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IX

Ja, und die Zeit, wenn Proserpina wiederkehrt, wenn der Zeres totes Herz aufs neue entbrennt, wenn aller Wald von zartem Dunste schwimmt und winzige Vögel durch ausgelaubtes Gezweig singender Bäume flitzen, wenn der schwammige Teer auf die Straßen gefahren wird und die Buben, die Taschen klümprig mit Kreiseln und achatnen Murmeln, kleine heiße Teerbälle auf der Zunge rollen ... ja, dann grollt der berstende Donner nachts, dann fällt der millionenfüßige Regen; morgens sieht man, Wolkenfetzen am stürmischen Himmel ... und wenn der Junge aus dem Gebirg, der Handlanger, seinen Leuten, die einen Zaun setzen, den Wasserkrug bringt, dann hört er den Wind durchs Gras schlängeln und drunten im Tal den langhinseufzenden Pfiff und das matte Geläut einer Schelle ... die großen blauen Berge scheinen ihm näher, dichter, herangerückt, denn er hat ein wortloses Gelöbnis vernommen: der Frühling, ein scharfes Messer drang in sein Herz.

Und das Leben wirft den rostroten, verwitterten Schutzpelz ab, und die Erde sprießt auf mit zarter, unerschöpflicher Gewalt, und der Becher des Menschenherzens fließt über von sagenhaftem Erwarten, stummen Versprechungen, unerklärlicher Sehnsucht. Irgend etwas schnürt dem Menschen die Kehle, irgend etwas blendet ihm den Blick, und ein mutiger Hörnerklang tönt leise durchs Erdreich.

Die kleinen langzöpfigen Mädchen trotten pflichtschuldig den Schulweg – aber die jungen Götter säumen. Sie hören die Schalmei, die Flöte, das Getrampel der Bockshufe im moosigen Wald. Sie schwanken, sie lauschen, sie sind am gespanntesten, wenn sie müßig zu warten scheinen; schließlich gehen sie verwirrt weiter zu dem einzigen Heim, das sie kennen. Aber die Erde ist voll von uraltem Rumor, und sie können den Weg nicht finden. Alle Götter haben den Weg verloren, alle.

Was sie gegen die Barbaren hatten, hüteten sie. Eugen, Max und Harry regierten über die kleine Nachbarschaft. Sie führten Krieg gegen die Neger und die Juden, an denen sie ihren Spaß hatten, und gegen die verhaßte, verachtete Brut aus der Pigtail Alley.

Sie hockten in der Dämmerung auf der Mauer, bei der flackernden Gaslaterne an der Straßenecke, und spähten aus. Sie lagen in Gants Garten im dichten Gebüsch versteckt und lauerten auf verliebte Negerpärchen, die dort vorbeigingen. Sie hatten einen langen, ausgestopften Strumpf an einer Strippe; das Ding sah wie eine Schlange aus. Das Stammeln, Gurgeln, Quieken der Erschreckten, das Lachen der Buben gellte im Dunkel. Dem schwarzen Lieferjungen des Grünzeughändlers, der auf dem Fahrrad elegant im Freilauf den Berg hinuntersauste, schmissen sie Steine nach.

Nein, sie haßten sie nicht, die Neger. Clowns sind eben schwarz in den Südstaaten. Sie hatten gelernt, wie man mit diesem Volk umgehen muß. Puffe sie in Güte, verfluche sie freundlich, gib ihnen mächtig zu futtern. Menschen behandeln einen treuen, schwanzwedelnden Hund gut, aber muß dieser Hund gewohnheitsmäßig auf zwei Beinen herumlaufen? Sie wußten: von einem Nigger nimmt man nichts an. Man läßt sich nicht auf Argumente mit ihm ein. Die einzige Antwort auf die Einwände des Schwarzen ist ein Knüppel auf den Kopf und ein Schädelbruch. Bloß, daß es unmöglich ist, einen Niggerschädel zu brechen.

Die Juden spuckten sie lustig an. Ersäuf den Juden, verhau den Nigger.

Die Jungen paßten auf Juden, folgten ihnen bis ans Haus und schrien: »Gänseschmalz! Gänseschmalz!« Sie glaubten unbedingt, daß Semiten in der Hauptsache von Gänseschmalz leben. Oder sie riefen: »Wischamadei! Wischamadei!«, blind davon überzeugt, daß dieses entstellte, vielleicht falsch überlieferte, vielleicht freierfundne Schimpfwort die tiefste, unaussprechlichste Beschimpfung für jüdische Ohren sei.

Eugen war nicht für Pogrome; bei Max aber war es Leidenschaft. Ihre Nachstellung galt vor allem dem kleinen Isaak Lipinski. Sie überfielen ihn bei jeder Gelegenheit, jagten ihn über Straßen und Wege, über Zäune und durch Gärten, durch Scheuern und Ställe bis in sein Elternhaus. Der kleine Kerl mit dem pfiffigen Gesicht war flink und gewandt. Immer entkam er. Er grinste mit jiddischer Verachtung und Überlegenheit, deutete mit dem Daumen auf sie, forderte sie zwinkernd zur Wiederverfolgung heraus.

Manchmal in der Dämmerung schlichen sie vor ein jüdisches Haus. Sie kauerten unterm Fenster, eng aneinandergedrückt. und lauschten kichernd auf den hysterischen Zank, von dem beinah allabendlich die vier Wände der Hebräer bebten.

Johlend liefen sie einst hinter zwei streitenden Juden, einem Alten und seinem Schwiegersohn, her. Die beiden griffen ständig an und kniffen ständig aus, drangen abwechselnd aufeinander ein und wichen im letzten Augenblick voreinander zurück. Die Buben barsten fast vor Lachen.

