und musterte ihn unverschämt.

»Ich hab Dir 'nen neuen Verehrer mitgebracht«, sagte Jim Trivett.

»So 'nen Schlanken hast Du sicher noch nicht gesehn«, sagte Lily Jones unbeteiligt. »Wie lang bist Du eigentlich, Sohn?« fragte sie gutmütig.

»Ich weiß es nicht genau«, sagte Eugen. »Ungefähr zwei Meter.«

»Mehr!« erklärte Thelma entschieden. »Ein Lügenmaul will ich heißen, wenn er nicht zwei Meter zehn mißt.«

»Er hat sich halt seit 'ner Woche nicht gemessen«, sagte Jim Trivett. »Drum weiß er's nicht genau.«

»Und jung ist er«, sagte Lily und starrte Eugen an. »Wie alt bist Du, Sohn?«

Eugen wandte sein bleiches Gesicht ab, unentschieden.

»Wieso?« sagte er. »Ich werde schon ...«

»Er wird achtzehn«, sagte Jim Trivett ergeben. »Macht Euch keine Gedanken wegen ihm. Das alte Langbein da keimt sich aus. Er ist 'ne Bierkatze. Spaß beiseite, der weiß, wie man's macht.«

»Er sieht jünger aus«, sagte Lily. »Dem Gesicht nach hätt' ich ihn für fünfzehn gehalten. Aber hat er nicht wirklich 'n auffallend kleines Gesicht?«

»Es ist das einzige, das ich habe«, sagte Eugen ärgerlich. »Tut mir leid, daß ich es nicht für ein größres umtauschen kann.«

»Es wirkt komisch, weißt Du, so hoch da droben«, fuhr Lily träg fort.

Thelma gab ihr einen Rippenstoß und lachte heiser.

»Das kommt, weil er so ein langes Untergestell hat. Wenn er erst mal Fleisch und Fettpolster an dieses Knochengerüst kriegt, wird er ein Riesenkerl sein. Ja, ja, ein Riesenkerl wirst Du sein, Langbein, und ein Herzensbrecher erster Klasse, das prophezeie ich Dir.«

Sie nahm seine Hand und preßte sie. Der Fremde, das Gespenst in ihm, wandte sich gramvoll ab. O mein Gott, dachte er, ich werde mich erinnern.

»Also legen wir los!« sagte Jim Trivett. Er umarmte Thelma und tat verliebt mit ihr.

»Geh einstweilen nach oben, Sohn«, sagte Lily. »Ich komm in 'ner Minute 'rauf. Die Tür steht offen.«

»Wir seh'n uns später, Eugen. Mach's gut!« sagte Jim Trivett und legte dem Jungen gutmütig-rauh einen Arm auf die Schulter. Dann schob er mit Thelma ins Zimmer links.

Eugen ging langsam die knarrende Stiege hinauf und trat in das Zimmer, dessen Tür offen stand. Im Kamin brannte ein großes Kohlenfeuer, eine starre Glutmasse ohne Flamme. Er nahm Hut und Mantel ab und legte sie auf eine hölzerne Bettstelle. Dann setzte er sich in einen Schaukelstuhl. Er saß vornübergebeugt, die Glieder schmerzhaft gespannt und wärmte seine zuckenden Finger am Feuer. Es war kein Licht im Zimmer; beim Widerschein der Kohlenglut konnte er die häßliche, alte, abgenutzte Tapete erkennen. Er saß ganz still, aber von Zeit zu Zeit zitterte er heftig vor Schmerz. Warum bin ich hier? Es ist nicht mein Ich, was hier ist, dachte er.

Alsbald vernahm er den vollen Tritt der Frau auf der Stiege; Licht schwamm durch die Tür. Sie trat ein, stellte eine Lampe auf den Tisch, schraubte am Docht. Er konnte sie nun ganz genau sehn. Lily war eine Frau in mittleren Jahren, bäurisch breit und schwer gebaut, von einer ungesunden, schlabbrigen Weichheit. Ihr glattes, ländliches Gesicht zeigte kleine Fältchen um den Mund und um die Augenwinkel; es sah aus, als hätte sie viel in der Sonne gearbeitet. Sie hatte volles, schwarzes Haar, ihr Gesicht war ganz weiß gepudert. Sie trug ein frischgewaschnes, formloses Kleid aus buntem Kattun, ohne Gürtel. Sie sah wie eine Hausfrau aus, trug aber als Zugeständnis an ihren Beruf rote Seidenstrümpfe and rote, pelzverbrämte Filzpantoffeln, in denen sie mit plattfüßigem Schritt ging.

Sie schloß die Tür und trat zum Kamin, wo Eugen nun stand. Er umarmte sie mit fieberhaftem Verlangen, streichelte sie mit seinen langen, nervösen Händen. Er war unentschlossen. Er setzte sich wieder auf den Schaukelstuhl und zog sie unbeholfen auf seine Knie. Sie küßte ihn mit der spröden Kälte der Provinzhure, fast widerwillig, und wandte den Mund wieder weg. Sie schauderte, als seine kalten Hände sie berührten.

