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Während niemals irgend jemand bei der Frau auf Kragholm Rat und Hilfe gesucht hatte, war Frau Line auf Havslundegaard dagegen gleichsam ein Engel des Trostes und Friedens für die ganze Gegend. Alle Kranken und Schmerzbeladenen kamen mit ihren Sorgen zu ihr. Und sie tat was sie vermochte, um zu erfreuen und zu lindern.

Madame Oline Rasmussen, die Frau des brustkranken Küsters stand weinend in der Havslunder Küche.

»Steht es denn so ganz und gar schlimm mit dem Mann?« fragte die Köchin Anne teilnehmend.

»Och Gott, och Gott, ja, es steht so ganz, ganz faul mit ihm ...« schluchzte Oline »und nun haben eben Jens Oluf und ich gedacht, daß wir die Gnädige bitten möchten, herüberzusehen, wenn sie will.«

»Sie hat doch ja gesagt ...« sagte Anne.

Aber zugleich warf sie der Küsterfrau einen forschenden Blick zu; denn es hatte sich ja im Kirchspiel so manches über Oline und den neuen Hilfslehrer herumgesprochen.

Und außerdem wußte ja ein jeder, daß Jens Rasmussen Niels Uldahls Sohn war.

Es war also merkwürdig, daß die Frau eingewilligt hatte, mitzugehen; aber sie war ja gutmütig bis zur Dämlichkeit.

»Da kommt die Gnädige,« sagte Anne laut, und lauschte an der Tür des Anrichteflurs. Die Gutsherrin trat bald darauf ein; und die Küsterfrau brach von neuem in Weinen aus.

Aber ehe Frau Line noch ein Wort des Trostes hatte vorbringen können, wurde die Tür zum Hofe aufgerissen und Minka vom Moor kam hereingesaust, verfolgt von Fräulein Charlotte. Beide lachten und lärmten sie, daß es in der Küche widerhallte.

»Hilfe, Hilfe!« rief Minka und wollte bei Frau Line Schutz suchen.

»Halte sie an! Halte sie an!« schrie Charlotte und suchte die Freundin zu fassen.

Aber da erblickten sie gleichzeitig die weinende Oline und blieben verlegen stehen.

Die Köchin Anne warf Minka einen scharfen Blick zu. Der ganze Hof war empört darüber, daß das »Bauernmädel« hier herumsprang und tat als ob es zu Hause wäre.

»Komm nun, Olinchen,« sagte Frau Uldahl und nickte den Mädchen zum Abschied zu.

Die Küsterfrau streckt der Gnädigen dankbar die gefalteten Hände entgegen. »So ein Glück für Jens,« sagte sie, »so ein Glück für Jens.«

Und dann gingen sie.

Aber kaum hatte die Tür sich hinter ihnen geschlossen, als die beiden jungen Mädchen ihr Spiel wieder begannen.

Als Madame Rasmussen und Frau Uldahl den Garten vor der Küsterwohnung erreicht hatten, kam ihnen ein kleines dreizehn- bis vierzehnjähriges Mädchen entgegengestürzt.

»Er ist aus seinem Bett aufgestanden,« erzählte sie, bleich vor Schrecken. »Rasmussen ist aus dem Bett aufgestanden, weil der Hilfslehrer drinnen in der Schulstube gesungen hat.« Und sie deutete zum Hause hinauf, wo das abgezehrte Gesicht des Küsters einen Augenblick hinter einem Fenster des Schlafzimmers zu sehen war.

Oline stieß einen Schrei aus und stürzte über die hellgrünen Rasenstücke und frisch gesäten Beete davon. Frau Uldahl versuchte das aufgeschreckte Mädchen zu beruhigen, das angefangen hatte zu weinen.

»Na na, Ingermariechen,« sagte sie und liebkoste das Kind. »Na na, jetzt sind wir doch hier.«

Aber das Mädchen weinte und schwatzte und ließ sich nicht trösten.