Der blasse Louis Greenberg, kürzlich von der Universität heimgekehrt, trank Blausäure. Der Vater des Selbstmörders, ein orthodoxer Alter, wurde gerufen. Eugen, Max und Harry standen neugierig vor dem Klagehaus. Der Alte kam. Er trug einen schwarzgrünen speckigen Kaftan und einen verbeulten steifen Hut. Er gestikulierte wild und jammerte: »o yoi, o yoi, o yoi, o yoi ... oyoiyoipoipoi ...« und rannte ins Haus. Die Rangen lachten sich halbkrank über ihn.

 

Die flachshaarigen Kinder aus der Pigtail Alley aber haßten sie mit einem humorlosen, tödlichen Haß. Pigtail Alley war eine kotige Gasse am untern Ende der Woodson Street, am Rande eines veralgten Sumpfs. Dort hauste in elenden, weißgetünchten Holzhütten verkommenes Volk, arme Weiße. Knochige, schnupfnasige Weiber und wüste, dumpfe Männer, denen der Kautabakspeichel über die brutalen Kinnbacken lief, lungerten in der Sonne vor den stinkenden Hütten herum. Die Kinder waren fast alle weißblond. Abends roch es nach halbfaulem Fleisch, das in ranzigem Fett gebraten wird. Flackernde Ölfunzeln brannten in den trüben Hausungen. Man hörte das scharfe Gekeif der Weiber und das besoffne Gebrüll der Männer, Geschrei und Flüche, Flüche und Geschrei.

Einst zur Kirschenzeit hatte Lukas, der Hauptmann, seinen Trupp Zeitungsträger, Judenbuben und Christensöhne, zum Pflücken in Gants Garten gebracht. Die ganze Bande turnte im Geäst und brach die hellroten Herzkirschen in kleine Körbchen; ein Viertel des Gepflückten sollte den Arbeitenden gehören. Ein weißblonder Bub aus den Elendshäusern erschien mit unschlüssigem, traurigem Gesicht im Garten.

Lukas war fünfzehn. »Immer rauf auf den Baum, Söhnchen!« befahl er herzhaft. »Da! Nimm Dir ein Körbchen und los!«

Eugen wiegte sich begeistert und lebensfroh im höchsten Wipfel des Baums. Der Bub kam wie eine Katze den beharzten Stamm heraufgeklettert, schwang sich ins Geäst und pflückte mit unglaublicher Geschwindigkeit sein Körbchen voll. Er ließ sich gewandt auf den Boden herunter und leerte es in den großen Sammelkorb. Er war schon wieder halb den Stamm hinaufgeklettert, als seine Mutter, ein hageres, knochiges Weib, im Garten erschien.

»Haij, Reese«, schrillte sie. »Was suchstu'enda?« und hieb ihm mit einer Gerte über die braunen Waden. Der Junge heulte.

»Mach, daß 't hejmkummst«, befahl sie und schlug ihn wieder.

Keifend trieb sie ihn mit Rutenschlägen vor sich hin. Der Bub sprang hoch vor Schmerz und schrie auf. Wenn er stehen bleiben wollte, schlug sie noch härter zu.

Die Buben auf den Bäumen kicherten schadenfroh. Aber Eugen, der das verhärmte, verhärtete Gesicht der Frau, das zornige Mitleid in ihren grellen Augen gesehen hatte, spürte einen Stich im Herzen. Es war, als ob ein Geschwür in ihm risse.

»Der arme Kerl, er hat seine Kirschen hiergelassen«, sagte er zu Lukas.

 

Die Buben johlten hinter Loney Shytle her, die nach Lumpen stank, einen riesenhaften Federhut auf dem trüben Fransenhaar trug, faustgroße Löcher in den Fersen ihrer schmutzigen weißen Strümpfe hatte. Sie war der Grund blutschänderischer Eifersucht zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder; am Hals hatte sie eine große Narbe von einer Wunde, die ihr ihre Mutter einst mit dem Rasiermesser beigebracht hatte; sie hatte den steifen, spreizbeinigen Hoppelgang der Geschlechtskranken.

 

Eines Tages hatten sie einen Buben aus der Alley umzingelt. Furchtsam zog sich der arme Kerl in eine stinkende Mauerecke zurück. Willie Isaacs, ein jüngerer Bruder von Max, verhöhnte ihn, hämisch lachend:

»Deine Mutter nimmt Wäsche ins Haus; sie wäscht für 'nen dreckigen ollen Nigger!«

Das Opfer des Hohns zuckte im Gesicht. Willie bog sich vor Lachen über den trefflichen Einfall. Harry Tarkinton brüllte vor Vergnügen. Eugen wandte sich unentschieden weg, renkte krampfhaft den Hals, hob den einen Fuß scharf vom Boden wie jemand, der sich vor Schmerz windet:

»Das ist gelogen!« schrie er seinen erstaunten Gefährten ins Gesicht. »Das ist gelogen!«

 

Harry Tarkintons Eltern waren aus England eingewandert. Er war drei oder vier Jahre älter als Eugen, ein untersetzter, täppischer Junge mit stumpfem Gesicht und einer von chronischem Katarrh verschwollnen Nase. Immer roch er nach den Farben und Ölen, mit denen sein Vater handelte. Er war der Zerstörer der Visionen, der Anstifter zur Anstößigkeit. Eines schönen Abends lagen sie und schwatzten im hohen kühlen Gras. Die Sonne ging unter. Da zertrümmerte Harry auf immer den holden Zauber, der Weihnachten heißt. Dafür bot er Eugen den Ölfarbengestank, die Abortluft, die stumpfe, schweißige, phantasielose Passion des Vulgären. Eugen konnte ihm nicht folgen; in diesen Regionen roch es ihm zu schlecht.