»Du bist ja eiskalt, Sohn. Was ist denn los?«

Rauh und verlegen, mit geschäftsmäßiger Betulichkeit versuchte sie ihn zu erwärmen. Dann stand sie ungeduldig auf und sagte:

»Fangen wir an! Wo ist mein Geld?«

Er drückte ihr zwei zerknitterte Banknoten in die Hand.

Dann legte er sich zu ihr. Er zitterte, nervös und impotent. Die Leidenschaft in ihm war erloschen.

Die Glutmassen im Kamin fielen zusammen. Das verlorne, strahlende Wunder starb.

 

Als er die Treppe runterkam, fand er in der Diele Jim Trivett, der Thelma bei der Hand hielt. Lily ließ sie stillschweigend aus dem Haus, nachdem sie vorher in den Nebel hinaus gespäht und gelauscht hatte.

»Verhaltet Euch still!« flüsterte sie. »Drüben auf der Straße steht ein Mann. Wir sind in letzter Zeit beobachtet worden.«

»Komm wieder, Schlankerchen«, sagte Thelma zu Eugen und drückte ihm die Hand.

Sie gingen leise davon, sie schwiegen. Es war nebliger geworden, die Feuchte schlug ihnen ins Gesicht.

Unter der Ecklaterne, als sie aus der Seitenstraße einbogen, atmete Jim Trivett herzhaft und erleichtert auf.

»Verdammt noch mal, Langbein«, legte er los, »was hast Du eigentlich mit dem Weib da oben getrieben?« Aber als er Eugen ins Gesicht sah, fragte er rasch, mit freundschaftlich besorgter Stimme: »Was ist los, Eugen? Ist Dir schlecht?«

»Augenblick! Gleich wieder gut!« sagte Eugen mit dicker Zunge.

Er ging zum Rinnstein und erbrach in die Gosse. Dann richtete er sich auf und wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab.

»Ist Dir besser jetzt?« fragte Jim Trivett.

»Ja. Wieder in Ordnung«, sagte Eugen.

»Warum hast Du nichts gesagt, daß es Dir übel war?« fragte Jim Trivett vorwurfsvoll.

»Es kam so verdammt plötzlich«, erklärte Eugen. »Mir scheint, ich hab heut abend in dem griechischen Restaurant etwas Unrechtes gegessen.«

»Mir ist der Fraß tadellos bekommen. Na, 'ne Tasse Kaffee, und der Bauch wird wieder in Ordnung sein«, bemerkte Jim Trivett freudig überzeugt.

Sie gingen langsam den Hügel hinauf. Das Licht der Ecklaternen lag starr auf den Fassaden der armseligen Häuser.

»Jim«, sagte Eugen nach einer Weile.

»Ja, was?«

»Sag niemandem was davon, daß mir übel geworden ist«, bat Eugen unbeholfen.

Jim Trivett sah ihn überrascht an.

»Warum denn nicht? Ist doch nichts dabei. Kann jedem passieren.«

»Das schon. Aber mir wärs lieber, wenn es unter uns bliebe.«

»So. Schon recht. Warum sollte ich auch. Also ich werd's Maul halten«, erklärte Jim Trivett.

Eugen wurde von dem verlornen Gespenst seiner selbst heimgesucht; er wußte um die Unwiederbringlichkeit. Drei Tage lang ging er allen Menschen aus dem Weg; ihm war, als trüge er das Mal seiner Sünde auf die Stirn gebrannt. Er spürte, daß ihn jedes Wort, jede Gebärde verriete. Seine Manieren wurden trotziger, sein Gruß unfreundlicher. Er schloß sich fester an Jim Trivett an, dessen Lob ihm ein trauriges Vergnügen bereitete. Sein ungestilltes Verlangen entbrannte aufs neue; es überrannte seinen Ekel vor der Sache; es umgaukelte ihn mit neuen Bildern. Am Ende der Woche fuhr er wieder nach Exeter, diesmal allein. An ihm sei nichts mehr zu verlieren, dachte er. Diesmal ging er mit Thelma.

 

Als er zu Weihnachten heimfuhr, wimmelten seine Lenden von schwarzem Ungeziefer. Das Land lag öd und riesenhaft unterm bleiernen Himmel. Der Zug rollte über das weite Hochland des Piedmont; es war Nacht; matt und fiebrig wie ein Kranker döste Eugen vor sich hin. Der Zug schnob ins Gebirg. Dunkel ragten die verschneiten, schwarzbeforsteten Berge. In seinen vereisten Ufern zog weiß ein Fluß durchs Tal. Eugens Herz hob sich beim Anblick der ewigen Berge. Er war hier geboren! Aber als er in der Tagesfrühe mit den andern Studenten ausstieg, war er wieder niedergeschlagen. Die kleinen, billigen Häuser am Bahnhof kamen ihm gemeiner und näher vor als je. Der Berghang hinterm Bahnhofsviertel mit den winzigen, hochgepfropften Häusern war unnatürlich nah wie eine Vision. Der Stadtplatz schien während seiner Abwesenheit zusammengerückt zu sein, und als er aus der Trambahn ausstieg und nach Dixieland hinunterging, kam er sich vor wie ein Riese, der die Entfernungen der Spielzeugstadt mit seinen Schritten durchmißt.

