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Die Verhältnisse auf Havslunde waren vorläufig so geordnet worden, daß der Kreditverein den Hof unter der Leitung des Verwalters Larsen weiterführte, während die Familie Uldahl im Hauptflügel wohnen bleiben und eine kleine jährliche Apanage ausgezahlt erhalten solle ...

Am Abend desselben Tages, an dem dies Arrangement getroffen und Isidor Seemann nach Hause gefahren war, saßen Frau Line und ihre Töchter nach dem Tee im Wohnzimmer.

Die Lampe war angezündet; aber keiner begann etwas. Jeder war in seine eigenen tristen Gedanken vertieft.

Auf seinem Teppich in der Ecke am Kamin lag Türk und schlief. Seine tiefen Atemzüge waren der einzige Laut, den man vernahm ...

Plötzlich erhob sich Frau Line.

»Ich gehe hinüber und hole Vater,« sagte sie, ohne zu den Töchtern hinüberzublicken. »Es ist Sünde daß er heute abend allein drüben im Turm sitzen soll.«

»Mutter ...!« ertönte es schnell und angsterfüllt von Fräulein Sophie.

Aber Frau Uldahl tat als hörte sie es nicht und verließ das Zimmer.

»Brr!« sagte Fräulein Charlotte verächtlich und ließ ihre Hände an ihren schlanken Hüften hinuntergleiten. »Daß Mutter sich in dem Grade erniedrigen kann!«

»Wollen wir in unsere Zimmer hinaufgehen?« schlug Frederikke vor.

»Nein,« sagte Sophie bestimmt. »Dann bleibt Mutter ja allein mit ihm.«

Fräulein Anna, die Älteste, sagte nichts. Sie lag mit dem Nacken gegen die Stuhllehne und starrte in die Luft hinaus.

»Ich finde, es ist das Niedrigste, was ich je erlebt habe,« begann Frederikke wieder, »sich einzuschließen, und Mutter, die gar keinen Begriff von solchen Geschäften hat, das Ganze allein abwickeln zu lassen.«

»Das sieht den tapfern Männern ähnlich!« sagte Charlotte kurz. »Merkwürdig, daß er nicht geradezu abgereist ist.«

»Er hat wohl kein Geld gehabt ...« meinte Frederikke.

Und Sophie, die klein und bleich in ihrem Stuhl zusammenkroch, fragte:

»Sind wir jetzt arm?«

Aber Anna sagte immer noch nichts. Es sah aus, als ginge sie die Sache ganz und gar nichts an. Sie hatte die Augen geschlossen und wiegte langsam den Kopf über der Stuhllehne hin und her.

»Anna ...?«

»Ja ...«

»Schläfst du?«

»Nee ...«

»Hörtest du, daß Mutter hinüber ging, um den alten Kerl zu holen?«

»Ja – e ... (Der Kopf wiegte sich unablässig, und die Augen blieben geschlossen) ... das hab' ich wohl gehört.«

Frederikke hatte gefragt. Und jetzt sagte Charlotte als Antwort auf Sophies Frage:

»Nein, arm sind wir nicht. Wir haben doch Onkel Joachims Geld; und das kann Vater nicht anrühren, sagt dein himmlischer Isidor.«

Fräulein Sophie verkroch sich noch tiefer in den Stuhl und sandte der Schwester einen kranken Blick zu. Wie konnte sie es nur über sich gewinnen, so boshaft zu sein.

Aber Fräulein Frederikke, die nicht gehört hatte, wovon die beiden anderen sprachen, lachte still vor sich hin und sagte:

»Euer Vater, der Windbeutel! ...! Wißt ihr noch, so hat ihn Onkel Joachim genannt, als wir das letzte Mal auf Ravnsholt waren.«

»Ja, er war ein kluger Mann!« nickte Fräulein Charlotte – Ach Anna,« rief sie dann ärgerlich – »kannst du den Kopf nicht stille halten! Ich werde ganz seekrank, wenn ich dich ansehe!«

Anna richtete sich auf. Aber nur für einen Augenblick. Dann stützte sie die Ellbogen auf die Tischplatte und ließ den Kopf in die Hände sinken.

»Sie ist betrunken,« sagte Charlotte hart und gefühllos. »Jetzt trinkt sie Brennspiritus!«

»Was sagst du da, Mädel ...!« murmelte Anna, aber ohne sich zu rühren.

