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XV

Die Berge waren seine Meister. Sie schlossen sein Dasein ein. Sie waren der Becher der Wirklichkeit. Sie standen über Kampf und Tod erhaben als das eine Absolute inmitten des ewigen Wandels. Alte Gesichter glommen in Eugens Gedächtnis, die Blicke suchten ihn heim. Er entsann sich an Swains Kuh, St. Louis, den Tod, an sich selber in der Wiege. Er verfolgte das Gespenst seiner selbst, er versuchte auf einen Augenblick das Leben, an dem er teilgehabt hatte, zurückzugewinnen. Er verstand das Wachstum, den Wandel nicht. Er stand in der Wohnstube und starrte ein Kinderbildnis von sich an; er wandte sich ab: ihm graute vor seinem Unvermögen, sein Ich auch nur eine Sekunde lang zu fassen, zu greifen, zu halten.

Die körperlosen Schemen des gelebten Lebens erschienen mit gräßlicher Genauigkeit, wahnsinnig nah wie Visionen. Etwas, das sich vor fünf Jahren zugetragen hatte, erstand, wie durch eine Handbewegung heraufbeschworen, und im gleichen Augenblick hörte er auf, an sein eignes Sein zu glauben. Er wartete darauf, daß jemand ihn aufwecken würde; so hörte er abends Gants große Stimme aus dem Garten und ging zu Bett. Aber was ihm zuvor wiedererstanden war, blieb.

Er lauschte auf das spukhafte Ticken seines Lebens. Seine wilde, mächtig brennende Hellsichtigkeit (Anlage durch Elizas schottisches Blut vererbt) reichte Jahre zurück, saugte die Schatten auf und sammelte die Lichtspuren. Da erschienen ein kleiner Bahnhof im Frühlicht ... eine Landstraße in der Dämmerung schnurgerade durch einen Tannenforst ... die rußige Lampe in einer Hütte ... ein Hirtenjunge, der hinter springenden Kälbern herlief ... eine wirrhaarige Schlampe in einem Türrahmen ... mehlbestaubte Neger, die Säcke aus einem Güterwagen ausluden ... der Chauffeur, der den Autobus durch die Weltausstellung in St. Louis fuhr ... im Tagesgrauen ein kühllippiger See.

Wie geflochtner elektrischer Leitungsdraht wand sich sein Leben zurück in den braunen Schummer der Vergangenheit. Er, Eugen, war es, der Form und Bewegung in die millionenfachen Erlebnisse brachte, die der Zufall, der Gewinn oder Verlust eines Augenblicks, der ungeheure, ziellose Impuls des Unberechenbaren in die Gluthitze seines Ichs warf. Er, Eugen, war es, der die Auslese traf: die weißen Stecknadelköpfe des Erlebten leuchteten lebhaft, und alles Drum und Dran wurde dann um so gespenstischer. Viele von den Bildern, die in ihm gespensterten, hatte er aus vorbeisausender Landschaft durch das Zugfenster aufgefangen.

Was ihn entsetzte, war die furchtbare Kombination zwischen Feststehendem und Wandelbarem, war der qualvolle, ewig dünkende Augenblick, in dem – wenn man am Leben mit großer Geschwindigkeit vorbeifährt – der Beobachter und das Beobachtete in der Zeitlichkeit erfroren zu sein scheinen. Da gab es diesen Moment des Hängens im Zeitlosen, in dem das Land sich nicht bewegte, der Zug sich nicht bewegte, die Schlampe in der Tür sich nicht bewegte, er selbst sich nicht bewegte. Es war, als ob Gott den Taktstock scharf über das unendliche Orchester der Meere gehoben hätte und so die ewige Bewegung in der zeitlosen Architektur des Absoluten hangend innehielte. Es war wie jene verlangsamten Filmaufnahmen, die einen Schwimmer beim Kopfsprung, ein Pferd beim Nehmen einer Hürde festhalten; – mitten in der Luft ist die Bewegung plötzlich versteinert, eine Handlung, die sich unerbittlich zu Ende vollziehen muß, ist aufgefangen. Dort freilich wird dann die Bewegung vollends ausgeführt, der Schwimmer schießt ins Wasserbecken, das Pferd setzt auf die andre Seite des Hindernisses. Aber die Bilder, die in Eugen brannten, existierten ohne Anfang und Ende, ohne das wesentliche Eingefügtsein in den Zeitablauf. Ohne jeden Übergang, ins Zeitlose festgebannt verschwand die Schlampe in der Tür.