Die Weihnachten waren grau und kalt. Helenes Wärme fehlte. Gant und Eliza vermißten sie sehr. Auch Lukas war nicht heimgekommen. Ben kam und ging wie ein Gespenst. Und Eugen war krank vor Scham über das Verlorne.

Er wußte nicht, wo er sich hinwenden sollte. Er ging nachts murmelnd in seinem kalten Zimmer auf und ab, bis Eliza im Hauskleid mit sehr bekümmertem Gesicht in der Tür erschien. Sein Vater war leiser, älter geworden; er war geistesabwesend und vergrämt. Gleichgültig erkundigte er sich bei dem Sohn über das Leben auf der Universität. Eugens Kehle war wie zugeschnürt. Er stammelte ein paar verlegne Antworten und floh das Haus, floh vor der leeren Angst in Gants Augen. Er lief planlos herum, Tag und Nacht. Er versuchte, seiner Angst Herr zu werden. Er bildete sich ein, am Aussatz zu verfaulen. Und daß er unheilbar verseucht sei. Denn so hatten ihn die Moralisten in seiner Jugend unterrichtet.

Ziellos, planlos, verzweifelt lief er herum. Er war außerstand, seinen ruhlosen Gliedern Rast zu gönnen. Er schweifte über die Hänge der östlichen Berge, die hinter der Negerstadt aufragten. Die Wintersonne kämpfte mit dem Nebel; drunten auf den Matten und hoch auf den Gipfeln lag das Licht auf der Erde wie Milch.

Er blieb stehen, blickte umher. Ein Hoffnungsstrahl drang in seine Geistesnacht. Ich werde zu meinem Bruder gehen, dachte er.

Er fand Ben in der Woodson Street, noch im Bett, rauchend. Er schloß die Tür, raste wild im Zimmer herum, wie ein gereiztes Tier im Zwinger.

»Bist Du verrückt geworden«, rief Ben wütend. »Was ist los mit Dir?«

»Ich bin – – krank«, keuchte er.

»Was ist los? Wo fehlt's? Wo bist Du gewesen?« fragte Ben scharf. Er richtete sich im Bett auf.

»Mit 'ner Frau«, gestand Eugen.

»Setz Dich mal, Eugen«, sagte Ben ganz ruhig nach einer Pause. »Sei doch so kein kleiner Blödel! Du wirst nicht dran sterben, weißt Du. Wann war es?«

Eugen platzte mit dem Geständnis heraus.

Ben stand auf und zog sich an.

»Komm«, sagte er. »Wir gehn zu McGuire.«

Als sie zur Stadt hinaufgingen, versuchte Eugen zu reden, wirre Erklärungen, gestammelte Rechtfertigungen vorzubringen.

»Es war so«, legte er selbstanklägerisch los, »weißt Du, wenn ich geahnt hätte, aber ich hatte doch gar keinen Begriff, natürlich, es war mein Fehler, ganz meine Schuld ...«

»Um Himmels willen!« fauchte Ben ungeduldig, »hör doch auf mit dem verdammten Gewäsch! Ich bin doch nicht Dein Schutzengel.«

Immerhin: trostreich die Nachricht, daß so viele Männer seit unsrer Austreibung aus dem Paradies damit geschlagen sind, sehr trostreich.

Sie gingen durch den weiten Korridor des Doctor's and Surgeon's Building. Die aufregenden, scharfen, medizinischen Gerüche. McGuires Wartezimmer war leer. Ben klopfte an die Innentür. McGuire öffnete, löste die nasse Zigarette, die ihm an der Lippe klebte, grüßte:

»Hallo, Ben!« bellte er. Er sah Eugen. »Hallo, mein Sohn. Seit wann bist Du zurück?«

»Er bildet sich ein, daß er an der galoppierenden Schwindsucht eingeht«, erklärte Ben mit einem Handschnicken. »Vielleicht können Sie was tun, McGuire, um sein Leben zu verlängern?«

»Wo fehlt's denn, Sohn?« fragte McGuire.

Eugen schluckte trocken, verrenkte den Hals.

