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Schluß

Am Tage nach ihrer mißglückten Expedition in die Meierei hatten Niels Uldahl und der Schmied, mit kräftigen Eichenstöcken bewaffnet, den Verwalter Larsen aufgesucht, um wegen seiner Blasphemie mit Rikke an ihm Rache zu nehmen.

Aber die Knechte des Hofes waren, gegen die Gewohnheit, dem Verwalter zu Hilfe geeilt; und es hatte eine reguläre Schlacht stattgefunden, die mit der schmachvollen Niederlage der beiden Freunde endete.

Man hatte sie nach Hause tragen müssen. Den Schmied in seine Hütte im Dorfe, und den Gutsbesitzer in sein Turmzimmer.

Und während Niels Uldahl wochenlang hier lag, schimpfiert, gichtbrüchig und nüchtern – da trat der große Wendepunkt seines Lebens ein ...

Es war in einer Abendstunde, während Frau Line getreulich am Bett ihres Mannes saß und die nassen, kühlenden Umschläge auf seiner schimpfierten Nase wechselte, als Niels plötzlich ihre Hand ergriff und ein: »Dank!« flüsterte ... so zart und unsäglich milde, daß ihr großes warmes Frauenherz davon in seiner tiefsten Tiefe gerührt wurde. Sie vergaß all das Böse, das er ihr in den langen und schweren Jahren ihrer Ehe zugefügt; denn es war, als ertönte in diesem einen demütigen »Dank« ein Widerklang all der feinen und verständnisvollen Worte, die jede Seite der Liebesbriefe aus seiner Jugend erfüllten, die sie noch, trotz allem, pietätvoll aufbewahrte, und die sie oft, gemeinsam mit jener trostreichen Kunst des Kartenlegens, heil über so manche bitteren Stunden hinweggetragen hatten. Und die Sanftmut seines Blickes und seiner Stimme flößten ihr auf einmal Mut ein, ihm das zu sagen, was sie bisher vor ihm verborgen gehalten, was aber doch einmal gesagt werden mußte:

»Niels ...« begann sie zögernd, »ich muß dir etwas ... etwas erzählen ... Meinst du, daß du stark genug bist, es hören zu können?«

»Ich weiß es ...« nickte er stille unter den Umschlagen.

»Du weißt es?«

»Ja ... aber erzähle nur ...«

Sie zögerte noch. Die Tränen traten ihr in die Augen, so groß war ihr Mitgefühl mit ihm, und sie vergaß vollständig, daß das Unglück sie und die Kinder gleich schwer traf.

»Wir müssen von Havslunde ziehen, Niels ...« ertönte es dann – »Verwalter Larsen ist beim Kreditverein gewesen, und der hat ihm recht gegeben ... Der Hof ist verkauft.«

»An wen?«

»An ... an Hans Henriksen von Ravnsholt.«

Hier hatte sie einen Schrei des Zornes erwartet und blickte ihn in ängstlicher Spannung an.

»Niels, armer Niels ...« sagte sie.

Aber er beugte nur demütig seinen schimpfierten Kopf, so tief und reuevoll, daß ihm der kalte Umschlag von der Nase fiel.

»Und was sagen die Mädchen?« flüsterte er.

»Ach, daß du doch zuerst an sie denkst, Niels!« sagte sie und legte den Umschlag wieder zurecht. »Wie gut du bist!«

»Ich will versuchen, es zu werden ...« lächelte er betrübt zurück. »Aber du hast mir nicht auf meine Frage geantwortet ...«

»Doch,« sagte sie eilig – »Sophie ist natürlich sehr niedergeschlagen. Sie glaubt ja, sie könne nirgends anders leben als hier ... Aber die andern fassen es ruhig auf.«

»Und du selbst, Line?«

»Ach, ich,« lächelte sie, »denke jetzt nicht an mich ... Ich hatte nur Angst, Niels, daß du ... so Egesborg und Havslunde zu verlieren ... Und daß es gerade die von Ravnsholt sein müssen, die ...«

Er ergriff ihre Hand und drückte sie dankbar.