An einem öden Nachmittag stöberten die zwei im Dachstock des Gantschen Hauses. Sie fanden eine Flasche, halbvoll mit einem Haarwuchsmittel.

»Hast du schon Haar unten am Bauch?« forschte Harry.

Eugen war verlegen, machte Ausflüchte, gestand. Sie knöpften sich die Hosenlätze auf und schmierten sich mit öligen Händen die Bäuche ein. Tagelang warteten sie verzückt auf das Goldne Vlies.

»Haar da unten macht 'nen Mann aus Dir«, behauptete Harry.

 

In diesem Frühling ging Eugen oft in die Werkstatt seines Vaters am Stadtplatz. Alles dort gefiel ihm: Die helle Sonne auf dem Pflaster. Der Blick aufs Gebirg. Das wehende Gesprüh des Springbrunnens. Die redseligen Feuerwehrmänner. Die Kutscher und Fuhrleute, die sich träg vor Gants Backsteinschuppen herumtrieben, mit den Peitschen um die Wette knallten, miteinander häkelten. Jannadeau hinter den niegewaschnen Scheiben, der, die Uhrmacherlupe eingeklemmt, geschickt etwas im Räderwerk einer Uhr richtete. Der moosige, feuchte Geruch des ganzen Baus.

Im ersten Raum war Gants Lager: der Boden hatte sich vom Gewicht der Steine gesenkt. Da standen polierte Platten aus Georgia-Marmor, unbehaune Blöcke aus Vermont-Granit, bescheidne, mit einer Urne oder einem liegenden Lamm gezierte Grabmale, und – große, fliegenverdreckte verstaubte Engel aus Carrara in Italien, die Gant für schweres Geld erstanden hatte und nie verkaufte. Sie waren seine Freude, sein Stolz.

Durch eine Holzwand abgeteilt war ein anderer Raum, die Werkstatt mit dem Abort in der Ecke und dem Waschbecken. Der Steinstaub lag fingerdick auf den groben Holzböcken, den mit Meißeln, Bohrern, Hämmern vollbesteckten Werkzeugregalen, dem kleinen, zerbeulten gußeisernen Ofen. Sandsteinsockel standen herum. Brennholz und Kohle lagen in losen Haufen aufgeschüttet am Boden. Am Fenster stand ein Schleifstein mit einem Pedal; Eugen spielte stundenlang damit; das zunehmende Sausen des Rades begeisterte ihn.

Ein dritter, kleinerer Raum diente Gant als Büro. Staub von zwanzig Jahren, zusammengebündelte Stöße von schmutzigen Papieren auf dem altmodischen Schreibtisch; ein Ledersofa, ein zweiter Schreibtisch, auf dem geschichtet kleine rechteckige Täfelchen, die Stein- und Politurmuster, lagen. Durch die trüben Scheiben des niegeöffneten Fensters blickte man auf Will Pentlands Bürohaus und Holzlager hinaus und sah eine Ecke des Marktplatzes, der, nur durch einen kurzen Straßenblock abgeschnürt, auf dem Hang neben dem Stadtplatz lag.

Gewöhnlich fand Eugen seinen Vater im Gespräch mit Jannadeau in der Juwelierwerkstatt; Gant stützte sich schwer auf den zerbrechlichen Glastisch. Oder die beiden Männer unterhielten sich über den Zaun, der Jannadeaus Ecke von dem Grundstück ausgrenzte. Sie sprachen über Politik, Krieg, Tod und Hungersnot. Gant Schimpfte auf die Demokraten und schob ihnen die Schuld am schlechten Wetter und an den hohen Steuern in die Schuhe. Er pries Teddy Roosevelts sämtliche Aussprüche, Handlungen und Prinzipien. Der urteilsfähige, besonnene Schweizer entgegnete mit statistischen Einwänden. Sein einziges Nachschlagewerk war ein drei Jahre altes Exemplar von »The World Almanac«, vollständig abgegriffen und mit Fingerspuren beschmutzt. Er schlug nach und bemerkte etwa so: »Aha! Ganz wie ich mir dachte! Die Munizipalsteuer in Milwaukee während der demokratischen Verwaltung 1905 war 2,25 Dollar auf Hundert, also niedriger als sie seit Jahren war.« Er disputierte mit Eifer und bohrte dabei mit seinen stumpfen schwarzen Fingernägeln in der Nase. Sein breites gelbes Gesicht legte sich in fettige Falten, wenn er über Gants Unvernunft lachte.

Gant aber war nie abzubringen, nie zu überzeugen: »Ich prophezeie es, Jannadeau«, dröhnte er, »wenn die Demokraten bei der Wahl gewinnen, dann kommt es zu Bankkrächen, wir müssen Suppenküchen, für die Armen einrichten, und wir beide werden vor Hunger verreckt sein, ehe noch der nächste Winter herum ist.«

Dann wieder fand Eugen seinen Vater in der Werkstatt, über den Bock gebeugt, wie er mit dem gelenken Meißel und dem Holzhammer eine Inschrift in Stein schnitt. Gant trug nie Arbeitskleider, sondern behielt den wohlgebürsteten schwarzen Straßenanzug an. Er hatte den Rock abgelegt und einen langen, gestreiften Schurz vorgebunden. Wenn Eugen ihm bei der Arbeit zusah, spürte er immer, daß sein Vater kein gewöhnlicher Handwerker, sondern ein Meister sei, der für ein paar Minuten gerade letzte Hand an ein Kunstwerk legt.