»Kann ich Sie allein sprechen?« würgte er hervor. Er wandte sich verzweifelt an seinen Bruder. »Bitte, Ben, wart hier auf mich. Ich kann Dich nicht dabei haben.«

»Ich denk ja gar nicht dran, mit reinzukommen«, sagte Ben mürrisch. »Ich hab an meinen eignen Sorgen genug.«

Eugen folgte dem vierschrötigen McGuire ins Ordinationszimmer. McGuire setzte sich an den mit Papieren beladnen Schreibtisch.

»Setz Dich, Sohn«, befahl er. Er zündete eine Zigarette an. »So, und jetzt sag mir, was mit Dir los ist.« Er sah dem Jungen scharf in das verkrampfte Gesicht. »Vor allen Dingen, ruhig Blut, Junge! Vermutlich ist die Sache halb so schlimm, wie Du Dir vorstellst.«

»Es kam so«, fing Eugen leise an. »Ich habe einen Fehltritt getan. Ich weiß das. Und ich bin bereit, die Folgen auf mich zu nehmen. Ich will mich nicht mit Entschuldigungen herausreden.« Seine Stimme wurde schrill. Er war halbaufgestanden und schlug heftig mit der Faust auf den unaufgeräumten Schreibtisch. »Ich lade niemandem die Schande auf, ich mache keinem Menschen einen Vorwurf, verstehen Sie?«

Der Arzt sah den Patienten bestürzt an; die nasse Zigarette hing lose in seinen halbgeöffneten Lippen.

»Was soll ich verstehen?« fragte er. »Hör mal, Junge, wovon sprichst Du eigentlich? Weiß der Teufel, ich bin kein Sherlock Holmes, das dürfte Dir bekannt sein. Ich bin Dein Arzt: also sprich frei von der Leber weg!«

Der Junge antwortete mit bitter verzognem Gesicht.

»Was ich getan habe«, erklärte er dramatisch, »haben Tausende getan. Sie gestehn es bloß nicht ein. Aber es ist trotzdem wahr. Sie sind Arzt und wissen, daß es wahr ist. Leute aus der besten Gesellschaft sogar tun es. Ich bin einer von denen, die Pech haben. Ich bin reingefallen. Warum soll ich also schlechter sein als sie? Warum also ...«, fuhr er rhetorisch fort.

»Aha!« sagte McGuire. »Mir geht ein Licht auf! Laß mich mal die Sache besehn!«

Eugen gehorchte fieberhaft, immer weiter deklamierend.

»Warum soll ich das Brandmal tragen, wenn andre ungestraft ausgehn? Heuchler, verdammte, schmutzige, winselnde Heuchler, das sind sie! Sie messen mit zweierlei Maß! Wie soll man da an Ehre glauben? Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Warum soll ich dafür angeklagt werden, wenn Leute aus der besten Gesellschaft ...«

McGuire hob den großen Kopf mit dem Kritikerblick und bellte komisch:

»Ei, wer klagt Dich denn an? Bildest Du Dir vielleicht ein. Du. wärst der erste, der sich was geholt hat? Außerdem fehlt Dir überhaupt nichts!«

»Können Sie mich kurieren?« fragte Eugen langsam.

»Nein, Du bist unheilbar, Sohn«, sagte McGuire. Er kritzelte ein paar Hieroglyphen auf den Rezeptblock. »Das bringst Du zum Apotheker«, sagte er, »und das nächste Mal gibst Du besser acht, mit wem Du Dich einläßt. Leute aus der besten Gesellschaft? So?« Er grinste. »Mit denen willst Du Dich amüsiert haben?«

Dem Jungen war ein Fels vom Herzen gehoben, ihm schwindelte vor Glück, er war toll vor Übermut. Er stieß wirre, unbewußte Worte hervor. Er öffnete die Tür zum Wartezimmer. Ben sprang nervös auf.

»Na, wie lang hat er noch zu leben?« Ernsthaft und leis aber fragte er den Arzt: »Nichts Ernstes, wie?«

»Überhaupt nichts«, sagte McGuire. »Aber ich glaub, er hat 'nen Sparren. Kein Wunder, Ihr habt ja alle einen.«

Als sie wieder auf die Straße traten, fragte Ben:

»Hast Du gefrühstückt?«

»Nein«, sagte Eugen.

»Wann hast Du zum letztenmal was zu Dir genommen?«

»Gestern irgendwann, ich weiß nicht mehr genau.«

»Du verdammter Narr!« knurrte Ben. »Komm, gehn wir essen!«

Der Vorschlag erweckte angenehme Vorstellungen. Herrlich lag die Welt da im milchigen Wintersonnenschein, Pulsierendes warmes Leben wogte durch die festtäglich bewegte Stadt. Eugen ging mit großen, hüpfenden Schritten an Bens Seite. Er konnte seine aufwallende Daseinslust kaum zügeln. Als sie um eine Straßenecke bogen, sprang er mit einem Freudenjuchzer in die Luft: »Squieh!«

»Du kleiner Idiot!« schalt Ben scharf, »Bist Du verrückt?« Er rückte die Brauen herunter, begegnete dem brüllenden Gelächter der Vorübergehenden mit einem dünnen Lächeln.