Eugens Empfindung der Unwirklichkeit wurde durch Zeit und Bewegung erzeugt. Er stellte sich nämlich vor, die Schlampe ginge, nachdem der Zug vorübergesaust war, in die Hütte und nähme einen Kessel vom Herd. Und sofort verging das Bild in Schatten, alles wurde gespenstisch. Der Junge, der hinter den Kälbern herlief, wo war er später, wo jetzt?

Ich bin – dachte er – ein Teil von allem, was ich erlebt habe, was mich erlebt hat. Und das Erlebte hat kein Sein, außer dem, das ich ihm gewährte. Es wurde verwandelt und vermischte sich mit dem, was ich damals war, und ist jetzt wieder etwas anderes geworden, denn nun ist es mit dem verschmolzen, was ich nun bin. Dieses Was-ich-nun-bin aber ist wieder nur eine Anhäufung dessen, was ich zu werden im Begriff war. Warum hier, warum da? Warum dann, warum Jetzt?

Zwei Formen der Ichsucht waren lebendig in ihm; die innerlich brütende Elizas und die ausdehnungsbeseßne Gants. Ihr Zusammentreffen machte ihn zu einem fanatischen Zeloten der Religion des Geschicks. Über Mißbrauch, Vergeudung, Qual, Tragödie, Tod und Wirrsal erhaben lief die unentwegbare Notwendigkeit in ihren Bahnen: kein Sperling fiel vom Dach, ohne daß sein Aufprallen etwas in seinem Leben gezeugt hätte, und das einsame Licht, das auf die öden, entlegenen Morgenmeere fiel, erweckte meermäßige Verwandlungen: die Fische schwammen aus der Tiefe herauf.

 

Der Same unsres Verfalls wird in der Wüste blühen; am Fels wächst das Heilkraut, und unsre Leben werden von einer Schlampe aus Georgia heimgesucht, weil ein Beutelabschneider in Georgia ungehenkt blieb. Das Geschick bewirkt es, daß wir allen anderen ein Gespenst, daß wir selber unsre einzige Wirklichkeit sind. Das Geschick bewirkt es, daß wir die riesenhafte Angel der Welt; daß wir ein Sandkorn sind; daß wir der Stein sind, der zur Lawine wird, der Kiesel, dessen konzentrische Wellenringe über den ganzen Meeresspiegel hinweg weiter und weiter werden.

 

Eugen glaubte also, des Lebens Mittelpunkt zu sein. Er glaubte, die Berge umschlössen das Herz der Welt; er glaubte, daß aus dem Chaos der Zufälligkeiten das unvermeidliche Ereignis im unerbittlichen Augenblick käme, um als Summand zur Summe seines Daseins zu treten.

Gegen die jenseitigen Bergflanken aber schwappte die Welt wie ein verschattetes Meer, in dem die großen Fische seiner Phantasie schwammen. Unendliche Abwechslung war in diesen unbesuchten Regionen, aber Zweck und Ordnung dünkten Eugen dort gewiß. Kein Abenteuer würde dort umsonst sein; Mut würde mit Schönheit, Begabung mit Erfolg, jedes Verdienst nach seiner Richtigkeit und Wichtigkeit belohnt werden. Gefahr und Mühsal zwar würden dort sein, nicht aber Vergeudung und Wirrnis. Kein blindes hilfloses Tasten. Denn das versammelte Schicksal würde im erkornen Augenblick herabfallen, wie eine Pflaume vom Baum fällt. Bezauberung und Unordnung schließen einander aus.

 

Frühling war unterwegs im Garten der ganzen Welt. Jenseits der Bergmauer faltete sich das Land auf zu neuen Gebirgen, zu goldenen Städten, reichen Matten, tiefen Forsten, zum Meer. Auf immer und immer.

Jenseits der Berge lagen die Minen Salomos, die Spielzeugrepubliken Südamerikas, die kleinen klingenden Springbrunnen in den Höfen ... jenseits waren die mondhellen Dächer von Bagdad, die schmiedeeisernen Fenstergitter in Samarkand, die Kamele Bythiniens, die spanischen Ranchhäuser ... jenseits war J. B. Montgomery, der den Zug einfach auf offner Strecke halten ließ und mit seiner wunderschönen Tochter aus seinem privaten Salonwagen in den weiten wilden Westen ausstieg ... jenseits waren das vermögenspendende Kasino von Monte Carlo und das blaue, ewige Mittelmeer, die Mutter der Reiche. Und augenblicklicher Reichtum tickte sich auf Morsestreifen: es erschien der erste Stock des Eiffelturms mit dem Restaurant, wo Franzosen saßen und sich die Schnurrbärte mit der Zigarette anzündeten ... es erschien eine Farm in Devon: da gab's weißen Rahm und braunes Ale und Winterabende voll Scherz und Schabernack vor dem großen, offnen Feuerplatz ... es erschienen die hängenden Gärten von Babel, Bankette im Sonnenuntergang mit den Königinnen, und – – langsam glitt die Barke auf dem Nil! – – die weißen, üppigen Leiber der Ägypterinnen, auf mondbeglänzten Balustraden kauernd, und der Hufdonner der Rennwagen, der großen Könige hallte, und Schätze in Grabgrüften wurden um Mitternacht gesucht ... und das weinselige, an Schlössern reiche Land an der Loire erschien ... und kalikogewärmte Beine im Heu ...