Keiner tut es ihm gleich, dachte Eugen und stellte sich vor, wie seines Vaters Werk in überwucherten Friedhöfen ihn und die Zeiten überdauern würde. Er empfand Mitleid mit Krämern, Brauern, Kleidermachern, mit Farbenhändlern wie Harrys, Installateuren wie Max' Vater, deren Arbeit verwitterte, verrostete, verfiel, verdarb, verging. Er bedauerte alle Männer, die dahinscheiden, ohne ihre Namen in Felsen gesprengt, ihre Merkzeichen in Klippen gehauen zu haben. Er forschte im Geist nach einem Material, in dem ein Zeichen, ein Mal, ein Emblem unvergänglich, unvergeßlich, auf ewig unzerstörbar sei.

 

Dann wieder fand Eugen seinen Vater, wie er, die Hände auf dem Rücken, mit zornigen Schritten auf und ab ging und drohend vor sich hin murmelte. Eugen verhielt sich dann still und wartete. Nachdem der Alte achtzig- oder neunzigmal die Bahn zwischen den Steinklötzen gemessen hatte, stürmte er jählings zur Tür und ließ unter Wutgeheul eine Jeremiade auf die Fuhrleute los, die vor seiner Schwelle herumlungerten und ihn geärgert hatten.

»Ihr Niedrigsten unter den Niedrigen! Ihr Schlimmsten unter den Schlimmen! Lausige, verbummelte Taugenichtse Ihr!!! Ihr habt mir den Hunger ins Haus gebracht! Ihr habt mir das bißchen Kundschaft, das mich ins Brot gestellt härte, von der Türe verscheucht! Ich hasse Euch! Meilenweit stinkt Ihr mich an! Ihr verfluchtes, entartetes, hoffnungsloses Gezücht, Ihr würdet die Pfennige stehlen, mit denen man die Lider der Toten beschwert, auf daß ihre Augen nicht zum Himmel starren, so wie Ihr mich bestohlen habt, furchtbare, entsetzliche, blutdürstige Bankerte aus dem Gebirg, die Ihr seid!«

Er rannte brummend in die Werkstatt zurück, erschien aber einen Augenblick später wieder in der Tür mit gewaltsam beherrschtem Gesicht und verkündigte:

»Ich warne Euch ein für allemal: wenn ich Euch wieder hier auf der Schwelle meiner Werkstatt treffe, dann lasse ich Euch ins Gefängnis werfen!«

Die Kutscher und Fuhrleute, gutmütige Neger, machten Gesichter wie Hammel und gingen, mit ihren Peitschen spielend, zu ihren Wagen. »Der Alte ist aber heut aufgebracht, Gottogott. Was er nur hat?«

Keine Stunde verging, und sie saßen wieder wie Schmeißfliegen auf den Stufen vor Gants Tür. Gant kam heraus, um auszugehen. Sie grüßten ihn freundlich, denn sie mochten ihn gern.

»'n Tag, Mister Gant.«

»Guten Tag, Jungens«, sagte er herzhaft, als wäre nichts vorgefallen, und schritt eilig davon.

 

Wenn Eugen eintrat und Gant beschäftigt fand, grüßte der Alte nur kurz: »'Tag, Söhnchen!« und meißelte an der Inschrift weiter. Bald aber schliff er die Lettern mit Wasser und Bimsstein ab, zog den Schurz aus, legte den Rock an und sagte zu dem erwartungsvoll herumstehenden Jungen: »Komm mal mit, mich deucht, Du hast Durst!«

Sie gingen über den Stadtplatz in die kühle, tiefe Drogerie, standen vor der onyxglänzenden Sodafontäne unter den surrenden elektrischen Fächern und tranken eisgekühlte, kohlensaure Getränke ... Limonaden, so kalt, daß Eugen Kopfweh davon bekam, oder schäumende Eiskremsoda, die ihm mehrmals mit scharfem köstlichem Kitzel in der Nase aufstieß.

Eugen verließ dann, um 25 Cent reicher, seinen Erzeuger und brachte den Rest des Nachmittags in der Bibliothek am Stadtplatz zu. Er las nun schnell und leicht. Mit wahrem Heißhunger fiel er über romantische Abenteuerbücher her. Zu Haus verschlang er ganze Stöße von Fünf-Cent-Romanen, die Lukas auf seinem Bücherschaff gesammelt hatte und nie las. Er war ganz verwoben in die wöchentlichen Abenteuer von »Jung-Wild-West«, phantasierte abends im Bett von tugendsam-heldenhaften Beziehungen mit der schönen Arietta, verfolgte Nick Carters Bahnen durch das Labyrinth weltstädtischer Verbrecherviertel, genoß den Triumphzug der Athleten Frank Merriwell und Fred Fearnot und schwelgte im Ruhm nichtendenwollender Siege der Freiheitskämpfer von 1779 über die britische Armee der verhaßten Rotfräcke.