»Halt ihn fest, Ben!« rief Jim Pollock. Er war Übersetzer an der Zeitung, ein totenblasser, kleiner Mann mit schwarzem Schnurrbart, Sozialist.

»Wenn man ihm die verdammten langen Haxen abschneidet, dann geht er in die Luft wie ein Ballon«, sagte Ben.

Sie gingen in die große, neue Frühstücksstube und setzten sich an einen Tisch.

»'ne Tasse Kaffee und ein Stück Mince-Pie«, bestellte Ben.

»Dasselbe für mich«, sagte Eugen bescheiden.

»Iß!« befahl Ben wild, »iß!«

Eugen studierte nachdenklich die Speisekarte.

»Bringen Sie mir ein paar sanierte Kalbsschnitzel mit Tomatensauce und geröstete Kartoffeln dazu und eine Portion Gelberüben und Erbsen und einen Teller heiße Biskuits«, bestellte er. »Und eine Tasse Kaffee.«

Er fand sein Herz wieder. Den Rest der Ferien genoß er sehr. Er trieb sich hochgemut auf den Straßen herum, sah Frauen und Mädchen kühn aber ohne Frechheit an. Sie erschienen ihm wie unerwartete, mitten in der Winteröde aufgeblühte Blumen. Ein Feuereifer zum Leben erfüllte ihn. Er war allein. Er hatte keine Angst mehr, denn Angst ist ein Drache, der in der Menge und in Armeen haust. Er war über seine Verzweiflung hinweg. Er war zufrieden und hoffte, daß sein Kampf nicht umsonst sein würde.

Er fuhr auf die Universität zurück, gewappnet gegen den Hohn und die gemeinen Anpflaumungen seiner Mitstudenten. Er wußte zurückzuschlagen, und seine Hiebe saßen. Sie ließen ihn in Ruhe. Unbehelligt stand er am Fenster des Wagens und sah auf die weite, öde Erde hinaus, die grau in den Banden des Winters lag.

Der Winter ging vorüber, die frostige Erde taute auf. Kalter Regen fiel, grünes Gras sproß. Die Wege in der Stadt und auf dem Kampus waren aufgeweicht und schmutzig, schwammen von spiegelnden Wasserlachen. Mit großen Känguruhsprüngen kam Eugen die Pfade entlang gerannt; manchmal machte er einen Satz in die Luft, um mit den Zähnen einen herunterhängenden Zweig abzureißen. Er schrie! Ein helles, die Kehle sprengendes Wiehern war sein Schrei, ein Mensch- und Tierschrei, zentaurenhaft, in dem sich sein von Freude, Qual und Leidenschaft erfülltes Herz Luft machte. Und dann wieder kamen Tage, an denen er niedergeschlagen umherschlich, mit einer unnennbaren Trübsinnslast beladen.

Er rechnete nicht mit Stunden – er hatte überhaupt keinen Sinn für Zeit und Zeiteinteilung, keine regelmäßigen Fristen für Arbeit, Schlaf und Erholung. Seine Kurse besuchte er jedoch pünktlich; und er aß ziemlich regelmäßig, weil der Betrieb in der Studentenküche und im Boardinghouse ihn dazu zwangen.

 

Helene und Hugo Barton besuchte er mehrere Male. Sie lebten in der Hauptstadt des Staates, in Sidney, nur 50 Kilometer von Pulpit Hill entfernt. Sidney war eine Stadt von 30000 Einwohnern, verschlafen, mit baumbestandnen, stillen Straßen und einem Kapitolsplatz im Zentrum, von dem die Avenuen strahlenförmig ausgingen. Gegenüber dem Kapitol, am Ende der Hauptstraße, stand ein billiges Hotel, ein braunes, verwittertes, von Flechten bewachsnes Steinhaus: – das bekannteste Bordell in der Stadt. Außerdem gab es drei von Sekten gestiftete Hochschulen, in denen Frauen und Mädchen der speziellen Religionsauffassung ihrer Kirchen entsprechend herangebildet wurden. Die Bartons hatten drei oder vier Zimmer im Erdgeschoß eines alten Hauses gemietet, das in der Nähe des Gouverneurspalasts lag.

Sidney war die Stadt, zu der Gant als junger Mann auf seinem Zug in den Süden von Baltimore her gekommen war. Sidney war es, wo er zuerst selbständig sein Geschäft betrieb, wo er nach dem Verlust seines ersten Kapitals allen Bodenbesitz zu hassen angefangen hatte. Sidney war es, wo er seine erste Frau gefunden und geheiratet hatte, die heilige Cynthia, jene lungensüchtige, alte Jungfer, die nach zweijähriger Ehe starb.