Auf einem Feld in Thrakien lag die schöne Helena, sonnscheckig ihr liebreicher Leib.

 

Mittlerweile war es mit den Geschäften rechtschaffen gut gegangen. Eliza hatte zwar in den ersten Jahren infolge ihres Krankseins weniger aus Dixieland herausgeschlagen, als sie gerechnet hatte, aber nun war sie saniert. Die letzte Rate war abgezahlt, das Haus gehörte ihr. Der Besitz wurde auf 12 000 Dollar geschätzt. Ferner hatte sie 8500 Dollar gut von einer Lebensversicherung, die in zwei Jahren ablaufen würde.

In Dixieland hatte sie ausgedehnte bauliche Änderungen ausgeführt. Im Erdgeschoß hatte sie die Veranden erweitert; ein Frühstückszimmer und für sich ein kleines Privatgelaß eingerichtet; in den Obergeschossen hatte sie an zwei neuen Korridoren fünf neue Gastzimmer mit Schlafaltanen und je ein Badezimmer und eine Toilette angebaut. Diese An- und Umbauten waren im allerbilligsten Material ausgeführt; sie verloren nie den Geruch von frischem Holz, Firnis und Stuck; aber das Ganze hatte sie nur 3000 Dollar gekostet. Im Jahre 1911 trug sie eine Reineinnahme von 2000 Dollar auf die Bank; sie hatte dort stets ein Guthaben von fast 5000 Dollar stehen.

Gemeinsam mit Gant besaß Eliza das Geschäftshaus am Stadtplatz: es hatte zehn Meter Straßenfront; sein Wert wurde auf 20 000 Dollar veranschlagt; es warf ein monatliches Mieteinkommen von 65 Dollar ab: 20 Dollar von Jannadeau, 25 Dollar von der McLean Company im Kellergeschoß, 20 Dollar von der J. N. Gillepie Company, Druckereibetrieb, die den ersten Stock gemietet hatte.

Außerdem besaßen die Gatten: – Drei Baugrundstücke an der Merrion Avenue, für 2000 Dollar das Stück oder gemeinsam für 5500 Dollar käuflich; – Gants Haus in der Woodson Street, auf 5000 Dollar geschätzt; – eine Farm im Bergwald, rund 50 Hektar Land mit großen Obstbaumstücken und ein paar Äckern, für 110 Dollar im Jahr verpachtet, von den Eigentümern auf 5500 Dollar angeschlagen; – zwei kleinere Häuser, eines in Carter Street, das andre an Duncan Street, für je 25 Dollar im Monat an Eisenbahner vermietet, Wert 5 500 Dollar die beiden; – achtzehn Hektar Land an der wichtigen Reynoldsviller Landstraße zwischen Altamont und Biltburn, 10 000 Dollar wert; – drei Häuser im Negerviertel, an Lower Valley Street, an Beaumont Crescent und an Short Oak. Gesamtwert 3100 Dollar, Mieteinkommen 37 Dollar im Monat; – drei Baugrundstücke am Berghang außerhalb West-Altamont, oberhalb der Hauptverkehrsstraße, je 500 Dollar wert; – und ein Haus an Lower Hatton Avenue, unvermietet und Gegenstand Gantscher Anathema, 4500 Dollar wert.

Außerdem besaß Gant zehn Stück Aktien in der neugegründeten Fidelity Bank, die bereits 200 im Kurs standen, also 2000 Dollar darstellten; und in drei Banken, der Fidelity, der Merchants und der Battery Hills Bank, hatte er ein Konto von je 1000 Dollar, macht zusammen 3000 Dollar. Sein Lager an Steinen, Monumenten und fliegenverdreckten Marmorengeln stellte, obschon es zu diesem Preis nicht loszuschlagen war, eine Kapitalanlage von 2700 Dollar dar.

