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Niels Uldahl war wieder auf Havslunde ...

Kurz nach Schluß des Reichstags im April hatte Frau Line folgendes aus Kopenhagen datiertes Schreiben erhalten:

Frau Line Uldahl-Ege
Havslundegaard.

Ich reise an einem der nächsten Tage ins Ausland und komme erst Anfang Mai wieder nach Havslundegaard.

Falls Sie über irgend etwas im Zweifel sein sollten, können Sie an meinen Verwalter Larsen sich wenden, der über alles in Frage Kommende schriftliche Instruktionen erhalten hat.

Uhldahl-Ege

Dieser Ukas wurde im Hauptflügel wie im Asyl mit allgemeinem Jubel aufgenommen; und es gab gleich am Abend eine extraordinäre Kaffeefète.

»Der alte Kerl getraut sich nicht nach Hause, ehe Mamsell Helmer gezogen ist,« sagte Fräulein Frederikke. Und das Mädchen hatte Recht. Niels Uldahl wagte nicht, sich auf Havslunde zu zeigen, solange Mathilde Helmer noch dort umherging. Sie hatte ihn den Winter hindurch mit Briefen bombardiert, die abwechselnd drohten und klagten, weil ihr im doppelten Sinne »gekündigt« worden war.

Aber Niels hatte seine gute, alte Methode angewandt und jede Zuschrift unbeantwortet gelassen.

Also am ersten Mai zog die Mamsell ab. Und so zehn, zwölf Tage später kehrte Niels Uldahl zurück.

Er wurde vom Kutscher Lars auf der Station abgeholt und begab sich direkt in sein Turmzimmer, ohne Frau oder Kinder zu begrüßen.

Das war um zwei Uhr.

Um fünf Uhr kam das Stubenmädchen Olga und pochte furchtsam an seine Tür:

»Das Mittagessen ist angerichtet, Herr Gutsbesitzer ...« meldete sie.

Keine Antwort.

Sie versuchte es noch einmal; aber mit demselben Resultat ...

Und auch beim Abendessen zeigte er sich nicht.

Aber als Frau und Töchter später im Wohnzimmer um die Lampe saßen, hörten sie ihn ins Entree kommen den Überrock anziehen, den Hut nehmen und das Haus verlassen.

Und später, als alle zur Ruhe gegangen, und er von seinem Ausfluge zurückgekehrt war, begann er in den unteren Zimmern herumzuwandern, Türen zu öffnen und zu schließen, in die Küche hinaus- und in den Keller hinab- und wieder zurückzugehen, daß Türk oben im Schlafzimmer-Korridor alle Augenblicke zur Treppe lief und rasend kläffte. Dieses Rumoren wiederholte sich nun Nacht für Nacht.

Aber allmählich gewöhnte man sich daran, wie man im Laufe der Jahre gelernt hatte, sich an die vielen anderen Absonderlichkeiten des Hausherrn zu gewöhnen. Und selbst Türk ließ sich nicht mehr stören ...

Aber Niels vermied sorgfältig jeden Verkehr mit seiner Familie. Seine Mahlzeiten servierte man ihm auf einem Tablett, das auf einen Tisch vor seiner Tür gestellt wurde. Und zuweilen aß er davon, zuweilen nicht. Es konnten ganze Tage verstreichen, an denen er kein Essen zu sich nahm. Und dann schlief er wahrscheinlich schwer und tierisch den Rausch aus, in dem er wieder begonnen hatte, Ruhe zu suchen. Wenigstens konnte man zuweilen sein Schnarchen bis weit auf den Hof hinaus hören.

»Was mag wohl Vater wider den Strich gegangen sein?« fragte Frau Line.

»Ach er hat wohl ein Teil Geld verspielt!« sagte Fräulein Charlotte.

Aber im übrigen ließen ihn die Damen leben, wie er wollte, einigermaßen zufrieden, solange er sich nur in Ruhe und für sich hielt.

Denn schlimmer war es für sie, wenn es ihm plötzlich einfiel, aus seiner Winterhöhle hervorzusteigen und den Hausvater zu spielen.

Dies geschah hauptsächlich, wenn Besuch da war.

Die Entreetür konnte dann plötzlich aufgehen und »der Mann« ins Wohnzimmer treten. Lächelnd und scherzend, als hätte er seine liebe Familie vor einem Augenblick verlassen und kehrte jetzt zurück. – – – –

Bei einer solchen Gelegenheit traf er zum ersten Male mit Minka vom Moor zusammen. Sie hatte ihn auf alle mögliche Weise zu vermeiden gewußt, in ihrem Herzen vor Schreck bebend, wegen all der Geschichten, die Fräulein Charlotte von ihm erzählt hatte.