Das große Gespenst ihres Vaters suchte sie heim; es schien für immer über dieser Stadt zu brüten. Sie gingen zusammen in das armselige Stadtviertel auf die Suche. Schließlich standen sie vor einem heruntergekommenen Schuppen, der einstmals eine Steinmetzwerkstatt gewesen war.

»Hier also muß es gewesen sein«, sagte sie. »Hier hat er sein Geschäft gehabt. Und nun ist nichts mehr davon zu sehn.« Sie schwieg eine Weile. »Der arme, alte Papa«, sagte sie dann. Feuchten Auges wandte sie sich ab.

Es war kein Zeichen von seiner großen Hand an dieser öden Stätte, in dieser schnöden Welt. Nicht einmal Reben rankten ums Haus. Was von Gant hier gelebt hatte, war begraben, war mit der toten Ehefrau zusammen verscharrt, war von der grauen Woge der Zeit verschwemmt. Sie standen da und schwiegen beklommen. Wie fremd der Ort war! Sie standen da, gläubigen Unglaubens in der Erwartung, seine große Stimme zu vernehmen, nicht anders als Menschen, die auf den Straßen Brooklyns nach einem Gott Ausschau halten.

 

Im April erklärte das Volk der Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich den Krieg. Eh noch der Monat um war, wurden alle jungen Männer in Pulpit Hill, die über einundzwanzig und tauglich befunden waren, zum Heeresdienst eingezogen. Eugen sah zu, als die Ärzte in der Gymnastikhalle Musterung abhielten. Er beneidete die Jünglinge um die bedenkenlose Unschuld, mit der sie sich vor aller Augen auszogen: sie warfen ihre Kleider in ein Bündel zusammen und traten lachend und selbstsicher in ihrer Nacktheit vor die Ärzte: gutgewachsne, saubre Burschen, gesund und gelenkig, mit gesunden, weißen Zähnen.

Studenten, die in der Musterung für tauglich erklärt worden waren, kamen mit gepackten Handkoffern aus den alten Dormitorien herunter. Sie gingen über den großen Kampus, schritten fort unter den alten Bäumen, die Dorfstraße hinunter. Von Zeit zu Zeit streckten sie die Arme hoch zum Lebwohl:

»So lang, ihr Jungen! Auf Wiedersehn in Berlin!«

Das glänzende und trennende Meer schien nun näher und nicht so breit.

 

Eugen las sehr viel, – planlos und rein zum Vergnügen. Er las Defoe, Smollet, Sterne und Fielding: das feine Salz des englischen Romans, das unter der Herrschaft der Witwe von Windsor von einem Ozean verzuckerten Tees verschwemmt worden ist. Er las Boccaccio und alles, was von einem zerrissenen Band des Heptameron übrig war. Er las Aeschylos, Sophokles, Euripides. Er verliebte sich in die Welt der Fabulierlust, des Traumgesponnenen, Widerdachten und Freierfundnen vom »Goldnen Esel« bis zu Samuel Taylor Coleridge. Er begeisterte sich für Satiriker: Aristophanes, Voltaire, Swift. Er las »Sir Gawayne and the Grene Knight« und »The Book of Tobit«.

Er wollte Gespenster und Wunder nicht erklärt haben. Und er sehnte sich nach Gespenstern, nicht nach indianischen, sondern nach Geistern, die in Rüstungen umgehen, den Schemen alter Könige, den Spukgestalten der Damen von einst hoch zu Roß mit hohen konischen Hüten. Damals merkte er zum erstenmal, wie einsam das Stück Erde war, auf dem er wohnte. Und plötzlich erschien es ihm sonderbar, daß er da mitten in der Wildnis hockte und seinen geliebten Euripides las.

Um ihn war das Dorf, und darüber hinaus war die wellige, häßliche Gegend mit den vereinzelten Farmen, und darüber hinaus war Amerika – noch mehr Land, noch mehr billige, hölzerne Farmhäuser, noch mehr Städte: hart, häßlich und roh. Er saß da und las den Euripides, und ringsum war eine Welt von Weißen und Negern, die von gebacknen Speisen lebte. Er las von dem alten Spuk, den alten Hexereien ... aber ging je ein altes Gespenst in diesem Lande um?

Plötzlich hatte er das vernichtende Gefühl von der Unbeständigkeit seiner Nation. Nur die Erde überdauerte, die gigantische, amerikanische Erde, die eine Welt windiger, fallsüchtiger Baulichkeit an ihren schreckhaften Brüsten trug. Nur die Erde überdauerte, diese breite furchtbare Erde, die von keinen Gespenstern heimgesucht war. Ach, verschollen in der Wüste, verschüttet, verweht, halbzertrümmert unter den geborstnen Säulen verlorner Tempel ... da war kein zerbrochnes Bild des Menkaura, kein Alabasterhaupt Echnathons. Nichts war aus Stein. Nur die Erde überdauerte, an deren einsamem Herzen er den Euripides las. In ihren Gebirgen hatte er, ein Gefangner, gehaust; auf ihren Ebnen wanderte er allein, ein Fremdling.