Das Vermögen der beiden Gatten belief sich also auf rund 100 000 Dollar. Das war der Stand zu Anfang des Jahres 1912, das heißt, ehe die Industrie in den Südstaaten sich intensiv und rapide entwickelte, ehe infolgedessen die Einwohnerzahl von Altamont sich verdreifachte und die Bodenpreise ums Vielfache stiegen. Der Hauptsache nach stak das Geld in soliden, von Eliza ausgesuchten Immobilien; es warf 200 Dollar Miete im Monat ab. Dazu kam, was Gant mit seinem Grabsteingeschäft und Eliza mit der Pension verdienten. Ihr gemeinsames Jahreseinkommen lag zwischen 8000 und 10 000 Dollar. Gant pflegte zwar oft, wenn er nicht gerade auf den Besitz an Liegenschaften geladen war, sein Geschäft zum Teufel zu wünschen; er behauptete dann, daß er mit seinen Grabsteinen kaum das tägliche Brot verdiene; tatsächlich aber verdiente er sehr gut; er hatte gewöhnlich ein bis zwei Aufträge von Farmersleuten aus der Umgebung; seine Brieftasche war stets gespickt; er trug 150 bis 200 Dollar in Fünf- und Zehndollarnoten bei sich und ließ Eugen die Scheine öfters zählen, denn das Entzücken des Sohnes über solchen Überfluß machte ihm Spaß.

Bei ihren Anlagen hatte Eliza ein- oder zweimal Geld verloren: eine romantische Strähne hatte dann über die Gerissenheit und Umsicht in ihr gesiegt. Sie steckte 1200 Dollar in eine Ödlandkolonisation in Missouri, ein völlig utopisches Unternehmen. Sie bekam nichts für ihr Geld. Aber der Unternehmer schickte ihr wöchentlich seine Zeitung und mehrere Prospekte, aus denen zu ersehen war, wie schön die Dinge dort aussehen würden, wenn die Pläne gediehen wären. Und außerdem schickte er ihr einmal eine Terrakottaplastik; dieses dreißig Zentimeter hohe Kunstwerk stellte den Großen Bruder mit seinen Schwestern Jenny und der daumenlutschenden Kate dar. Gant riß wilde Witze über die Gruppe, man solle Eliza das Ding an die Nase hängen. Ben rümpfte die Nase und bemerkte spöttisch, das solle man lieber nicht tun, die drei Kinderchen aus Terrakotta seien ja 1200 Dollar wert.

Eliza war bereit, auf eigne Faust Geschäfte zu machen, denn Gant war für weitere Grundstückkäufe nicht zu haben. Mit hungrigen Blicken sah sie verschiedne süße Pflaumen in andere Hände fallen. Dabei war es vorauszusehen, daß Land bald unerschwinglich teuer werden würde. Und sie wollte dabei sein, wenn man die Torte verteilte.

Schräg über die Straße von Dixieland lag das Brunswick, ein gutgebautes Rotsandsteinhaus mit zwanzig Zimmern. Gant hatte vor zwei Jahrzehnten die Marmorverzierungen an der Fassade selbst ausgeführt; Will Pentland hatte die Hartholzböden und die Eichenbalken geliefert. Das Brunswick war ein häßliches, vielgiebliges Ding im Geschmack der Gründerjahre. Ein reicher Mann aus den Nordstaaten hatte es als Hochzeitsgeschenk für seine lungenkranke Tochter, die nach kurzer Ehe starb, bauen lassen.

»Das bestgebaute Haus in der ganzen Stadt«, erklärte Gant.

Aber er lehnte es stracks ab, das Brunswick gemeinsam mit Eliza zu kaufen. Sie sah es blutenden Herzens in die Hände des reichen Altwarenhändlers S. Greenberg übergehen. Greenberg teilte den großen Hintergarten, der bis zur Yancey Street reichte, in fünf kleine Lose, die er binnen eines Jahres als Baugrundstücke zu 1000 Dollar das Los verkauft hatte. Und das Haus stand für 20 000 Dollar im Verkauf. Eliza quengelte: »Wir könnten unser Kapital dreimal zurückhaben!« Sie hatte nie genug Geld flüssig. So fing sie an zu sparen und wartete ab.

Will Pentlands Vermögen wurde damals auf 500 000 bis 700 000 Dollar geschätzt. Es stak hauptsächlich in Lagerhäusern und Geschäftsbauten im Bahnhofsviertel. Manchmal behaupteten Leute in Altamont – besonders die jungen Herren, die in den Drogerien herumhockten und sich ein Vergnügen daraus machten, den Wohlstand der ortsansässigen Plutokratie ziffernmäßig festzulegen –, Will Pentland sei Millionär. Millionär sein, war damals eine Auszeichnung; es gab nur 6-8000 Millionäre in den USA. Aber Will Pentland war keiner. Er hatte wirklich nur eine halbe Million.