In den ersten Jahren seiner Lesewut interessierte ihn vor allem materieller Erfolg. Aus der Liebesgeschichte machte er sich nicht viel. Die sündenreinen Frauengestalten der Knabenbücher, mit Sägmehl gefüllte Stoffpuppen, die tanzende Augen, langes Haar und tugendhafte Meinungen haben, genügten ihm vollständig. Sie waren der Lohn der Tapferkeit, der Preis, der im letzten Augenblick durch Degenstoß oder Schuß den Händen des Bösewichts entrissen und dann zusammen mit einem erklecklichen Einkommen genossen wird. Aus der Stadtbibliothek verschlang er Jugendschriften zu Dutzenden, »Mut und Glück«, »Schwimm oder geh unter«, »Schneid«, »Jakobs Mündel«, »Der Knabe aus dem Armenhaus«, und wie sie alle hießen. Er weidete sich in Gedanken an den schweren Summen, die den Helden dieser Werke stets zuteil werden, ein Motiv in der Knabenlektüre übrigens, das noch nicht genügend erkannt ist; – ... Eine Eisenbahnschiene ist los, man signalisiert dem Zug, dem Lebensretter winkt reicher Lohn ... Eine banknotengespickte Brieftasche wird gefunden und dem Eigentümer zugestellt ... Der Wert wertlos geglaubter Aktien wird aufgedeckt ... Ein reicher Gönner taucht zufällig auf und hilft dem armen Erfinder ... – alle diese Arten zu Vermögen zu kommen, verhafteten sich in Eugen zu Wunschbildern.

Mit dergleichen Geldsachen befaßte er sich bis ins kleinste. Ungeheuer wichtig war es, den Wert jenes Besitztums zu wissen, das der schurkische Vormund an sich gebracht hatte! Eugen rechnete sich die Jahres-, Monats-, Tagesrente des Kapitals aus, stellte sich vor, was er sich dafür kaufen würde. In seinen eignen Ansprüchen war er keineswegs bescheiden. Unter einer Viertelmillion Dollar, dachte er, könne er kaum anständig auskommen. Das Einkommen von 100 000 Dollar, zu 6 Prozent verzinst, hielt er für kärglich. Wenn lumpige 20 000 Dollar als Lohn der Tugend erwähnt wurden, war er enttäuscht und erbittert.

Er gründete einen Lesezirkel mit zwei Schulkameraden, borgte und lieh Bücher von und an Max Isaacs und an den Metzgersohn »Nosey« Schmidt, der die ganze Abenteurerserie »The Rover Boys« besaß. Er plünderte Gants Büchergestell und las Übersetzungen der Ilias und der Odyssee zur gleichen Zeit und aus denselben Gründen wie »Diamond Dick«, »Buffalo Bill« und die langweilig-biedern Schinken von Alger. Dann, als mit den Jahren das Tasten nach erotischen Reizbildern deutlicher wurde, suchte er leidenschaftlich in romantischen Legenden nach jenen heißblütigen Frauen, deren Atem wie Honig ist, deren sanfter Aufblick wie Feuer ins Herz des Helden fährt.

Auf dieser Nachsuche fand er sich unentrinnbar verstrickt in das groteske Muster jener puritanischen Romanschreiberei, die die dionysische Glücksal den züchtigen Jüngern John Calvins zuerkennt, die gleichzeitig Wollust stöhnt und Gebete aufsagt, die brennende Altäre vor dem Pflaumenbaum errichtet, die die heidnische Hetäre mit der heilig-gemachten Hausfrau überbietet.

Aha! dachte er, da kann ich meine Torte aufessen und sie doch noch haben – aber eine Hochzeitstorte muß es sein. Ganz ergeben begehrte er, ein guter Christenmann zu werden; er würde die Akkolade seiner Liebe nur einer Jungfrau schenken; er würde unbedingt nur ein reines Weib ehelichen, dies würde ja der Lust keinen Abbruch tun – im Gegenteil! – er sah es ja aus den Büchern, daß die guten Christinnen körperlich bei weitem die anziehendsten Frauen sind.

Er hatte da unwissentlich eine Wahrheit herausgefunden, die den meisten Wollustsuchern erst sehr viel später nach mannigfacher Plagerei klar, wird: nämlich, daß die ganz streng konventionalisierten Lebensumstände dem Daseinsgenuß am günstigsten sind. Er bezeigte eine leidenschaftliche Anhänglichkeit für die Gesetze der Gemeinde; all die gefilterten Ablagerungen des sonntäglichen Kindergottesdienstes bei den Presbyterianern wirkten sich aus.

Er versetzte sich in tausend Romanfiguren; er lebte im Fleisch und Blut seiner Lieblingshelden und trug ihre Standarten aus der Welt der Bücher hinaus auf den grauen Plan des Alltags. So schaute er sich selbst als den streitbaren jungen Lizentiaten, der gegen die himmelschreienden Zustände in den Elendsvierteln Krieg führt, bei den begüterten Gemeindevorständen aber keinen Anklang findet, bis ihm in letzter Stunde die Tochter des Millionärs, dem die Mietskasernen gehören, zu Hilfe kommt, so daß er schließlich den Sieg für Gott, die Armen und für sich erringt.

 

... Sie standen schweigend im dunklen Schiff der St.-Thomas-Kirche. Oben auf der Empore glitten die zarten Finger des alten Michael leise über die Tastatur der Orgel. Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne schienen durch die westlichen Fenster und fielen einen Augenblick wie ein goldner segnender Schein auf Mainwarings abgespanntes Gesicht.

»Ich gehe nun fort«, sagte er fest.

»Sie gehen fort?« flüsterte sie. »Wohin?«

Die Orgeltöne schwollen an.

»Dorthin«, er deutete kurz nach Westen, »als Missionar die Heiden bekehren.«

»Wirklich!« Ihre Stimme bebte. »Und Sie gehen allein?«

Er lächelte traurig. Die Sonne war untergegangen. Das Zwielicht in der Kirche verbarg ihr, daß seine Augen feucht geworden waren.

»Ja, allein«, sagte er. »Ist nicht ein Größerer vor neunzehnhundert. Jahren auch allein ausgegangen?«

»Allein, ach, allein!« seufzte sie.