O Gott! O Gott! Wir sind Verbannte in einem andern Land gewesen und Fremdlinge in unserm eignen. Die Berge waren unsre Meister. Eh' wir noch fünf Jahre alt wurden, standen sie fest in unsern Augen, in unsern Herzen. Und alles, was wir sagen und tun, ist an die Berge gebunden. Unser furchtbares Land hat unsere Sinne genährt. Unser Blut pulst im Herzschlag Amerikas. O dieses Land, das wir verlassen, aber nie verlieren, nie vergessen können! Wir gingen auf einer Landstraße in Cumberland, wir mußten uns bücken, weil die Decke des Himmels so niedrig hängt. Wir flohen aus London und gingen an kleinen Flüssen entlang in einem Land, das gerade groß genug und nicht größer ist. Und nirgends, wo wir hinkamen, war Weite. Erde und Himmel waren eng und nah. Und der alte Hunger kam wieder, der dunkle, furchtbare Hunger, der den Amerikaner peinigt und heimsucht, dieser Hunger, der uns zu Haus zu Verbannten und überall sonst zu Fremdlingen macht

 

Im Frühjahr kam Eliza zu Helene nach Sidney zu Besuch. Das Mädchen war stiller, trauriger, nachdenklicher geworden. Ihr neues Leben hatte sie untergekriegt; in Sidney galt sie nichts. Sie vermißte Gant mehr, als sie eingestand. Und sie hatte Heimweh nach der Bergstadt.

Eliza sah sich kritisch um.

»Was zahlst Du für die Wohnung?« fragte sie.

»Fünfzig Dollar im Monat«, sagte Helene.

»Möbliert?«

»Nein, wir mußten uns Möbel kaufen.«

»Ich will Dir was sagen, Kind, das ist schön teuer. Und bloß fürs Erdgeschoß. Daheim sind die Mieten billiger.«

»Ich weiß, daß es ziemlich teuer ist. Aber um Gottes willen, Mama, bist Du Dir denn klar darüber, daß wir hier im vornehmsten Stadtviertel wohnen? Zwei Straßen weiter steht der Gouverneurspalast! Und Mistress Matthews ist keine gewöhnliche Vermieterin, nein, gewiß nicht!« rief sie lautlachend aus. »Sie ist eine wirkliche, große Dame. Zu allen wichtigen Anlässen wird sie eingeladen. Ihren Namen und ihr Bild kannst Du jederzeit in der Zeitung unter Gesellschaftsnachrichten finden! Und Du weißt doch. Hugo und ich müssen Aufwand treiben. Hier ist er ein junger Mann, der gerade anfängt!«

»Ja! Ja, ich weiß«, sagte Eliza nachdenklich. »Wie lassen sich denn seine Geschäfte an?«

»Sein Chef sagt, daß Hugo sein bester Agent ist«, erklärte Helene. »Du weißt ja, er ist sehr tüchtig. Wir können überall anständig leben, sofern wir seine verdammte Familie los sind. Aber was mich manchmal ganz wild macht, ist, daß ich mitansehen muß, wie er sich abrackert, bloß damit sein Chef die dicken Gelder einsteckt. Der Chef, weißt Du, kriegt eine Kommission für jeden Verkauf, den Hugo abschließt.«

»Ich will Dir was sagen, Kind«, bemerkte Eliza mit einem scheuen, halb-ernsten Lächeln, »es wäre gar nicht schlecht, wenn Hugo sein eigner Herr würde. Es hat keinen Sinn, sich für andre zu plagen. Sag mal, war' es nicht ein guter Gedanke, wenn er versuchte, die Agentur in Altamont zu bekommen? Ich glaub nicht, daß der Mann, der den Posten jetzt hat, viel taugt. Hugo brauchte sich nicht anzustrengen, um die Agentur zu bekommen.«

Eine Pause trat ein.

»Wir haben auch schon daran gedacht«, gestand Helene langsam. »Hugo hat ans Zentralbüro geschrieben.« Sie schwieg wieder. »Jedenfalls wäre er dann sein eigner Herr. Und das ist was wert.«

»Nu ja«, sagte Eliza bedächtig. »Der Plan deucht mich gut. Wenn er arbeitet, dann besteht kein Hinderungsgrund für ihn, er kann dort ein glänzendes Geschäft aufbauen. Und Dein Papa hat letzthin wieder sehr über sein Leiden geklagt. Die Operation hat gar nichts geholfen; die ganze Geschichte ist wieder gekommen. Und er wäre froh, wenn er Dich wieder um sich hätte.«

 

Zu Ostern kamen sie auf zwei Tage zu Besuch nach Pulpit Hill. Eliza nahm Eugen mit nach Exeter und kaufte ihm einen neuen Anzug.