Aber Mister Goulderbilt, der war Millionär. Er ließ sich in seinem großen Packard zur Stadt fahren, dann jedoch stieg er aus und benutzte den Bürgersteig, ganz wie ein gewöhnlicher Sterblicher.

Eines Tages – Goulderbilt trat gerade in eine Bank ein – zeigte ihn Gant seinem Sohne Eugen.

»Das ist er! Siehst Du ihn?« flüsterte Gant.

Eugen nickte mechanisch. Er hatte die Sprache verloren. Mister Goulderbilt war ein kleines, behendes Männchen. Schwarzes Haar, schwarzer Schnurrbart, schwarzer Anzug. Kleine Hände und Füße.

»Er hat fünfzig Millionen«, sagte Gant. »Man sieht's ihm nicht an, nicht wahr?«

Eugen träumte davon, daß diese Geldprinzen fürstlich auftreten sollten, Sie müßten – so wünschte er – in wappengezierten Kutschen mit glänzend livriertem, berittnem Geleit durch die Straßen fahren. Sie müßten glitzernde Ringe an den Händen, hermelinbesetzte Gewänder tragen. Ihre Frauen müßten in juwelenstarrenden Diademen und mit Perlenketten geschmückt dasitzen. Sie müßten in alabasternen Säulenpalästen wohnen, in großen Sälen an ungeheuren, schimmernden Tafeln speisen: Leckerbissen vom Fleisch schwangerer Säue, Pilze in Öl, kalvierten Salm, delikat zubereitetes Wildbret, Karpfenzungen, Fischlippen als scharfes Ragout, Haselmäuse, Salanganennester ... ja! mit goldnen Bestecken, mit Löffeln aus Bernstein, Karfunkel und Topas essen, aus achatnen Bechern trinken, sich aus alten, silbergetriebnen, mit Diamanten, Rubinen und Smaragden besetzten Schalen im Feuer von Amethysten, Beryllen und Saphiren bedienen lassen ... kurz alles haben, alles tun, was Epikur Mammon begehrte.

Eugen traf nur einen Millionär, dessen öffentliches Auftreten ihn befriedigte. Und dieser Mann war leider verrückt. Er hieß Simon.

Als Eugen Simon kennenlernte, war dieser fast fünfzig Jahre alt; er war stark, stämmig, mittelgroß, mit einem braunen, hagern, glattrasierten Gesicht und schattenhohlen, oft von Fingernägeln zerkratzten Wangen. Sein langer schmaler, trauriger Mund war fein und sensitiv; er lächelte ein dämonisches Lächeln, das das ganze Gesicht überflackerte. Simon hatte volles, glattes, stark angegrautes Haar, von den Schläfen straff zurückgestrichen. Er trug locker sitzende, gutgeschnittne Kleider: dunklen Rock zu weiten grauen Flanellhosen, gestreifte Seidenhemden mit dazugehörigen Kragen, lose, volle Krawatten. Seine Westen hatten ein rotbraunes Schachbrettmuster. Simon war eine sehr distinguierte Erscheinung.

Er zog mit seinen beiden Wärtern nach Dixieland, als Schwierigkeiten in verschiednen Hotels ihn gezwungen hatten, nach privater Unterkunft zu suchen. Er mietete zwei Zimmer mit einer Schlafaltane, zahlte glänzend dafür.

»Ei was«, sagte Eliza zu Helene, »ich glaub gar nicht, daß da was nicht stimmt. Er benimmt sich so ruhig und hat überhaupt die besten Manieren von der Welt.«

In diesem Augenblick gellte ein durchdringender Schrei durchs ganze Haus. Dem folgte ein langes, teuflisches Gelächter. Eugen hüpfte, vor Vergnügen quietschend, in der Diele auf und ab. Ben, die Braue finster gerückt, fuhr mit dem Arm aus, als wollte er den kleinen Bruder puffen. Statt dessen aber schnickte er den Kopf seitwärts gegen Eliza und bemerkte mit einem leisen, verächtlichen Lachen:

»Ich versteh weiß Gott nicht, Mama, warum Du solche Leute ins Haus nimmst. Ich dächte, du hättest genug an Deiner eignen Familie.«

Helene legte wütend los. »Um Gottes willen, Mama! ...«

Da trat Gant aus der Dämmerung ein. Er trug ein Bündel vom Fleischer auf den Tisch und murmelte rhetorisch vor sich hin. Wieder gellte das Lachen von oben. Gant hob verdutzt den Kopf. Lukas, der aufmerksam am Fuß der Treppe gelauscht hatte, platzte blökend heraus. Helene, geärgert und gleichzeitig amüsiert, ging auf Gant zu und pokte ihn mit dem Finger in die Rippen.

