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Paul und Jürgen durften rings im ganzen Garten frei umherspielen und sich tummeln, wo sie wollten.

Nur in dem oberen Teil in unmittelbarer Nähe des Hauses durften sie nicht kommen. Und besonders dann nicht, wenn der Vater zu Hause war.

»Der Herr Amtsrichter muß Ruhe haben!« sagte Jürgen.

Aber im übrigen stand Isidor mit seinen Nachkommen auf dem allervortrefflichsten Fuß.

 

Es war an einem Sonntag-Vormittag, Anfang April. Die Sonne leuchtete, Bäume und Büsche dachten daran, auszuschlagen, und der Ostwind pfiff böse.

Draußen auf der Steintreppe vor dem Hause stand der Amtsrichter im dicken Winterrock und freute sich über das Frühjahr. In der Hand hielt er ein abgeschnittenes Stück Weißbrot, mit dem er zu den Karauschen hinunter wollte.

Jürgen kam derb und vierschrötig aus der Haustür und pflanzte sich neben den Vater auf:

»Darf ich mit dir spazieren gehen?«

Isidor blickte zu ihm hinunter und gewann es nicht über sich, nein zu sagen.

»Ja, du darfst.«

Der Junge machte eine Verbeugung, wie man sich ungefähr die Verbeugung eines Hauklotzes vorstellen würde.

»Danke!«

»Aber du darfst auf dem ganzen Wege keinen Mucs reden.«

»Nein!«

»Und du darfst mich nicht an der Hand halten.«

»Nein!«

»Willst du nicht einen Überrock anziehen?«

»Ne–ee!« sagte der Junge verächtlich, »das ist doch bloß was für alte Männer.«

Und sie gingen zusammen durch den Garten.

Kaum waren sie zehn Schritt gegangen, als Jürgens Finger sich heimlich in des Vaters Hand schmuggelte.

»Haben wir nicht abgemacht, daß du mich nicht an der Hand halten sollst?«

»Doch ...« lachte der Knabe verlegen und zog schnell seine Finger zurück. »Ich hatte eben dran vergessen ...«

»Also!«

Auf dem Abfallshaufen hinter der Nußhecke stand Paul, die Arme über der Brust gekreuzt und starrte fanatisch über den Karauschenteich hin.

»Was tust du?« fragte Isidor.

Der Knabe sah ihn nicht an, sondern starrte unverwandt über den Teich:

»Ich bin Napoleon I., der auf den Alpen steht und über den atlantischen Ozean blickt!« sagte er.

Isidor griff an seinen Hut.

»Gestatten Ew. Majestät, daß ich die Kar ... die Delphine füttere?«

Paul winkte gnädig mit der Hand.

»Bitte, mein Herr,« sagte er.

 

Als der Amtsrichter und Jürgen mit dem Füttern der Fische fertig waren, gingen sie aus dem Garten hinaus und bogen am Kreiskrankenhause vorbei und in die »Anlagen« der Stadt ein. Hier drinnen schossen Tulpen und Osterlilien zu Haufen hervor, und der Ostwind war beißend ...

»Frierst du nicht, Jürgen?«

»Nein, es ist doch Sommer!«

Jürgen hatte schon längst wieder seine Hand in der des Vaters untergebracht. Aber seinen Mund hatte er doch bisher hübsch gehalten.

Jetzt kam der endlich in Gang, und indem der Knabe seine linke Hand ballte und damit durch die Luft hieb, wie zum Angriff, fragte er:

»Willst du glauben Vater, daß ich Karl Petersen klein kriegen kann.«

Der Amtsrichter zuckte bei der Störung zusammen.

»Ich glaube, wir hatten abgemacht, daß nicht gesprochen werden sollte,« sagte er dann.

»Ja ...!« nickte der Knabe, »aber wenn du innen so wärst wie ich, dann könntest du gewiß auch nicht so lange stillschweigen.«

Sie kamen den Weg am See entlang. Jürgen warf einen mißbilligenden Blick auf das schmutziggraue Wasser.

»Dumm, daß hier keine Walfische sind!« sagte er.

Isidor antwortete nicht.

Bald darauf begegneten sie einer Dame, die der Knabe grüßte.

»Das war mein Reserve-Fräulein aus dem Kindergarten,« erklärte er.

Und der Amtsrichter, dem es schien, daß es Sünde sei, ihn noch länger zu knebeln, fragte entgegenkommend:

»Wie heißt sie?«

»Sie heißt Frau Mathiesen ... Darf ich weiter sprechen?«

Und als der Vater zustimmend nickte, stand während der Stunde, die der Spaziergang dauerte, der Mund des kleinen Kerls nicht still ...

 

Als sie den Garten der Villa wieder erreicht hatten, kamen Paul und der erwähnte Karl Petersen ihnen aus einem Busch entgegengesprungen.