»Man muß lernen, sich Gottes Willen zu beugen,« sagte er.

»Ja ...«

Frau Line zog ihre Hand zurück und warf ihm einen unruhigen Blick zu. Angst und Unruhe ergriffen sie wieder.

Was war mit Niels vorgegangen? Woher diese plötzliche Demut und Gottesfurcht? Er wurde doch sonst nur religiös, wenn er berauscht war ... Sollte er ohne ihr Wissen ...?

»Ich habe lange gewußt, was es für ein Ende nehmen würde,« fuhr er fort, als seine Frau beständig schwieg. »Seit Onkel Joachim Vater den Stab abgeluchst hatte, habe ich gewußt, daß es kommen würde, das Unglück mit Egesborg und mit dem Hofe hier ... Deshalb stürzte ich mich in dies wilde Leben. Aber jetzt hat ja Gott alles zum Guten gewendet,« lächelte er fröhlich, »und wir können beginnen, wieder aufzubauen. Du, die Kinder und ich ... Denn nicht wahr, Line, ihr werdet mir vergeben ... Ihr laßt mich nicht im Stich, wie?«

»Nein ...« stammelte sie verwirrt.

»Ach hole sie! Hole die Kinder!« fuhr er fort, gleichsam hingerissen von dem Neuen, das in ihm gärte. »Hole die Kinder, liebe Gattin, daß wir uns mitsammen freuen können, über das, was geschehen ist ... alle!«

Der Umschlag fiel ihm wieder von der Nase, und sie legte ihn wieder zurecht.

»Der Umschlag ...« sagte sie.

»Ja, der Umschlag,« wiederholte er begeistert. »Der große, große Umschlag ...! Hole die Kinder, Line, meine Gattin, daß ich es vor ihnen bekennen kann!«

»Ja, aber, Niels, ...« versuchte sie.

»Ach Line, Line, du läßt mich also doch im Stich!« sagte er schmerzlich.

»Nein, nein, das tu' ich nicht, Niels ... Aber ... aber über was sollen wir uns freuen ...«

»Darüber, daß das Alte vergangen und alles neu geworden ist!«

Sie beugte sich schnell über ihn und packte ihn bei der Schulter.

»Du hast getrunken, Niels,« sagte sie, »und der Doktor hatte es doch so streng verboten.«

»Ja, ich habe getrunken!« rief er in Extase, »Aber aus einem Born, so tief und reich, daß mir das Herz davon schwillt ... Hole die Kinder, daß ich auch ihnen zu trinken geben kann!«

»Ja aber, Niels ...«

»Hole die Kinder, Line! Ich bitte dich! Daß die große Prüfung stattfinden kann.«

»Welche Prüfung ...?«

»Ob die Liebe alles überwindet ... Hole die Kinder!«

Und Frau Line gehorchte ...

Aber die Mädchen weigerten sich einträchtig, ihr zu folgen.

»Ich glaube dem alten, durchtriebenen Kerl nicht eine Sekunde!« sagte Fräulein Charlotte. »Er will bloß unser Geld in die Finger kriegen!«

 

Madame Pompadour-Henriksen hatte sich im langen Lauf der Zeit endlich beugen müssen, und die kleine Moor-Minka triumphierte ...

Die Sache hat folgenden Verlauf genommen:

Als der Handel um Havslundegaard mit dem Kreditverein eingeleitet worden war, hatte Madame Henriksen die Absicht gehabt, sobald der Kauf abgeschlossen war, ihren zweitältesten Sohn, Jeppe, auf Havslunde anzubringen, und Anders, dem Jüngsten, Kragholm zu überlassen, das kleiner war. Und wenn dann Hans, der Älteste, Ravnsholt, den größten der drei Höfe, zugeschrieben bekam, so war jeder der Söhne dem Alter entsprechend versorgt und der Gerechtigkeit Genüge geschehen ...