»Aber ehe ich gehe«, sagte er nach einer Weile mit einer Stimme, deren innere Erregung er vergebens zu unterdrücken sich bemühte, »... da möchte ich Ihnen gestehen, Grace ...« Er hielt inne und suchte die Herrschaft über seine Gefühle zu gewinnen.

»Ja ... was?« hauchte sie.

»... daß ich Sie nie vergessen werde, solange ich lebe, nie.« Er wandte sich zum Weggehn.

»Nein, nein! Nicht allein!« Sie hielt ihn weinend zurück.

»Was soll das heißen?« fragte er heiser.

»O Du einfältiger Mann, Du geliebter, blinder, törichter Junge! Hast Du es denn nicht bemerkt? Die ganze Zeit über nicht bemerkt, von dem Tage an, als ich Dich in der Mietskaserne in der Murphy Street predigen hörte!?«

Er preßte sie in einer heftigen Umarmung an sich. Ihr schlanker Leib gab dem Druck seiner Arme nach, als er sich über sie beugte. Sie legte ihre vollen runden Arme um seine breiten Schultern, schmiegte sie um seinen Hals. Sie zog sein dunkles Haupt zu sich herab, während er sie mit hungrigen Küssen auf die geschlossenen Lider, auf den duftenden Nacken, auf den geöffneten Blumenkelch ihrer jungen frischen Lippen küßte.

»Nein«, flüsterte sie, »nicht allein, sondern auf ewig zusammen!«

»Auf ewig!« antwortete er feierlich, »so wahr mir Gott helfe.«

Die Orgeltöne schwollen zu einem Triumphgesang an und fluteten durch das geräumige Dunkel der Kirche. Und während der alte Michael sein ganzes Herz in die Musik legte, rollten ihm Tränen unaufhaltsam über die abgezehrten Wangen. Er lächelte glücklich unter diesen Tränen, als er mit seinen greisen Augen die uralte Sage von Jugend und Liebe wahrgeworden sah, und murmelte:

»Ich bin die Auferstehung und das Leben, das Alpha und das Omega, ein Ende und ein Beginn ...«

Eugen wandte das Gesicht ins Licht, das durch die Fenster des Lesesaals fiel. Seine Augen waren feucht; er blinzelte heftig, schluckte schwer, schneuzte sich scharf die Nase. Ach ja! Ach ja!

 

... Die Wilden merkten, daß sie nun nichts mehr zu fürchten hatten. Rasend vor Wut über die erlittnen Verluste bereiteten sie den Angriff vor. Taomi, ihr Häuptling, in gräßlicher Kriegsbemalung, führte einen wilden Tanz auf. Dann kommandierte er mit schriller Stimme den Stamm zum Sturm auf die Klippe.

Glendenning stieß eine leise Verwünschung aus, als er zum letztenmal die leeren Patronengürtel untersuchte. Dann lud er die letzten zwei Schuß in seinen Colt.

»Die sind wohl für uns?« fragte sie ruhig.

Er nickte.

»Das Ende also?« flüsterte sie leis, aber ohne eine Spur von Angst.

Er nickte abermals und sah sie fest an.

»Ja, jetzt heißt's sterben, Veronika«, sagte er, »und so kann ich es nun sagen.«

»Ja, Bruce«, antwortete sie sanft.

Er war beglückt, denn dies war das erstemal, daß sie ihn beim Vornamen nannte.

»Ich liebe Dich, Veronika«, sagte er, »ich habe Dich von dem Augenblick an geliebt, als ich Dich fast leblos am Strande fand, in all den Nächten geliebt, die ich draußen vor dem Zelt lag, in dem Du ruhig atmend schliefst, und am meisten lieb ich Dich jetzt, in dieser Stunde des Todes, wo ich von der Pflicht, über meine Liebe zu schweigen, entbunden bin.«

»Liebster, ach Liebster! Warum hast Du geschwiegen?« flüsterte sie mit tränenüberströmtem Gesicht. »Ich habe Dich auf den ersten Blick geliebt.«

Sie neigte sich zu ihm mit halbgeöffnetem, bebendem Mund, ihr Atem ging in kurzen Stößen, und während seine nackten Arme sie fest umfaßten, trafen sich ihre Lippen in einem langen Augenblick der Seligkeit, in einer jähen Ekstase, in der all die eingesperrte Sehnsucht ihres ganzen Lebens Erlösung und Erfüllung fand.

Ein lauter Knall aus einiger Entfernung erschütterte die Luft. Glendenning sah schnell auf und rieb sich erstaunt die Augen. Drunten in den kleinen Hafen der Insel war ein Kanonenboot eingefahren. Da lag es mit der gepanzerten Breitseite, gerade fuhren eine Flamme und Rauch aus einer Geschützmündung heraus. Eine 15-cm-Granate schlug dreißig Meter vor den Wilden ein.

Mit gellendem Geschrei, gemischt von Angst und unterdrückter Furcht, wichen die Angreifer zurück und flohen zu ihren Kanoes am Strand. Ein Boot, mit lustigen blauen Jungen bemannt, wurde vom Schiff herabgelassen und ruderte auf die Küste zu.

»Gerettet! Wir sind gerettet!« rief Glendenning. Er sprang auf und signalisierte dem Boot. Plötzlich hielt er inne.

»O verdammt, verdammt noch mal«, murmelte er bitter.

»Was ist denn, Bruce?« fragte sie.

»Ein Kriegsschiff ist gerade in den Hafen eingefahren. Wir sind gerettet, Miss Mullins, gerettet!« Und er lachte bitter.