Aber als Niels jetzt resolut auf sie zuging und liebenswürdig und gewinnend, wie er es gegen Fremde sein konnte, ihr seine Freude darüber bezeugte, daß ein so hübsches und frisches junges Mädchen seinen Töchtern Gesellschaft leisten wollte, fühlte sie sich nicht nur im höchsten Grade geschmeichelt, sondern schlug augenblicklich um und war ganz entzückt von dem seinen alten Herrn.

Und abends oben in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer sagte sie entrüstet zu Fräulein Charlotte:

»Es ist ja gar nicht wahr, all das, was ihr mir über euern Vater erzählt habt. Er ist ja der süßeste, alte Mann, den man sich denken kann und es ist wirklich eine Schande, wie Ihr ihn behandelt!«

»Meinst du?« fragte Charlotte trocken.

»Ja ... Und deine Mutter und ihr Mädels habt Schuld, daß das Verhältnis hier auf Havslunde ist, wie es ist!«

Charlotte lächelte nachsichtig, wie man über ein liebes Kind lächelt, das »mitredet«, breitete die Arme nach ihr aus und sagte:

»Du bist entzückend von Kopf bis Fuß! Küß mich!«

Aber Minka wich ihr schnippisch aus:

»Laß' mich zufrieden!«

Worauf sie sich in maulendem Schweigen auskleideten.

Die Sache war die, daß Minka ihres intimen Freundschaftsverhältnisses zu Fräulein Uldahl überdrüssig geworden war. Es hatte nämlich, wahrscheinlich durch dieses Verhältnis hervorgerufen und genährt, ein eigenes neugieriges Interesse für das andere Geschlecht in ihr zu erwachen begonnen; ein Interesse, das es ihr, wenn sie mit Männern zusammen kam, unmöglich machte, sich zu beherrschen. Es kam eine Unruhe und Nervosität über ihre ganze rundliche Person, die sie noch anziehender machten. Und es amüsierte sie, die Begierde der Männer unzweideutig in ihren Augen aufblitzen zu sehen.

Immer wieder hatten aus diesem Grunde Szenen zwischen den beiden Mädchen stattgefunden mit all den Tränen, Vorwürfen und Kündigungen eines regulären Liebesverhältnisses.

Aber bisher hatten doch diese Scharmützel stets mit Frieden und Versöhnung geendigt.

Gleich am nächsten Vormittag nach seiner ersten Begegnung mit der Moor-Minka hatte Niels Uldahl sich am Frühstückstisch eingefunden. Und trotz der abweisenden Haltung und der mürrischen Mienen von Frau Line und ihren Töchtern hatten sein munteres Geschwätz und seine verliebten Blicke die kleine Minka zu so herzlichem Lachen und so übermütigem Benehmen veranlaßt, daß Fräulein Charlotte bleich vor Zorn und Eifersucht sie plötzlich beim Arm gepackt und gesagt hatte:

»Wie stellst du dich an! Komm her, ich will mit dir reden!«

Aber Niels hatte sich scherzend Minkas anderen Armes bemächtigt und war mit ihr losgezogen.

»Nein, kommen Sie lieber mit mir, Fräuleinchen!« sagte er.

Und dann waren er und sie laut lachend ins Entree hinaus und von da ins Turmzimmer gelaufen, wo sie die Tür hinter sich zugeriegelt hatten ...

Aber nach einer Viertelstunde war das Moor-Mädchen wieder herausgestürzt, mit rotem Kopf und zerzausten: Haar.

Niels hatte sich hinter der verschlossenen Tür an ihr vergreifen wollen.

 

Der Sommer war gekommen. Der Park stand grün. Und auf dem großen Rasen vor dem Gartensaal blühten die Rosen ... Post-Ole kam an seinem Stock über den Burghof angetappert. Er schritt heute rascher aus als sonst. Der Schweiß rollte ihm in großen Tropfen über die Nase. Mitten im Hofe begegnete er Frau Line und Fräulein Sophie, die unten gewesen und die Hühner gefüttert hatten.

»Die gnädige Frau wissen es wohl?« fragte Ole mit der Mütze in der Hand, aber ohne erst guten Tag zu sagen.