Fräulein Sophie sah mit einem fast entsetzten Blick auf. Die Tränen standen ihr in den Augen, und sie wäre am liebsten bis an den Rand der Erde geflüchtet und hätte sich hinab und von alle dem fortgleiten lassen ...

Es entstand jetzt eine längere Pause; bis Fräulein Frederikke fragte, und zwar mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt:

»Hast du gehört, Charlotte, daß die Moor-Minka sich mit Hans Henriksen von Ravnsholt verheiraten wird?«

Das Blut fuhr Charlotte wie mit einem Stempelschlage in die Wangen.

»Wer sagt das?«

»Die Mädchen ...«

»So, ich dachte es wäre Eleve Jacobsen ... oder einer von deinen Handlungsreisenden, die es dir zugetragen hätten.«

Jetzt war Frederikke an der Reihe zu erröten.

»Mich friert ...« sagte Fräulein Sophie und schüttelte sich. »Ich finde es hier so kalt ...«

Fräulein Anna hatte wieder begonnen den Kopf hin und her zu wiegen.

Niemand sprach mehr ...

So saßen die vier Schwestern und warteten auf ihre Eltern.

 

Türk erhob lauschend sein großes, schwermütiges Gesicht und knurrte.

Fräulein Sophie lief zu ihm:

»Willst du schweigen!« sagte sie und umspannte seine Schnauze mit ihren Händen.

»Laß ihn nur!« sagte Frederikke.

»Nein, er darf nicht ... Mutters wegen!«

Es ertönten Schritte draußen im Entree. Und Niels und Frau Line traten ein.

In demselben Augenblick fuhr Türk von seinem Lager auf und erhob ein schallendes Gekläff.

»Halt's Maul!« sagte Sophie außer sich vor Nervosität und gab dem Hunde einen Fußtritt, daß er jammernd auf seinen Teppich zurückkroch. Aber seine Augen folgten ständig jeder Bewegung des Gutsbesitzers. Er konnte den Anblick des Hausherrn nicht ertragen, und als Niels ihn versuchsweise streichelte, um sich einzuschmeicheln, schnappte das Tier gierig nach seiner Hand.

»Ach, Sophiechen ...« bat Frau Line, »meinst du nicht, daß es das beste wäre, Türk auszusperren? Er ist so unruhig.«

Sophie erhob sich:

»Komm, Türk ...!«

Und der Hund kroch fast zur Türe hinaus.

Niels Uldahl war mitten im Zimmer stehen geblieben. Er sah so innig schuldbeladen und bejammernswert aus. All seine ehemalige Größe und Verwegenheit schienen ihn verlassen zu haben, jetzt, da er zum ersten Male Angesicht zu Angesicht denen gegenüber gestellt war, die er so schändlich verraten hatte. Er tastete mit den Händen umher und wand den Körper, als wüßte er weder, was er sagen, noch was er tun solle. Und dann hatte er sich so wahnsinnig jungburschenhaft zu der Situation kostümiert: helle Beinkleider, bunte Weste und braune, kurze Sammetjacke.

Seine Hilflosigkeit wirkte ansteckend auf Frau Line, die flehend zu ihren Töchtern umherblickte, ob sie denn nicht Erbarmen haben wollten.

Aber Charlotte und Frederikke saßen schweigend und unzugänglich auf ihren Stühlen. Und Fräulein Anna hatte beim Kommen der Eltern nicht einmal den Kopf aus den Händen erhoben.

Von hier war keine Rettung zu holen ...

Als deshalb Fräulein Sophie wieder ins Zimmer trat, machte Niels in seiner Qual einen verlegen-verzweifelten Versuch über den toten Punkt fortzukommen. Er ging forsch auf sie zu, legte einen Arm um ihre Taille und fragte flott und keck:

»Na, mein Kind, hast du nun das scheußliche Tier expediert?«

»Ja ...« flüsterte Sophie und verzog sich aus seiner Nähe, um seine Berührung zu vermeiden.

Aber als er sich in diesem Augenblick lächelnd über sie beugte, um ihr einen väterlichen Kuß auf die Stirn zu drücken, und sie sein rotes, aufgedunsenes Gesicht sah und seinen stinkenden Spiritusatem roch, wurde sie von einem solchen Schrecken und Ekel ergriffen, daß ihr der Boden gleichsam unter den Füßen fortglitt, und sie wäre umgestürzt, wenn nicht Frau Line und Fräulein Frederikke herzugeeilt wären und sie aufgefangen und fortgebracht hatten.

Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, erhob sich auch Fräulein Charlotte und verließ das Zimmer ...

Und nun war also Niels Uldahl allein mit Fräulein Anna zurückgeblieben, die sich wiederum gegen die Stuhllehne gebeugt hatte und langsam und unaufhörlich den Kopf wiegte, hin und her und hin und her ...

 

Es verhielt sich richtig, wie Fräulein Frederikke gesagt hatte: Minka vom Moor sollte Hans von Ravnsholt heiraten.

Sobald es nämlich ruchbar wurde, daß sie von Havslunde zurückgekehrt war, war Hans Henriksen augenblicklich nach Moorhof hinübergefahren, um zu freien.

Er wurde von den Eltern, die den Grund seiner häufigen Besuche geahnt hatten, freundlich aufgenommen.

Und als Minka dieses große gutgewachsene Stück Mann ein paarmal richtig angesehen hatte, dessen brennende Augen an ihr hingen, wo sie auch ging und stand, huschte sie ihm eines Tages, als er wieder schweigsam und bettelnd in ihrem Zimmer saß, plötzlich auf den Schoß, kuschelte sich an ihn und sagte:

»So nimm mich doch, du alter Bär!«

Er hatte geweint und geheult, außer sich vor Entzücken darüber, sie endlich in seinen Armen zu halten. Er hatte sie dermaßen an sich gedrückt, und in seiner Freude so mit ihr herumgewirtschaftet, daß sie ganz wirre und ängstlich geworden war, aber trotzdem in der höchsten Wonne und Qual gerufen hatte:

»Mehr! Mehr ...!«

Und noch am selben Abend, ehe er heimwärts zog, hatten sie ein glühendes Hochzeitsfest unten im duftenden, frischgemähten Heu auf der Wiese gefeiert, während die Elfennebel tanzten und die Frösche quakten ...

»Charlotte, Charlotte!« schrieb Minka am folgenden Tage in einem Brief an ihre ehemalige Freundin, »Charlotte! Charlotte! Nimm dir einen Mann, Mädel! Versuche es! Bei Gott im Himmel, du wirst es nicht bereuen!

Deine kleine, im siebenten Himmel schwebende Freundin Minka Thorsen.«

Da die Moor-Minka das einzige Kind war, und der Jägermeister Thorsen für sehr wohlhabend galt, fand die Partie nur Beifall bei Madame Henriksen – obwohl das Mädchen reichliche 25 Jahre jünger war, als sein Bräutigam.

Eines Tages nach dem Mittagessen ließ die Madame deshalb anspannen und fuhr zu Besuch bei ihren neuen Verwandten. Hans mußte zu Hause bleiben. Die Pompadour sah am besten, wenn sie allein war.

Und wie eine Königin thronte Madame Henriksen eine Stunde später auf dem vornehmsten Sofa des Moorhofes, umhuldigt und bekomplimentiert vom Jägermeister nebst Frau.

Nach dem Willkomms-Kaffee wurde sie draußen und drinnen herumgeführt. Ihre kundigen Augen schätzten Inventar und Viehstand bis auf den Achtel Öre ab; und sie fand alles außerordentlich gut. Der Moorhof mit Ravnsholt zusammen, kalkulierte sie, würde im Laufe der Zeit ihren ältesten Sohn zu einem der angesehensten Männer der Gegend machen.

Und plötzlich sagte sie:

»Wißt ihr, daß Hans gestern zum Vorsitzenden des Gemeinderats gewählt worden ist?«

Nein, das wußten die Schwiegereltern nicht.

Ja, das wäre er. Mit fünf Stimmen gegen zwei und die beiden hatten sogar nur füreinander gestimmt.

»Ha, ha, ha!« lachte der Jägermeister und schlug sich auf die Schenkel.

Thorsen war ein großer dickblütiger und lärmender Bauersmann, der seinen Titel bekommen hatte, weil seine Frau eine Halbkusine des Ministers der Landwirtschaft war.