Aber draußen auf dem Moorhof saß also die landflüchtige Frau Minka, die auch ein Wörtchen mitreden wollte:

»Hans!« sagte sie deshalb eines Tages zu ihrem Ehe- und Reichstagsmann, »wie lange willst du noch zum Gelächter der ganzen Gegend hier umherlaufen?«

Hans starrte beschämt zu Boden, während Minka ihn prüfend betrachtete.

Und das Resultat dieser Untersuchung war, daß sie, als er wieder die Augen erhob, um zu antworten, sich ihm laut schluchzend an die Brust warf.

»Du liebst mich nicht mehr, Hans,« klagte sie, »denn dann würdest du dich nicht darin finden, daß deine Mutter mich so herabwürdigte!«

Hans hätschelte, streichelte und drückte seine Dame und versicherte, er hätte sie nie heißer geliebt als gerade im gegenwärtigen Augenblick.

»Dann muß mit der Komödie ein Ende gemacht werden,« sagte sie und bremste ihr Weinen. »Du mußt verlangen, daß deine Mutter mit Jeppe nach Havslunde zieht und uns beide auf Ravnsholt zufrieden läßt.«

»Das tut sie nicht!« sagte Hans mit tiefer Überzeugung.

Aber da riß Minka sich aus seinen Armen und rief:

»Dann verbiete ich dir, jemals wieder hier nach Moorhof zu kommen! Und kommst du doch, dann schließe ich mich in mein Zimmer ein, und du darfst auch nicht einmal einen Zipfel meines Kleides sehen. Ich will mich nicht länger in diese lumpige Behandlung finden! Bist du ein Mann! Sollst du helfen das Land regieren! Hä, ich sehe dich schon im Reichstag stehen und tratschen, du, der du nicht einmal Manns genug bist, deine eigenen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen!«

»Minkachen! Minkachen! Immer kalt Blut ...«

»Ich will mich scheiden lassen,« fuhr sie fort, »es ist viel besser, daß wir uns scheiden lassen, dann hat doch die Geschichte ein Ende!«

Hier begann sie wieder zu klagen und zu jammern, als sollte ihr armes Moorherz brechen.

»Und ich, die ich dich so lieb habe,« schluchzte sie, »das weißt du doch selbst.«

Ja, das wußte er, das wußte er ...!

Und er begann in seiner großen Not wieder zu hätscheln, zu streicheln, zu drücken und zu versichern ...

Worauf sie zu Bett gingen.

Und am Morgen darauf, als er Abschied nahm, schwor er, daß er ernsthaft mit seiner Mutter reden wolle.

Aber natürlich stieß er auf den steilsten Widerstand.

Die Pompadour, die noch nie zuvor in ihrem Leben gelacht hatte, schlug in ihrer Ungeübtheit eine Art Gelächter auf, das sich eigentlich wie das Gebrüll eines kranken Tieres anhörte, als sie den Vorschlag des Sohnes hörte, den Hof zu seinen und der Schwiegertochter Gunsten abzutreten.

»Ha, ha, ha!« sagte sie. »Und wenn ihr mit zwölf schwarzen Hengsten hier vorführet, würdest du mich um des trotzigen Mädels willen auch nicht einen Zoll breit vom Fleck bringen!«

Als Hans mit dieser pompösen Absage nach Moorhof zurückkehrte, gab Minka ihm zum Willkomm eine kräftige Ohrfeige und schloß sich ein.

Sie wollte ihn nicht sehen, sie könnte es nicht ertragen, sie wolle sich scheiden lassen, sie könne ihn nicht ausstehen ...

Aber nach einer halben Stunde, als er im Kontor des Jägermeisters saß und die Sache mit den Eltern erörterte, wurde die Entreetür ein wenig geöffnet und ein blaurotes verbrülltes Gesicht zeigte sich in der Spalte und sagte milde, aber von schluchzenden Lauten unterbrochen:

»Hans ... komm ... einen Augenblick ...«

Und Hans ruckelte entzückt in die Höhe und hinaus..

Minka hatte nun in ihrer Einsamkeit einen anderen Plan ausgeheckt:

Die beiden ältesten Brüder sollten die Höfe tauschen:

»Jeppe nimmt Ravnsholt,« sagte sie, »und du nimmst Havslunde. – Bist du nicht entzückt, Hans?«

Hans knaupelte.