»Nein ...« sagte Frau Uldahl lächelnd; sie kannte Post-Oles Weltereignisse aus Erfahrung. – »Was ist denn geschehen, Ole? Hat des Predigers Braune ein Bein zerbrochen?«

Fräulein Sophie lachte. Aber Ole sagte gekränkt:

»Nicht das ich wüßte! ... Aber im übrigen ist der Mann auf Kragholm gestern Abend um elf Uhr gestorben.«

»Onkel Franz!« sagte Fräulein Sophie überrascht.

»Ja, Franz, ja ...« nickte Ole, der ruhig begonnen hatte, die für das Gut bestimmten Postsachen aus seiner Tasche herauszusuchen. – »Er stand und wollte gerade zu Bett gehen, und da plautzte er um und war auch gleich tot ... Hier sind drei Briefe für den Herrn und einer für Frederikke und dann die Zeitungen.« Von wem haben Sie das gehört, Ole?« fragte Frau Line.

»Drin in der Stadt haben sie's erzählt ... Ist Post mitzunehmen?«

»Nein ...«

»Na, dann adieu!«

»Wollen Sie nicht herein, Ole, und Ihren Kaffee trinken?«

»Nein, habe keine Zeit ...«

Und beleidigt tappelte der Alte fort. Die Posttasche schlug ihm zornig gegen die Hüfte.

Frau Line ging ins Haus und in den Flur. Sie legte die Zeitungen und Briefe des Gutsbesitzers auf den Tisch vor der Turmtür und wollte wieder gehen. Aber dann wandte sie sich resolut um und klopfte an:

»Niels ...?«

Keine Antwort.

»Niels, ... dein Bruder auf Kragholm ist tot ...«

Aber als noch immer keine Antwort erfolgte, ging sie wieder in den Hof hinab, wo Fräulein Sophie stand und wartete. »Er hat dir natürlich nicht aufgemacht, Mutter?«

»Nein ...«

Die Augen des jungen Mädchens blitzten.

»Wenn er doch gestorben wäre!« sagte sie.

»Aber Sophie ...«

»Ja, das sage ich! Dann könnten wir andern doch in Frieden leben.«

Der Verwalter Larsen kam unten von der Scheune her.

Als das Fräulein ihn erblickte, wandte es sich schroff um und ging zum Asyl hinüber:

»Ich gehe zu den Alten ...« Frau Uldahl winkte dem Verwalter:

»Ist der Herr zu Hause, Larsen?«

»Nein, der Herr Gutsbesitzer ist heute morgen früh nach Kragholm geritten, wegen einer telephonischen Mitteilung, die er erhalten hat.«

Frau Line zögerte: sollte sie von dem Todesfall erzählen oder nicht. Auch sie empfand ein eigentümliches Unbehagen in der Nähe des Verwalters; aber in ihrer Hilflosigkeit sagte sie:

»Mein Schwager ist plötzlich gestorben ...«

»Ach, Hergott, ist er gestorben ... Ja, die Witwe wird keine Not leiden ...« »Nein ...«

Frau Line ging um den Giebel herum und in den Park, wo die Mädchen sich aufhielten.

In einer Hängematte lag Fräulein Anna und döste.

»Onkel Franz ist gestern Abend gestorben, Ännchen ..«

»Soo–oo? Woran ist der gestorben?«

»Wohl am Herzschlag ...«

»So; er war ja auch so dick geworden ...«

Fräulein Charlotte, Fräulein Frederikke und Minka vom Moor gingen auf dem Rasen und spielten Croquet.

»Hier ist wieder ein Brief für dich, Friedchen ...«

Frederikke griff eilig nach dem Brief und steckte ihn in die Tasche. Charlotte pfiff.

»Hu–it!« sagte sie.

»Kümmer dich um deine Sachen, Mädel!« pfauchte Frederikke.

»Onkel Franz ist gestern abend gestorben, Friedchen..« sagte Frau Line dann.

»Ist Onkel Franz ...! Dann wird Tante Karen doch entzückt sein!«

»Was sagst du, Mutter?« fragte Charlotte, die wieder völlig vom Spiel in Anspruch genommen war. »Du bist am Schlag, Minka!«

Und Minka schlug nach ihrer Kugel, daß Frau Uldahl springen mußte, damit sie ihr nicht auf die Füße flog.