»Höh!« fragte er erstaunt, »was ist denn los?«

»Miss Eliza hat 'nen Verrückten droben«, kicherte sie.

»Jesus, mein Gott!« schrie Gant verzweifelt. Er leckte schnell seinen großen Daumen und blickte flehentlich zu seinem, Schöpfer empor. Dann ließ er wie ein Verzweifelter die Arme fallen, ging hastig auf und ab und schimpfte laut. Eliza stand stumm da, sah eines nach dem anderen an, rollte die Lippen. Ihr weißes Gesicht war gekränkt und bitter.

Wieder gellte das wilde, hämische Gelächter von droben. Gant hielt inne, fing Helenes Blick auf, grinste unvermittelt und unwollend wie ein Schaf.

»Gnad uns Gott«, kicherte er, »demnächst wird sie Barnums Mißgeburten als Gäste hierhaben.«

In diesem Augenblick erschien Simon. In bester Haltung, distinguiert und ernst, kam er mit seinem Geleit, dem Mister Gilroy und dem Mister Flannagan, die Treppe herunter. Die beiden Wärter waren rot im Gesicht und atmeten schwer wie nach einer großen Anstrengung. Simon jedoch war gelassen wie immer in seiner tadellosen, gepflegten Urbanität.

»Guten Abend«, grüßte er verbindlich, »ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen.« Sein Blick fiel auf Eugen.

»Komm mal her, mein Junge«, sagte er sehr gütig.

»Keine Bange«, bemerkte Mister Gilroy aufmunternd, »er tut keiner Fliege was.«

Eugen trat herzu.

»Und wie heißt Du, mein Junge?« fragte Simon mit seinem schönen Satanslächeln.

»Eugen.«

»Ein schöner Name«, sagte Simon. »Bemüh Dich stets, seiner würdig zu sein.«

Mit großartig-nachlässiger Gebärde griff er in die Rocktasche und holte vor den Augen des erstaunten Knaben eine Handvoll blinkender Fünf- und Zehn-Centstücke heraus.

»Sei immer gut zu den Vögeln«, sagte Simon und leerte den Schatz in Eugens Hände.

Die Gants sahen Mister Gilroy fragend an.

»Das? Schon gut!« bemerkte Mister Gilroy vergnügt. »Er entbehrt es nicht. Er hat noch 'ne ganze Menge in der Tasche.«

»Er ist Multi-milli-onär«, bemerkte Mister Flannagan stolz. »Wir geben ihm jeden Morgen vier bis fünf Dollar in Kleingeld zum Verschenken.«

Simons Blick war zum erstenmal auf Gant gefallen.

»Geben Sie auf den Stingaree acht!« rief er. »Und denken Sie an Maine.«

»Ich will Euch was sägen«, erklärte Eliza. »Er ist gar nicht so verrückt, wie Ihr Euch einbildet.«

»Stimmt«, sagte Mister Gilroy zu dem schmunzelnden Gant. »Der Stingaree ist ein Fisch; er kommt an den Küsten von Florida vor.«

»Vergessen Sie die Vögel nicht, meine Freunde«, sagte Simon und ging von seinem Geleit gefolgt hinaus. »Seien Sie immer gut zu den Vögeln!«

Sie gewannen ihn sehr lieb. Irgendwie paßte er in ihr Leben. Keinem von ihnen wurde in Anwesenheit von Wahnsinn unbehaglich. Ins Dunkel der Frühlingsnächte hinaus barst plötzlich sein satanisches Lachen; Eugen lauschte erregt auf und schlief wieder ein, außerstande, das Lächeln der dunkel blühenden Bosheit, die von losem Kleingeld klinkernden Taschen zu vergessen.

Nacht. Das Sirren unzähliger kleiner Insektenflügel. Ich hört' den Uferlaut der Binnenmeere.

– Und die Luft wird von warmkehligen, pflaumenfallenden Vogellauten voll sein. Eugen war fast zwölf. Seine Kindheit war herum. Und als dieser Frühling sich vollendete, spürte er zum erstenmal das ganze volle Entzücken der Einsamkeit. Im dünnen Nachthemd stand er am Gartenfenster im Hinterzimmer von Gants Haus, trank die süße Luft tief ein, war glücklich, im Dunkel allein zu sein, hörte den langgezognen, klagenden Pfiff der westwärts fahrenden Züge.