Während des ganzen Besuches von Madame Henriksen hatte Minka sich wie ein junges Kätzchen um die Schwiegermutter herumgeschlängelt. Aber die Madame hatte sich in ihrem schwarzen Merinokleide steif und stramm gehalten und sie abtaxiert. Beide hatten auf den ersten Blick eingesehen, daß sie nie zusammen passen würden. Die Pompadour fand »das Mädel« zu »fein« und »das Mädel« fand die Pompadour zu grob. Das mußte mit einem Kampfe endigen. Aber alle beide beruhigten sich vorläufig damit, daß sie ja Hans auf ihrer Seite hätten ...

»Ja, Sie wissen wohl, Thorsen, daß mein Sohn Jeppe im Begriff ist, Kragholm von Franzens Witwe zu kaufen,« fragte die Pompadour plötzlich, als man mitten beim Abschiedstee war und über die Viehpreise sprach.

»Ja, ich hörte es neulich draußen in der Stadt ...

Jetzt fehlt Ihnen bald nur noch Havslunde, ha, ha!«

Madame Henriksen richtete sich in dem Merinokleide auf.

»Kommt Zeit, kommt Rat,« sagte sie ... »Mit Niels drüben geht es ja tüchtig abwärts ... Seine Mädels und er können sich glücklich preisen mit den Hundertundzwanzigtausend, die sie von Joachim bekommen haben.«

»Ja, und die kann Niels wohl nicht anrühren?«

»Nein, dafür ist gesorgt worden. Die stehen beim Obervormundschafts-Gericht zu viereinhalb. Er versuchte ja in seiner wahnsinnigen Wut darüber, daß wir den Hof bekamen, den Töchtern die Annahme der Erbschaft zu verbieten ... Aber jetzt muß er noch froh darüber sein.«

»Wie ist es doch traurig mit solchen Verhältnissen,« seufzte Frau Thorsen, eine lange magere und triste Dame, die Privatlehrerin gewesen war, als Thorsen sie in seiner Mannheit pflückte ... eine feine und zarte Blüte. Nun war sie geknickt – aber also Jägermeisterin.

»Wie ist es doch traurig ...!« sagte sie. »Unsere Minka war ja eine Zeitlang im Winter drüben eingeladen, aber ... ach, Minkachen, geh' doch ins Kabinett, nicht alles, was wir Älteren sagen, ist für die Ohren eines jungen und unschuldigen Mädchens bestimmt ...«

»O–och ...!« murrte Minka und blieb, wo sie war.

Aber da traf sie ein Blick von ihrer Schwiegermutter, der sie unwillkürlich veranlaßte, aufzustehen und davon zu schleichen.

Die dünnen, graugesprenkelten Haare der Pompadour waren in der Mitte gescheitelt und glatt hinter den Ohren herabgekämmt, wo sie sich zu einem kleinen charakterfesten Knoten sammelten. Und eine mildernde Kopfbedeckung trug sie nicht. Der Schädel war in all seinen respekteinflößenden Linien zu sehen.

Als Minka gegangen war, begann Frau Thorsen in ihrer tristen Weise sich über Niels Uldahls Attentate auf ihre Tochter zu verbreiten ... Aber der Jägermeister brach in ein lärmendes Gelächter aus:

»Ha, ha, ha!« lachte er! »Ja, was Teufel ...!«

»Ja, du lachst, Thorsen ...« sagte die Hausfrau und fuhr darauf mit ihrem Trauergesang über die Verhältnisse auf Havslundegaard fort, die für die ganze Umgegend eine Quelle ständigen Ärgernisses bildeten.

Aber jetzt schlug Madame Henriksen drein:

»Weshalb schickten Sie denn Ihre Tochter herüber?« fragte sie scharf. »Sie wußten das alles ja vorher!«

Frau Thorsen brach schnell ab. Das Gespräch nahm eine andere Wendung.

Bald darauf nahm man Abschied und die Pompadour bestieg den Wagen ...

Als Minka draußen auf der Steintreppe der Schwiegermutter ihre kleine weiße Hand zum Abschied reichte und sie bat, Hans zu grüßen, beantwortete sie ihren Gruß nicht, sondern starrte ein paar Sekunden schweigend auf die Hand des jungen Mädchens und sagte dann:

»Die Frau eines Landmanns muß rote Hände haben!« und schleuderte gleichsam die Hand von sich. Aber das gibt sich wohl!«

Und dann fuhr sie.

»Unerzogenes Weib!« sagte Minka und spie hinter dem Wagen her.


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