»Steht, oder Ihr seid des Todes!«

Die beiden Jungens hatten einen Kranz von Federn um den Kopf. Ihre Gesichter waren rot und blau tätowiert, und in Nasen und Ohren trugen sie Ringe, die aus dem Verschlußdraht von Selterflaschen hergestellt waren. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet mit Bogen, Pfeilen, Spießen und Lanzen. Und Paul trug als Zeichen seiner höheren Abstammung ein altes Katzenfell auf der linken Schulter.

Jürgen verstummte vor Bewunderung mitten in einem Satz.

»Ich bin ein junger Indianerhäuptling aus dem Inkastamm,« erklärte Paul, und setzte Isidor seine Lanze auf die Brust. »Karl Petersen ist mein Waffenträger. Und wir sind draußen auf Rekognoszierung mit der Ordre von meinem Vater, dem Leichenfresser, jeden niederzustechen, der den Feldruf nicht gibt!«

»Und wie lautet der?« fragte der Amtsrichter in Angst.

»Die neun Wasser!«

»Die neun Wasser!« wiederholten die beiden überrumpelten schnell.

»Die neun Wasser, passiert!« sagte Paul und ließ die Lanze sinken.

Aber im selben Augenblick hielt er einen Finger in die Höhe und lauschte gespannt.

»Pst!« sagte er. »Hört Ihr das scharfe Pfeifen? Die Irokesen sind jenseits des großen Sees vorgerückt! Schnell, deckt euch!«

Und er und Karl Petersen sanken hinter dem Busch in die Kniee und zogen die anderen mit sich.

»Sie haben das Ufer erreicht!« fuhr Paul fort, bleich vor Gemütsbewegung. »Hört Ihr das leichte Rasseln in den Binsen? Wenn der Auerochse sie anführt, dann sind wir verloren!«

»Langschnauze!« sagte der Waffenträger Petersen erregt. »Der weiße Mann steht auf.«

Paul zielte mit seinem Bogen auf den Amtsrichter, dem die Kniee angefangen hatten, müde zu werden.

»Rühr' dich nicht, oder ich schieße!« sagte er.

Isidor sank unwillkürlich wieder in die Kniee.

»Gnade ...?« bat er, »Gnade für einen älteren Herrn? Könnt Ihr den jungen Mann hier nicht brauchen? Ich schenke ihn euch!«

»Ach, ja, nicht wahr, Paul?« bat Jürgen, bebend vor Kampfeseifer.

Paul Langschnauze wechselte ein paar Worte in der Inkasprache mit seinem Waffenträger.

» Radamaly suopis sek!« sagte er. »Wir brauchen einen Bluthund.«

Jürgen senkte augenblicklich die Schnauze zu Boden und schäumte wild.

»Vorwärts,« kommandierte Langschnauze, »mein Vater, der Leichenfresser, will in den Sümpfen nördlich der großen Seen mit uns zusammentreffen!«

Und fort schlüpften die Indianer zwischen den Büschen.

Bald hörte man nur das Kläffen des Bluthundes aus der Ferne ...

Grüngelb vor Neid wanderte der Amtsrichter einsam dem Hause zu.

 

Auf Groß-Ravnsholt ging alles denselben soliden Gang wie zu Lebzeiten Joachim Uldahls. Die Pompadour, die wahrend der Krankheit des Gutsbesitzers das Oberkommando geführt, stand auch weiter der Verwaltung vor und ihre Söhne gehorchten ihr, ohne zu mucksen.

Aber sie behandelte sie mit größerem Respekt. Und man erzählte sich, daß sie sogar beim Rechtsanwalt Bock gewesen war und sich erkundigt hatte, ob es nicht möglich sei, daß die »Jungens« den Namen Uldahl annehmen könnten. Und da sich dies nicht machen ließ, war sie wütend und ließ sich auch stets Henriksen nennen ... Sie war wie früher die erste, die morgens aufstand, Feuer machte zum Frühstück, die Dienstboten weckte und die Arbeit in Gang brachte.

Aber mittags präsidierte sie im herrschaftlichen Eßzimmer gegenüber den Söhnen, die ins Hauptgebäude hinaufgezogen waren, wo sie jeder ihr Zimmer bekommen hatten und »drin« aßen ...

Onkel Joachim hatte sich nicht allein mit der Pompadour verheiratet, sondern er hatte sie auch, um seine Familie gründlich zu ärgern, testamentarisch zu seiner Universalerbin eingesetzt, mit Ausnahme einiger kleiner Legate und der hundertundzwanzigtausend Kronen, die er für die Mädchen auf Havslundegaard bestimmt hatte.

Aber, obwohl Madame Henriksen also dem Namen nach und in Wirklichkeit auf dem Gut Nummer Eins war, hielt man doch stillschweigend unter sich ihren ältesten Sohn Hans für den gegenwärtigen und zukünftigen Herrn auf Ravnsholt. Mit ihm beriet sich die Mutter auch immer über den Betrieb des Hofes und die übrigen Geschäfte.