Der Kerker des Ichs hatte sich ganz um ihn geschlossen; er lebte ganz in den Mauern seiner Phantasie. Er hatte nun gelernt, mechanisch vor der Welt ein annehmbares Abbild seiner selbst zur Schau zu tragen; das schützte vor Zudringlichkeit. In den Schulpausen war ihm die Qual des Verfolgtwerdens und der Flucht erspart. Er ging in die Oberklasse der Volksschule; er gehörte zu den großen Buben. Sein Haar war, als er neun Jahre war, geschnitten worden; nach einer erbitterten Belagerung hatte die starrsinnige Eliza nachgegeben; so hatte er auch um seiner langen Locken willen nicht mehr zu leiden. Aber er war wie Unkraut in die Höhe geschossen; er überragte Eliza bereits um vier oder sechs Zentimeter. Seine großen Knochen waren dünn und fragil; es war kein Fleisch daran. Seine ungemein langen, sehr dünnen und geraden Beine wirkten komisch; er ging wie eine Schere; er hatte einen weiten, springenden Schritt.

Auf den schmächtigen, unterentwickelten Hals gesetzt, unter dem großen breitstirnigen Kopf mit dem dichten Lockenhaar, das vom hellen Ahornbraun der Kindheit in ein tiefes Braunschwarz nachgedunkelt war, saß ein Gesicht, ein so kleines, delikat modelliertes Gesicht, daß es nicht zu dem Körper zu gehören schien. Die Fremdheit und Entrücktheit des Ausdrucks wurde durch eine leidenschaftliche, dunkelbrütende Versonnenheit noch gesteigert. Splitter eines Gedankens, Schatten einer Regung flogen über dies Gesicht wie Lichtreflexe über einen dunklen Teich. Der Mund war sinnlich voll, ungemein beweglich; die tiefeingekerbte Unterlippe war herausgestülpt. Dieses traumverzückte Gesicht trug gewöhnlich den Ausdruck einer fast doofen Nachdenklichkeit. Öfter als er lachte, lächelte Eugen. Er lächelte inwendig über irgendeinen phantastischen Einfall oder über irgend etwas, das im Gedächtnis auftauchend ihm jetzt zum erstenmal komisch vorkam. Wenn er lächelte, öffnete er die Lippen nicht; ein verzwicktes Flackern huschte über den Mund. Seine dichten, hochbogigen Brauen waren über der Stirn, zusammengewachsen.

Diesen Frühling war er einsamer als je, Elizas Umzug nach Dixieland vor drei oder vier Jahren, die Auflösung des festen Haushalts in der Woodson Street, hatte seine Freundschaften mit Harry Tarkinton, Max Isaacs und anderen Nachbarsöhnen unterbrochen. Er verkehrte nun fast kaum noch mit ihnen, nur gelegentlich nahm er die Beziehungen für eine Weile wieder auf. Er hatte keine ständigen Gespielen mehr, sondern nur noch eine Kette loser Beziehungen zu Kindern, deren Eltern für eine Zeit in Dixieland wohnten, mit Tim O'Doyle, dessen Mutter das Brunswick leitete, mit Kindern da oder dort, die ihn flüchtig interessierten.

Aber bald ödeten sie ihn furchtbar an. Ihm grauste vor der stumpfsinnigen Häßlichkeit ihres Wesens, ihres Denkens, ihrer Vergnügungen. Ihm war, als wate er in fauligem Sumpfwasser. Dumpfe Menschen entsetzten ihn. Es machte ihn wütend und ärgerte ihn, daß sie in einer Luft gedeihen konnten, die ihn niederdrückte. Aus diesem Grund konnte er seine Kusine Pett Pentland mit ihren verrosteten alten Tanten nicht leiden. Seine eigene Lebenslangeweile verdroß ihn nie so sehr wie die Langweiligkeit andrer Leute.

Die ganze Landschaft – sinnfällige Umwelt seines Daseins – lag nun im Sonnenglanz und in den Wolkenschatten vorurteilsvoller Zu- und Abneigungen, die in ihm unter Gott weiß was für unausfindlichen Wahlverwandtschaften entstanden waren. Eine Straße war für ihn »gute« Straße, ganz im Glanz lebensfülliger, hochherziger Fröhlichkeit gebadet ..., während eine andre ihm unerklärlicherweise als »schlechte« Straße, als bedrückend, furchtbar, hoffnungslos erschien.