»Ich kann diese engen Hosen nicht an ihm leiden«, sagte sie zu dem Verkäufer. »Er braucht etwas Volles, so daß er mehr wie ein Mann aussieht.«

Als er neueingekleidet vor ihr stand, mahnte sie:

»Halt Dich grad, Junge! Nimm die Schultern zurück! Das ist ein Punkt, wo Du Dir Deinen Vater zum Vorbild nehmen kannst. Er hält sich kerzengrade. Wenn Du so krumm herumschlappst, wirst Du die Lungenschwindsucht haben, eh' Du fünfundzwanzig bist.«

 

»Darf ich bekannt machen?« stellte Eugen linkisch vor. »Mister Ballantyne – meine Mutter.«

Joseph Ballantyne, ein geleckter, rosiger Jüngling, war zum Präsidenten der Freshmen-Klasse gewählt worden.

»Ei! Sind Sie mir ein gutaussehender, smarter Bursch!« sagte Eliza. Sie lächelte. »Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen: Wenn Sie mir unter Ihren Freunden und Bekannten Kunden zusammentrommeln, haben Sie bei mir im Boardinghouse freie Station. Hier haben Sie ein paar Empfehlungskarten«, fügte sie hinzu und öffnete ihre Handtasche. »Sie könnten ein paar davon an die rechten Leute bringen und dazu ein gutes Wort für die Pension Dixieland im schönen Altamont einlegen.«

»Ja, Madam«, sagte Mister Ballantyne langsam und verlegen. »Ich will mich gerne bemühen.«

Mit heißem, verstörtem Gesicht sah Eugen Helene an. Sie lachte heiser, ironisch, dann wandte sie sich an den Jüngling: »Jedenfalls, Mister Ballantyne, Sie sind jederzeit willkommen! Ob aus dem Geschäft was wird oder nicht, wir werden Sie gern bei uns sehn.«

Als Eugen dann mit Helene allein war, erwiderte sie mit einem verdrießlichen Grinsen auf seine gestammelten Einwände:

»Ja, ich weiß, es ist unausstehlich. Aber Du kannst von Glück sagen, Du bist meistens weit vom Schuß. Kannst Du Dir vorstellen, was ich die ganze vorige Woche alles mitanhören mußte? Schlimm, sage ich Dir. Das siehst Du doch ein, nicht wahr?«

Als Eugen am Ende des Studienjahrs heimkam – es war spät im Mai –, waren Helene und Hugo Barton ihm schon voraus gereist. Sie hausten mit Gant zusammen in der Woodson Street. Hugo Barton hatte die Altamonter Agentur bekommen.

Die Stadt und die ganze Nation tobten vor patriotischer Raserei, chaotisch, krampfhaft und ziellos vor lauter Betriebigkeit. Der Same Attilas muß von den Söhnen der Freiheit zerstampft werden; »mit Stumpf und Stiel ausgerottet«, erklärte der Reverend Mister Smallwood. Es gab Kriegsanleihen und Staatsobligationen, große Reden wurden gehalten. Man sprach davon, daß mehr Soldaten eingezogen würden, und ein paar Yankeeregimenter sickerten ganz allmählich in Frankreich ein. General Pershing kam nach Paris und sprach: »Lafayette, wir sind da!« Aber die Franzosen blickten immer weiter nach Hilfe aus. Ben trat vor die Musterungskommission und wurde zurückgewiesen. »Schwach auf der Lunge«, sagten die Ärzte. »Nein, nicht tuberkulös. Aber Anlage dazu vorhanden. Sie wiegen zu wenig.« Ben fluchte. Sein Gesicht wurde noch mehr wie eine Klinge, dünner, grauer. Die Runzelfurche auf seiner Stirn klaffte tiefer. Er schien noch einsamer zu sein.

Eugen kam heim in die Berge und fand sie im reichen Glanz des jungen Sommers. Dixieland war zum Teil voll von zahlenden Gästen. Und weitere trafen ein.

Eugen war sechzehn, ein flotter Kerl, ein Student. Er bummelte nachmittags durch die fröhliche, erregte Menge mit dem Gefühl des Gehobenseins, er erwiderte die herzhaften Begrüßungen freudig, beglückt von dem gedankenlosen Bombast.

»Man hat mir erzählt, daß Ihnen die Mädchen da unten in Scharen nachlaufen, Sohn«, gellte der Besitzer der großen Drogerie, der junge Mister Wood, dem kein Mensch etwas dergleichen erzählt hatte. »Das ist recht, Junge! Immer zugegriffen!« Er trat in seinen wohlstandglänzenden, laubenkühlen Laden. Die Fächer dröhnten.

Wenn man alles in Betracht zieht, dachte Eugen, hab ich mich gar nicht so schlecht gehalten. Ich hab meine ersten Wunden empfangen. Ich bin ganz und heil geblieben. Ich hab das bittre Erlebnis der Liebe an mir erfahren. Ich stand allein.


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