»Ha, aber Ravnsholt ist doch gut hundert Tonnen Land größer ...« kam es dann.

Da sank Minka leblos zu seinen Füßen nieder.

»Geh! Fort aus meinen Augen! Du liebst mich nicht!«

Aber der Erwählte des Volkes blieb. Und die Sache wurde nach unzähligen Bredouillen so geordnet, wie es seine Frau gewollt hatte ...

Nun lag die Zukunft in rosigem Licht vor den jungen Leuten.

 

Zum ersten September sollte der neue Besitzer Havslunde übernehmen. Und die Familie Uldahl hatte vollauf zu tun, alles Nötige vorzubereiten und zu ordnen ...

Am fünfzehnten August wurde eine Auktion über den Hausrat und die Gebrauchsgegenstände abgehalten. Alle Sachen waren im Burghofe untergebracht. Das Wetter war gut; und die Leute kamen scharenweise von meilenweit her, wie Raben nach dem Aas ...

In der Ecke zwischen dem Hauptflügel und dem »Asyl« war aus Tonnen und Brettern eine Erhöhung hergestellt worden, und hier saß der Auktionator und rief, daß seine Stimme Lärm und Geschwätz durchschnitt.

Eigentlich hätte Isidor Seemann hierbei fungieren müssen, aber er hatte das Vergnügen dem zweiten Polizeigehilfen überlassen.

»Drei Kronen und 75« schrie dieser Stellvertreter munter über die Köpfe der Versammlung hinaus. »Drei Kronen und 75! Keiner mehr? Keiner mehr? ... Es ist ein ganz wundervoller Überrock! Er hat richtiges Seidenfutter! ... Das ist etwas für Sie, Christian Poulsen. (Er deutete auf einen kleinen, grinsenden Bauersmann.) Drei Kronen und 75 für einen Überrock mit seidenem Futter, das ist ja gestohlen! Na, Christian Poulsen, wird's was? (Christian Poulsen nickte.) Vier Kronen. Zum ersten! Zum zweiten ... zum dritten! Vier Kronen! ... Bum! (Der Hammer fiel.) Bitte Christian Poulsen! Tragen Sie den Rock mit Gesundheit auf ...! Oder lassen Sie ihn für Ihre Schwiegermutter umnähen, der tut's gewiß not, daß sie ein besseres Innere kriegt!«

Das Publikum gluckste und wand sich vor Lachen.

Eine neue Nummer wurde aufgerufen ...

Die Uldahlschen Damen hatten sich in ihre Zimmer eingeschlossen.

Aber Niels hatte das Martyrium auf sich genommen und ging still und demütig unter der Menge umher. Die Narben vom Kampf mit dem Verwalter Larsen waren noch deutlich in seinem Gesicht zu sehen; namentlich die große blutrote quer über der Nase. Aber Niels trug sie unangefochten zur Schau; und Frieden und Versöhnung leuchteten in seinen Augen. –

Dieses Heiligen-Betragen bereitete so manchem Anwesenden eine tiefe Enttäuschung. Man hatte sich darauf gefreut, den »Herrn Gutsbesitzer« betrunken umherwackeln und lärmen und rasen zu sehen, wie er es sonst zu tun pflegte, wenn ihm die geringste Kleinigkeit nicht nach Wunsch ging.

Es war sogar eine verstärkte Polizeimacht von zwei Mann zugegen.

Aber hier, wo Niels Uldahls Gut und Eigentum unter Lachen und Witzen in alle Winde zerstreut wurde, und ein neugieriger und schadenfroher Haufe sich heimlich und offensichtlich über den Ruin seines Hauses freute, hier lief er selbst friedlich umher, ruhig und beherrscht, als ginge ihn die ganze Widerwärtigkeit gar nichts an, Das konnte einen doch bucklig ärgern! ... Aber da kamen doch, Gott sei Dank, Hans Henriksen und Frau von Ravnsholt ... und sie steuerten gerade auf Niels zu ... so, jetzt mußte es doch hoffentlich mit einem Schaustück endigen.