Vielleicht war es das kalte, fahlrote Licht eines Vorabends im Winter, das hämisch frühlingsverheißend über einem Spielplatz verglomm, während in den Häusern ringsum blakende Petroleumlampen angezündet wurden, Männer in das dumpfwarme Gefängnis der Heime traten, schmutziges Kindergesindel in den Stuben Abendbrot aß und zu Bett ging ..., vielleicht waren diese Dinge daran schuld, daß er den Platz fortan haßte, obschon er die Umstände und Empfindungen, unter denen ihm der Platz häßlich vorgekommen war, längst vergessen hatte.

Oder; – er kehrte von einem Waldspaziergang an einem schwermütigen Herbstabend über die Cove Street und die Valley Street heim; er war durchgefroren und schmutzig; er hatte sich einen leichten Schnupfen geholt ... und fortan haßte er die beiden Straßen hartnäckig und hatte eine abergläubische Angst vor den Leuten, die dort wohnten.

Er hatte eine ganz ungewöhnliche Liebe für hartes, grelles, weißglühendes Licht. Er haßte dumpfe, trübe, weiche, gedämpfte, verschattete Lampen und Lichter. Nachts wünschte er in mit Bogenlampen scharf und durchdringend erleuchteten Räumen zu sein. Und dann das Dunkel.

Obschon er sich leidenschaftlich für Sport interessierte, war Eugen ein schlechter Mitspieler. Als ihm Max Isaacs, der Freund, längst nichts mehr bedeutete, nahm er an Max Isaacs, dem Baseballspieler, noch lebhaftesten Anteil. Max spielte meist Außenpositionen. Wenn ihm zugeschlagen wurde, schnellte er leicht über das ihm zugeteilte Feld, sprang wie ein Panther und fing den Ball mit müheloser Gewandtheit. Max war ein erstklassiger Ballschläger; ruhig-gespannt stand er vor dem Einschenk und traf den Ball voll mit knappem Armschwung und scharfem Schulterruck. Vergeblich versuchte Eugen, die Kraft und Genauigkeit dieses Zuschlags, der den Ball in weitem Bogen sausend über das Feld trieb, nachzuahmen. Es gelang nicht; er hackte plump und blind zu und schlug einen armseligen Aufdotzer in die Base. Im Feld war er ebensowenig zu brauchen. Er lernte es nie, in der Mannschaft zu spielen, ein Glied des organisch-bewegten, telepathisch-vereinten Ganzen zu sein. Er war übererregt, nervös und patzte, sobald er in der Gruppe spielte. Aber er verbrachte Stunden mit einem anderen Buben – oder nach dem Mittagessen mit Ben – beim Fangball zu zweit. Dies Spiel freute ihn; er war äußerst geschickt und schnell. Ben, durch einen behenden Rückwurf überrascht, stieß wilde Flüche aus und schmiß den Ball wütend zurück. Es freute Eugen, wenn der Ball in niederer Kurve ansausend in den lederbesetzten Fanghandschuh klatschte.

Im Frühjahr und im Sommer ging er, sooft er sich's leisten konnte oder eingeladen war, zu den Baseballspielen der Distriktsliga. Er war ein fanatischer Parteigänger des Stadtklubs und seiner besten Spieler; er träumte sich ständig in die Rolle des Sporthelden, der das Spiel für seine Seite rettet. Praktisch jedoch war es ihm unmöglich, sich der Zucht und den schweren Übungen zu unterwerfen und Niederlagen und Versagen hinzunehmen, wie es einem guten Sportsmann ziemt. Er wollte stets gewinnen, stets den General spielen, stets der heroische Träger des Siegs sein. Und dann wollte er geliebt werden. Siegen und geliebt werden. In schwärmerischen Phantasien sah er sich stets als Sieger und Geliebten.

Jedoch in Augenblicken klarer Einsicht, in denen ihm das ganze Elend des Lebens mit seinen Niederlagen aufging, erkannte er seine schlaksige, absurde Gestalt, sein unpraktisches, in Träume und Brüten verlornes Antlitz, das ihm viel zu sehr wie eine dunkle, fremde Blume vorkam, um Zuneigung bei Kameraden und Verwandten zu erwecken, eher aber deren Hohn herauszufordern schien. Wehen Herzens entsann er sich der zahllosen Demütigungen, die er zu Haus und in der Schule erlitten hatte ... ihm war dann, als seien die Hörner des Siegs im Wald verschallt und die Trommeln und Gongs des Triumphs in der Stille verzittert. Die Adler waren fortgeflogen. Vor seiner Vernunft kam er sich vor wie ein Wahnsinniger, der sich für Cäsar hielt. Er verrenkte den Hals, wandte den Kopf ungelenk zur Seite und schlug die Hand vors Gesicht.


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