»Aber Bruce, Liebster, was ist denn mit Dir? Freust Du Dich nicht? Warum benimmst Du Dich so seltsam? Nun können wir doch unser ganzes Leben zusammen haben!«

»Zusammen?« sagte er mit hartem Lachen. »Ach nein, Miss Mullins. Ich kenne meinen Stand. Glauben Sie etwa, daß der große Multimillionär John T. Mullins seine Tochter dem Vagabunden Bruce Glendenning zur Frau gibt? Nicht im Leben! So was kommt nicht vor! Es ist nun alles aus zwischen uns. Es heißt Lebwohl sagen.« Er verzog die Miene. »Ich hoffe, bald von Ihrer Heirat mit einem Herzog oder Lord zu hören. Also, leben Sie wohl, Miss Mullins. Viel Glück! Wir müssen nun jedes seiner eignen Wege wieder gehen.« Er wandte sich weg.

»Du närrischer Junge! Du lieber, böser, törichter Kerl!« Sie fiel ihm um den Hals, schmiegte sich zärtlich an ihn und redete sanft auf ihn ein. »Hast Du denn tatsächlich geglaubt, ich ließe Dich je wieder von mir gehn?«

»Veronika!« keuchte er. »Meinst Du das wirklich?«

Sie wollte ihm in die Augen sehen, konnte aber nicht, denn sie war über und über errötet. Er riß sie verzückt an sich, und zum zweitenmal, diesmal aber mit der Aussicht auf ein langes und glückliches Leben, fanden sich ihre Lippen in süßem Vergessen ...

 

O mir! O mir! Eugens Herz war voll Freude, und schwer vom Kummer war es, daß die schöne Geschichte schon aus war. Er zog seine verklumpte Rotzfahne aus der Tasche und blies den Inhalt seines glorreich-sentimentalen Gemüts mit einem sieghaften Trompetenstoß hinein. O mir! O mir! Guter alter Bruce-Eugen!

 

In der hehren Innenwelt, in die ihn seine Phantasie hob, war aller Makel des Lebens getilgt. Er lebte edel und heldenhaft unter liebenden, tugendsamen Geschöpfen. Er sah sich selber in erhabnen Begegnungen mit seiner Schulkameradin Bessie Barnes, ihre reinen Augen waren von Tränen trüb, ihr süßer Mund bebte vor Verlangen. Er spürte den starken Händedruck ihres Bruders Honest Jack, dessen treuherzige Aufrichtigkeit, die tiefe, ewige Verbundenheit ihrer wackren Männerherzen, wenn sie einander stumm anblickten und jener schweigsam bestandnen Gefahren gedachten, die Freunde aus ihnen gemacht hatten.

Eugen begehrte die beiden Dinge, die alle Männer begehren. Er wollte geliebt werden und wollte berühmt sein. Der Ruhm war chamäleonhaft, aber der Triumph lag immer daheim bei den Leuten von Altamont. Das Bergstädtchen hatte eine ungeheure Autorität für ihn. Mit dem Egoismus des Kindes hielt er seine Vaterstadt für den dynamischen Mittelpunkt der Erde und des Lebens. Er sah sich als Napoleon Schlachten gewinnen, als Industriekapitän ganze Wirtschaftszweige beherrschen, als Rechtsanwalt Gerichtshöfe mit dem Zauber seiner Beredsamkeit bannen ... aber stets sah er sich von seinen Triumphen nach Altamont heimkehren, den Lorbeer der Welt auf der bescheidnen Braue.

Die Welt jenseits der dunstumwobenen Bergketten war ein phantastisches Feenland aus Hall und Strahlung, mit Fruchtgärten von Genien bewacht, weindunklen Meeren, schläfrigen Traumstädten ... ein Land, aus dem er kühn mit goldnem Raub ins wahre Herz des Lebens, nach Altamont, zurückkehrte.

Er spürte den köstlichen Kitzel der Verführung und hielt dennoch unter den lockendsten Versuchungen treu an seiner Ehre fest. Da war die schöne, gepflegte Gattin des reichen Mannes, die der brutale Gatte vor aller Öffentlichkeit beleidigt, die der brave Bruce-Eugen ritterlich verteidigt hatte. Nun schmolz sie vor ihm hin mit der reinen Glut ihres einsamen Frauenherzens, erzählte ihm ihr trauervolles Leben. Sie saßen an der reichgedeckten, weinbesetzten, kerzenerleuchteten intimen Tafel des Hauses. Nun streckte sie sehnsüchtig die Arme nach ihm aus und wollte ihm um den Hals fallen ... er aber löste sich keusch aus der Umarmung. Da war die blonde Prinzessin aus dem fabelhaften Balkan, die Kaiserin der Spielzeugdörfer und der Puppenhusaren. In einer großen Szene an der Landesgrenze lehnte er edelmütig ihren opferwilligen Thronverzicht zu seinen Gunsten ab und trank ein ewiges Lebewohl von ihren Lippen. Aber er heiratete sie dann doch und machte sie zur Bürgerin seines freien Vaterlandes, später nämlich, als eine Revolution in ihrer Heimat ihren Stand dem seinen gleichgemacht hatte.

Aber wenn er sich in alte Mythen vertiefte, in die Welt, wo kein Makel die Willkür und freie Taten trifft, dann gab er sich auf goldnen Wiesen und in grünleuchtenden Hainen ganz in heidnischer Liebe hin. Oh! und König sein und eine breithüftige Jüdin auf dem Dach ihres Hauses baden sehn und sie besitzen! Oh! feudaler Baron sein, auf einer Burg mit Zinnen und Zinken, und das alte Herrenrecht mit den schönsten der untertänigen Weiber und Buhldirnen ausüben, beim flackernden Lichtschein große Scheite im Kamin, während der Sturm wild um die Mauern braust!