Auch die beiden jüngeren Brüder, Jeppe und Anders, hatten ihn von Kindheit an als das natürliche Oberhaupt der Familie betrachtet. Nicht gerade weil er der Tüchtigste war, denn die anderen gaben ihm in dieser Beziehung nichts nach, sondern weil er nun einmal der Älteste war. Und außerdem waren die drei Brüder mit ihrer Mutter darin einig, daß Jeppe und Anders, sobald sich die Gelegenheit bot, jeder einen passenden Landsitz haben sollten wie Hans. Sie konnten ja doch nicht auf die Dauer alle hier auf Ravnsholt umhergehen und übereinander stolpern ...

Aber vorläufig ging es also in der guten alten Weise.

Und sie arbeiteten nicht allein jetzt wie früher mitsammen, sondern sie studierten auch ferner gemeinsam. Sie waren als Knaben nur in die Dorfschule gegangen und hatten deshalb seit sie erwachsen waren, emsig gestrebt, das Versäumte nachzuholen. Und sie saßen nun alle Abend nach beendigtem Nachtmahl unter der Hängelampe im Bureau und lasen und schrieben und rechneten und belehrten und halfen einander.

Und in der Ecke hinter dem Geldschrank saß Madame Henriksen in dem alten Lehnstuhl des Gutsbesitzers und hörte andächtig bewundernd zu.

Aber da kam die Geschichte mit Minka vom Moor.

Schon mehrere Jahre vor Joachim Uldahls Tod war Hans mit einem Mädchen namens Marie Sejfert gut Freund gewesen und hatte ein paar Kinder mit ihr bekommen. Sie war die Tochter eines Holzschuhmachers im Dorfe und »nähte« zu Hause bei ihren Eltern. Hans hatte immer die Absicht gehabt, sie zu heiraten, hatte aber nicht gewagt, mit dem Gutsbesitzer darüber zu sprechen. Und die Pompadour hatte ihm auch eifrig abgeraten, da man nie wissen konnte, wie der alte Herr sich zu der Sache stellen würde.

»Warte du lieber, bis der Gutsbesitzer eingebuddelt ist,« sagte sie. »Das kann unter keinen Umständen mehr so gefährlich lange dauern; und ein paar Groschen fallen nachher wohl ab; und dann bist du dein eigener Herr.«

Und Hans sah das Richtige dieses Raisonnements ein und wartete ...

Aber dann geschah ja das Unerwartete, die Heirat und Standeserhöhung der Mutter.

Schon am Tage nach dem Begräbnis, bei dem ihr sehr viel Respekt und Teilnahme erwiesen worden war, nahm sie den Sohn beiseite und sagte:

»Hast du was Entscheidendes mit Marie Sejfert abgemacht?«

Hans blickte vor sich hin:

»... »Nee ...«

»Hast du noch Absichten auf sie?«

»... Nee ...«

»Ja, die Sache ist doch jetzt anders geworden.«

»... Ja – e ...«

»Und du brauchst dich jetzt nicht mit der ersten besten zu begnügen!«

»... Nee ...«

»Wie willst du dich losmachen?«

Hans starrte ständig zu Boden und sagte:

»... Ihr Vater möchte gern einen kleinen Holzschuhhandel drüben in Rynkeby aufmachen ...«

Madame Henriksen sandte ihrem klugen Sohn einen bewundernden Blick zu:

»Na,« sagte sie – »Ja, da wird sich wohl ein Ausweg finden lassen ... Wie viel muß er 'reinstecken?«

»Siebenhundert Kronen ...«

»Ja – e, das ist doch ein Geld ...«

»Ja – e ... aber Jeppe und Anders brauchen nicht ihre Nasen dazwischen zu stecken ...«

»Nee ...« sagte die Pompadour. »Natürlich nicht!«

Und vierzehn Tage später zog die Holzschuh-Familie samt der Tochter und deren Kindern nach Rynkeby, fünf gehörige Meilen von dem Hofe und Gute Ravnsholt entfernt ...

 

Aber worüber Hans Henriksen nicht mit seiner Mutter sprach, das war die wahnsinnige Leidenschaft, die ihn ergriffen hatte, die kleine Teufelsrange Minka vom Moor zu besitzen, zu pressen und zu drücken. Er hatte nie vorher ein solches Gefühl verspürt. Er war ganz krank vor Begierde nach ihr.

Er hatte sie jetzt am letzten Neujahrstage bei einer Dilettanten-Vorstellung im Vereinshause gesehen. Sie stand als »Königin der Nacht« in einem Tableau. Und nachher hatte sie mit den jungen Leuten getanzt und gedalbert, die ganz wild hinter ihr her waren. Für Hans Henriksen hatte sie weder einen Blick noch ein Wort gehabt. Aber seine begierigen Augen hatten sie überall hin verfolgt. Und, die Fäuste in den Hosentaschen geballt, hatte er geschworen, daß sie sein werden müsse, und sollte er ihr auch in einer dunklen Nacht auflauern und sie vergewaltigen!


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