Und man notierte mit Befriedigung, daß die große Narbe quer über des Gutsbesitzers Stirn noch röter und sichtbarer wurde, als er das Paar erblickte ...

Minka ging und lachte und sprach laut, und deutete auf die Sachen, die ihr Mann kaufen müßte.

»Pst!« Da ist der Gutsbesitzer!« sagte Hans plötzlich und wollte abbiegen.

Aber Niels streckte freundlich lächelnd die Hand aus und sagte:

»Guten Tag, Hans Henriksen! ... Ja, jetzt müssen Sie den Kampf hier aufnehmen. Bitten Sie den Herrgott, daß er Ihnen hilft, damit Sie nicht in mein Kielwasser geraten!«

Und als Hans stumm dastand, außerstande, diesen Augenblick zu bemeistern, wandte Niels sich an Minka:

»Guten Tag, Frauchen ...! Na, Sie sind auch zur Auktion gekommen.«

»Ja-e« stotterte Minka errötend. Es war ihre erste Begegnung nach seinen Vergewaltigungsversuchen.

»Ja, sehen Sie nun zu, daß Ihr Mann soviel wie möglich kauft, dann bleibt es doch, wo es hingehört.«

Und er streichelte sie noch einmal und ging lächelnd fort ...

»Satan auch,« murmelten die Bauern enttäuscht, »was ist denn heute mit ihm los!«

...Da tauchte Verwalter Larsen auf, lang und übermütig.

Er begrüßte laut die Umstehenden, während er höhnisch blinzelnd zu seinem ehemaligen Gebieter und Brotherrn hinüberblickte.

»So muß es ihnen gehen, den Butterdieben!« kicherte er.

Niels Uldahl hielt seinen Schritt an, als er das boshafte Kichern des Verwalters hörte.

Dann machte er bedächtig kehrt und ging zurück. Sein Gesicht war bleich, und die Adern standen darin wie Blutstreifen. Endlich! dachten die Bauern boshaft, jetzt kommt es!

Aber wiederum streckte Niels Uldahl friedfertig eine Hand aus.

»Verwalter Larsen,« sagte er, und nur wenige bemerkten, daß seine Stimme ein wenig bebte, »können Sie einem alten Mann seine unangebrachte Übereilung verzeihen ... Ich bitte Sie hiermit um Entschuldigung! Wollen Sie mir zum Zeichen der Versöhnung Ihre Hand reichen?«

Verwirrt streckte der Verwalter seine Hand hin, und Niels ergriff sie und drückte, sie ...

Und als Niels Uldahl sogar im Laufe des Tages hinging und seinen Erbfeind begrüßte, den alten Knudsen, den »Pferdehändler«, der ein väterliches Gut Egesborg, gekauft hatte, sahen die Bauern ein, daß der Verstand des Gutsbesitzers gelitten hatte und gaben den Mann auf.

 

Fräulein Charlotte hatte ihrem Vater Unrecht getan, als sie nicht an seine durchgreifende seelische Umwälzung glauben wollte; denn Tag auf Tag verging, ohne daß Niels Uldahl auch nur im geringsten seiner alten sündhaften Lebensweise wieder verfallen wäre. Spiritus genoß er nicht mehr, Karten rührte er nicht an, und nie mehr warf er sein Auge auf Weiber.

Ja, selbst seinem Busenfreunde, dem Schmied, der sich wieder zum Dienst gemeldet, hatte er die Wege gewiesen.

Doch natürlich erst, nachdem er zuvor in milden Wendungen versucht hatte, zu seiner unsterblichen Seele zu sprechen ...

Ergreifend war es, diese beiden alten Kombattanten, weißhaarig und narbenbedeckt vom Kampf desselben Lebens, trockenen Mundes nebeneinander im Turmzimmer sitzen zu sehen, an jenem bejahrten Mahagoni-Klapptisch, über den einst der Wein geflossen war und die Karten getanzt hatten ...!