 

Öfter auch, wenn die Gewalt seiner Wünsche den Moralpanzer zersprengte, erging er sich in kupplerischen Schulbubenvorstellungen und träumte sich in eine Romanze mit einer hübschen Lehrerin. Seine Klassenlehrerin im vierten Schuljahr war eine junge, unerfahrene, aber wohlgebaute Person mit karottenfarbnem Haar und einem vollen, sorglosen Lachen.

Eugen träumte, er sei bereits zum Alter der Reife erwachsen. Ein starker, heldenhaft glänzender Bursch war aus ihm geworden, wahrhaftig, der einzig saubere Bursch unter den krummzähnigen, wuschelhaarigen, verlausten Schülern einer hinterwäldlerischen Dorfschulklasse. Und als der mürbe Herbst kam, nahm ihr Interesse an ihm zu. Sie ließ ihn wegen völlig imaginärer Vergehen nachsitzen, hieß ihn verwirrt irgendeine Strafaufgabe machen. Ihre Augen ruhten mit stetem Sehnsuchtsblick auf ihm, wenn sie dachte er merke es nicht.

Er stellte sich so, als käme er mit der Aufgabe nicht zurecht. Hilfsbereit kam sie und saß neben ihm auf der Bank. Er spürte den Duft und die Wärme ihres üppigen weißen Arms, den süßen leisen Druck ihrer Schenkel; eine Strähne ihres karottenfarbnen Haars streifte sein Gesicht. Sie erklärte ihm umschweifig die Schwierigkeit der Aufgabe, führte ihm die Finger mit ihrer warmen, ein ganz klein wenig feuchten Hand, wenn er tat, als könnte er etwas – einen Ort auf der Karte etwa – nicht finden. Sie tadelte ihn mit lieber leiser Stimme:

»Warum bist Du nur so ein böser Junge?« ... oder zärtlicher noch: »Willst Du Dich denn in Zukunft nicht bessern?«

Hierauf würde er mit simulierter jungenhaft-unartikulierter Blödigkeit versichern: »Wirklich, Miss Edith; ich habe es gewiß nicht bös gemeint.«

Später, wenn die Sonne am Untergehen war, würden sie dann zusammen aus dem Klassenzimmer weggehn. Er schlüpfte achtlos in seinen Mantel, sie schalt ihn und rief ihn zu sich, glättete ihm den Kragen, zupfte ihm die Krawatte zurecht, ordnete sein wirres Haar, sagte:

»Du bist ein schöner Bursch, Eugen. Ich wette, die Mädchen sind sehr hinter Dir her.«

Er würde jüngferlich erröten, und sie würde, neugierig gemacht, in ihn eindringen:

»Na, sag es mir schon, wer Dein Schatz ist!«

»Aber ich hab ja keinen, wirklich nicht, Miss Edith.«

»Aha! Ich verstehe. Du machst Dir eben nichts aus diesen albernen Dingern«, würde sie ihm nun zureden. »Du bist zu stolz für solche Tändeleien. Du bist älter als Deine Jahre und brauchst das Verständnis, das nur eine reife Frau geben kann.«

Und dann würden sie im goldnen Abendlicht am Saum der Föhrenwälder entlanggehn, den schmalen Pfad, der von herbstbraunem Ahornlaub verweht wäre, über die Felder, an den Beeten mit den reifen runden Kürbissen vorbei.

 

Sie würde allein mit ihrer tauben, hochbetagten Mutter wohnen, allein in einem kleinen, gartenumzognen Häuschen, ein wenig abseits der Straße.

Sie würden querfeld aufs Haus zukommen. So würde es notwendig sein, über einen jener niedren Steinzäune, die als Flurgrenze dienen, zu steigen. Er wurde zuerst überklettern und ihr dann behilflich sein, und dabei eifrig die graziös geschwungne Wade ihres absichtlich zur Schau gestellten, seidenbestrumpften Frauenbeins besehen.

Da die Tage nun kürzer würden, würden sie von der Dunkelheit überrascht werden. Sie würde so tun, als fürchte sie sich, wenn sie den Wald entlang gingen, ihn geängstigt an sich pressen, von merkwürdigen, eingebildeten Geräuschen erschreckt sich an ihn klammern. Schließlich eines Abends würde es beim Zaunübertritt zur Entscheidung, kommen. Sie würde sagen, sie könne in der Dunkelheit nicht allein herunterspringen, und er würde sie in seinen Armen um die Knie packen und sie herunterheben. Da würde sie flüstern:

»Wie stark Du bist, Eugen!«

Dann würde er sie nicht loslassen. Seine Hände würden von ihren Kniekehlen an aufwärtsrutschen, während er sie niedersetzte, Sie würde ihn leidenschaftlich küssen, ihn an sich pressen, ihn streicheln Und schließlich unter dem rauhreifbedeckten Persimonenbaum sich ganz seinen unbezähmbaren Knabenwünschen hingeben.

»Der Junge liest Bücher hundertweis!« prahlte Gant, im ganzen Städtchen. »Die Bibliothek hat er schon ausgelesen.«

»Bei Gott, Sie müssen einen Advokaten aus ihm machen, er hat wahrhaftig das Zeug dazu.« Major Lidell hatte eine hohe Stimme. Er spuckte akkurat in den Rinnstein, strich sich seinen tabakfleckigen weißen Spitzbart. Er war ein Veteran aus dem Bürgerkrieg.


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