Die Mädchen brachen in ein Gelächter aus. Und noch lachend wiederholte Charlotte die Frage:

»Was hast du von Onkel Franz erzählt, Mutter?«

»Er ist gestern Abend um elf Uhr plötzlich gestorben ...«

»Ih, aber Gott bewahre! ... Weiß es der alte Kerl?«

»Ja, er ist hinübergeritten ...«

»Gott sei Dank, dann sind wir ihn doch für heute los! ... Jetzt bist du dran, Frederikke.«

Und Frederikke stellte sich auf, um sorgfältig zu zielen und lancierte ihre Kugel flott durch den Mittelbogen ...

So wurde die Botschaft von Franz Uldahls Tod auf Havslundegaard aufgenommen.

Nur Mamsell Ingwersen sagte im Asyl zu Fräulein Sophie:

»Gott nehme ihn in gnädige Obhut, Sophiechen! Franz ist immer der beste der Kinder von Egesborg gewesen ...«

 

Auf Kragholm. An demselben Tage. Mittags ...

In dem grünen Fremdenzimmer lag Franz Uldahl unter einem großen, weißen Laken; das Zimmer war zur Silberhochzeit hergerichtet worden und roch noch schwach nach Kalk und Anstrich. Die Gardinen waren vorgezogen. Draußen im Garten zwitscherten die Vögel.

Zwei Frauen in mittleren Jahren stehen plaudernd am Kopfende des Bettes. Sie haben den Hausherrn gewaschen und »angekleidet« und wollen jetzt nach Hause zum Mittagessen.

»Ja,« sagt die größte von ihnen, ein Weib mit einer gewaltigen Adlernase und scharfen Augen, – »gleich als die Gnädige gestern abend nach mir schickte und wir ihn aus dem Schlafzimmer hier hereinschafften, sah er im Gesicht aus wie die meisten Leichen.«

Die kleinste der Frauen, vierschrötig und milde anzusehen, hob die Decke vom Gesicht des Toten.

»Und jetzt liegt er ständig und grient ...« sagte sie. »Ob er wohl so weiter grienen wird, bis er fault?«

Die erste warf einen kundigen Blick auf Onkel Franz, der rotwangig und lächelnd, wie in einem munteren Traum, dalag.

»Es scheint, Schockscheffel, so!« sagte sie. »Jetzt sieht es aus, als ob er das Kichern gar nicht mehr zurückhalten könnte.«

Die andere verjagte pietätvoll eine Fliege, die um die Nasenflügel der Leiche summte.

»Wer ist denn drinnen bei der gnädigen Frau?«

Der, der verrückte Gutsbesitzer von Havslundegaard und der Hofjägermeister von Hvidgaard und dann der Amtsrichter aus der Stadt drin ... Er gehört ja auch gewissermaßen zur Familie.«

»Ob es für die etwas zu holen gibt?«

»Nee, sie hat wohl schon dafür gesorgt, daß ihr alles zugeschrieben wird, so wie ich den Geizkragen kenne.«

Die vierschrötige Frau legte die Decke wieder auf das Gesicht des Toten, während die Lange fortfuhr:

»Weißt du, was ich glaube, worüber er liegt und grient, Jensine?«

»Nein ...?« fragte die andere neugierig.

»Ich glaube, daß er die Frau mit dem Körperlichen betrogen hat.«

»Meinst du ...?«

»Ja ... Er hat sich wohl ein paar Beischläferinnen gehalten, die sich jetzt melden und mit ihm vergnügt sind.«

»Ja–e,« nickte die Vierschrötige – »die Uldahlschen haben ja immer eine verzehrende Sucht nach dem weiblichen Geschlecht gehabt ... Es heißt, daß das vom Staatsrat herkäme, der soll drei Eier gehabt haben, heißt es. Aber das ist wohl gelogen.«

»Nein, das ist wahrhaftig ganz richtig!« beteuerte die Lange, »denn die Schmiede-Maren hat mir's selbst erzählt, und sie war mit auf Egesborg und hat ihn waschen geholfen ... Na, jetzt wollen wir nur sehen, daß wir uns zu Hause schleppen, damit wir unsern Bissen Essen beizeiten fertig kriegen!«

Und die Frauen gingen. Und um den Toten herum herrschte Schweigen ...

Ein Sonnenstrahl schlüpfte zwischen den Gardinen herein und fiel funkelnd auf die Decke des Bettes, die sich einen Augenblick zu bewegen schien, als ob Franz Uldahl in seiner Einsamkeit endlich seiner Lachlust Luft machte.


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