Niels Uldahl hatte davon erzählt, wie ihm das Heil gekommen war: durch seine liebe, selige Mutter, die sich ihm im Traum gezeigt und ihn mit Worten und Gebeten vom breiten, asphaltierten Wege des Verderbens hinweg und auf den schmalen und steinigen dito der Entsagung verwiesen hatte.

»Schmied, Schmied!« schloß er seine erhabene Rede. »Kehre um! Kehr' um!«

Aber der Schmied kniff verschmitzt ein Auge zusammen.

»Und der Herr Gutsbesitzer wollen auch nicht mehr mit Frauenzimmern zu tun haben?« fragte er.

»Nein, nein!« sagte Niels entsetzt. – »Niemals!«

»Aber wie wollen der Herr Gutsbesitzer es nun loswerden!«?

»Dafür wird Gott sorgen!«

»Und trinken wollen der Herr Gutsbesitzer auch nicht mehr?«

»Nein!«

»Ja, aber, was hat man denn dann noch, möcht' ich fragen!«

»Die Entsagung, Schmied! Die große Freude an der Entsagung.«

Aber der Schmied schüttelte sein weißes Haupt.

»Ich finde wirklich, wir müssen schon ohnedies so vielem entsagen,« meinte er, »daß der Herrgott uns sehr wohl die paar Vergnügungen gönnen könnte, die noch übrig sind!«

Und wieder kniff er schelmisch ein Auge zusammen.

»Wollen der Herr Gutsbesitzer vielleicht auch nicht mehr essen?«

Niels lächelte nachsichtig.

»Ja, essen will ich,« sagte er. »Aber nur das Notwendigste.«

»Na also doch!« nickte der Schmied, und das Lachen überwältigte ihn. »Ja, wohl bekomm's also,« sagte er und stand auf. »Und auch gleich adieu ... und viel Vergnügen!«

»Denk' nun über meine Worte nach, Schmied!« rief ihm der Gutsbesitzer nach.

»Ja – ha – ha – a!« sagte der Freund und stürzte davon.

Niels Uldahl sah ihn von seinem Fenster mit krummem Rücken durch den Hof flüchten. Die Beine des Schmiedes schlugen zuweilen geradezu ein Kreuz unter dem Manne, so lachte er.

Aber dies rührte Herrn Niels keineswegs. Er wußte ja, der Weg der Entsagung war eingefaßt von den Dornen des Hohnes und den Nesseln des Spottes ...

 

Es war am Tage der Abreise ...

Die Familie Uldahl saß um den Frühstückstisch im Eßzimmer. Im Laufe des Nachmittags sollte man Havslunde verlassen.

Kisten und Körbe standen vollgepackt an den Wänden entlang, ebenso Säcke mit Wäsche und Kleidern und Bündel von Deckbetten und Kissen.

Die Fenster waren ohne Gardinen. Das Tageslicht fiel schneidend auf das ganze Chaos ...

Man aß in tiefem Schweigen. Nur ab und zu erklang ein »Bitte« und ein »Danke«, wenn die Schüsseln herumgingen ...

Plötzlich tauchte Fräulein Sophies bleiches Gesichtchen vor einem der nach dem Garten gelegenen Fenster auf; verschwand aber gleich wieder, ohne daß es jemand gesehen hätte.

Niels Uldahl saß und starrte andauernd auf seinen Teller hinab. Vor ihm stand ein Glas Milch ... Durch Frau Lines Vermittlung hatte er in den letzten paar Wochen täglich an den Mahlzeiten der Familie teilgenommen. Und wenn abends die Lampe im Wohnzimmer angezündet wurde, glitt er still durch die Entreetür hinein und setzte sich auf ein bescheidenes Stühlchen in einer Ecke, dankbar dafür, daß man ihn nicht fortwies oder aufstand und ihn im Zimmer allein ließ ...

All dies hatten Frau Lines warmfühlendes Herz und gute, milde Worte allmählich durchgesetzt.

Nur Fräulein Sophie verhielt sich jeder Art von Versöhnung gegenüber immer noch unerschütterlich abweisend. Der Vater war ihr sogar womöglich noch widerwärtiger, seit seine Demutsperiode begonnen hatte. Sie aß nie mit den anderen zusammen, und sie verließ ein Zimmer, sobald Niels sich zeigte. Er war für sie ein heimtückisches und unreines Tier, und sie floh schaudernd seine Nähe –. Eines Tages, als sie und Niels zufällig im Entree zusammentrafen, und er ihr furchtsam und flehend eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, flüchtete sie in den Hof hinaus und übergab sich aus Ekel vor seiner Berührung.

Frau Line hatte sie immer wieder gebeten und gebettelt, sich zu beherrschen. Aber Sophie hatte das eingeschüchterte Antlitz zu ihr erhoben und gesagt:

»Ich kann nicht, Mutter, ich kann nicht! Es hat keinen Zweck!«

»Ja aber, Sophiechen, bedenke doch, wenn wir jetzt in die Stadt ziehen und eine viel kleinere Wohnung bekommen, dann wirst du ja genötigt zu ...«

Sophie unterbrach sie:

»Ich ziehe nicht mit,« sagte sie hart. »Und laß mich jetzt zufrieden!«

Und Frau Line hatte resigniert das Haupt gebeugt. Sie verstand die harten Herzen ihrer Kinder nicht ...

Und als sie später oben in der »Kapelle« wie gewöhnlich ihre Karten hervorgeholt hatte, um mit ihrer getreuen Hilfe Trost und Aufklärung über die Zukunft zu suchen, hatte sich mitten in einem sonst verheißungsvollen Stern plötzlich ein schwarzes und nicht zu durchschauendes As in den Weg geschoben, so daß alles auch fernerhin in Ungewißheit und Dunkel da lag ...

Auch von dem Umgang mit ihren Geschwistern hatte Fräulein Sophie sich zurückgezogen. Sie fand in ihrem aufrührerischen Herzchen, daß sie sich niedrig und erbärmlich betrugen, indem sie in dieser Weise den Vater zu Gnaden aufnahmen, nur weil er jetzt, wie sie es in ihrer jugendlichen Kurzsichtigkeit nannte, kroch und schwänzelte und den Heiligen spielte.

Und sie vermied ihre Gesellschaft und streifte die Tage hindurch, nur von Türk gefolgt, in den Wäldern und am Strande der Bucht umher ...

Sie war wie ein friedloses irrendes Vögelchen, das eines Nachts plötzlich aus seinen Träumen erwacht ist und, dicht vor sich, in den gelbgrünen Augen einer Katze alle erstarrenden Schrecken des Lebens erblickt hat ...

Lieber, lieber Isidor, schrieb sie zum letzten Male in ihr Tagebuch, ich kann das Leben nicht mehr aushalten. Wenn die anderen heut nachmittag von hier fortfahren, fahre ich nicht mit, ich will nicht fort von Havslunde! Ich würde ja doch nur aus dem Wagen springen und schreien und schreien und zurücklaufen und wahnsinnig werden vor Sehnsucht. Wie kann man nur einen Ort so innig lieben, wo man es so schlecht gehabt hat? Ich weiß es nicht. Nein, ich will sterben, das ist das Einzige, was mir zu tun übrig bleibt. Und dann ist ja auch noch all das andere Schreckliche, das ich erlebt habe, Isidor, was ich Dir erzählt habe, und das was kein Mensch jemals erfahren soll, am allerwenigsten Du! Unten an der Bucht bei den zwei hohen Dünen, da ist ein Platz, dort könnt ihr mich finden, da ist es so schön. Ich weiß wohl, daß Türk mir nachspringen wird, aber dann faß ich ihn um den Hals und ziehe seinen Kopf unter das Wasser herunter, und dann sinken wir alle beide. Leb' wohl, leb' wohl, Liebster, liebster Isidor! Vergiß mich nicht! Aber ich habe trotzdem solche Angst!

Deine kleine
Sophie Uldahl-Ege
† den 28. August 1904.

Jetzt schlucke ich das Stück Radiergummi, das ich von Deinem Schreibtisch nahm, das soll kein anderer besitzen.


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