»Ich sollte ja bei ihm bleiben,« berichtete sie unter schnaubendem Weinen – »während die Madame nach der Gnädigen zum Gut hinauflief ... Aber da fing Andersen ... drinnen in der Schulstube, ... an zu singen ... und da wollte ... Rasmussen hinein und ihn unterkriegen, sagte er ... und da bekam ich solche Angst, solche Angst ...«

»Ja, aber jetzt komm nur mit, Ingermariechen, dann ...«

»Nein,« sagte das Mädchen entsetzt, »das nicht um die Welt! Jetzt renn' ich nach Hause!« Und fort flüchtete sie durch das Gartentor und die Straße entlang ...

Frau Uldahl ging in die gute Stube der Küsterwohnung und setzte sich hin, um zu warten.

Drinnen war es rein und zierlich. Auf den giftgrünen Plüschmöbeln lagen weiße gehäkelte Decken. In den Fensterrahmen standen wohlgepflegte Blumen. Die hellroten Knospen eines Rosenbäumchens strömten einen feinen Duft aus. ...

Frau Line lächelte still und gedachte eines ähnlichen Zimmers, das sie selbst einmal in Ordnung gehalten und behütet hatte vor langen, langen Jahren im Krug zu Husum ... Aber dann war Niels gekommen und hatte sie in etwas anderes hineingezogen ... und nun wußte sie nicht mehr, ob sie sich nach ihrer entschwundenen Jugend zurücksehnte oder ob es nur der Gedanke an jene sorglosen Tage war, der ihr Herz mit stiller Sehnsucht erfüllte ...

Das erschrockene Gesicht der Küsterfrau kam in der Tür des Schlafzimmers zum Vorschein.

»Wenn die gnädige Frau jetzt kommen könnten? Jetzt ist er ruhig geworden.«

Frau Uldahl erhob sich und folgte ihr.

Auch im Schlafzimmer war alles adrett und sauber.

Und die Sonne leuchtete warm zwischen den weißen spitzenbesetzten Gardinen.

In dem zunächststehenden der Ehebetten saß Jens Oluf halb aufgerichtet, von vielen Kissen gestützt. Seine tiefliegenden, dunkelumrandeten Augen waren geschlossen; sein Gesicht war gelblichfahl und eingefallen; und sein reiches Kopf- und Barthaar war gleichsam verwelkt, abgefallen, große kahle Flecken hinterlassend.

Aber beinahe den peinlichen Eindruck machte es, daß diesem sterbenden Menschen unter dem zierlich umgebogenen Hemdkragen ein schreiend grellroter Schlips umgebunden worden war.

Oline, die Frau Uldahls verwunderten Blick bemerkte, flüsterte gleichsam entschuldigend:

»Ja er wollte doch für die gnädige Frau geputzt werden ... und Widerstand hat bei ihm keinen Zweck ...

Hier ist die gnädige Frau, Jens Oluf!« sagte sie dann und ging zu ihrem Manne hin und legte ihm ihre Hand auf den Arm.

Der Kranke schlug langsam die Augen auf und sah Frau Line an mit einem Blick, der erst allmählich zu erwachen schien, so verschleiert war er von Müdigkeit und Unmut.

»Dank ... dafür, daß ... die gnädige Frau gekommen ist«, nickte er angestrengt und mit Unterbrechungen. »Das ist meine letzte Hoffnung ... denn die Gnädige, die selbst soviel durchgemacht hat ... und sich immer mild und gut gehalten hat ... Sie müssen doch ... einem armen Stümper wie mir einen guten Rat geben können ... mit dem sich's sterben läßt.«

Frau Line setzt sich still auf den Stuhl vor sein Bett und ergriff seine Hand; ließ sie aber wieder los, da sie kalt und feucht war ... und nahm sie wieder, da sie meinte, es wäre Sünde, wenn er etwas merkte.

»Und was drückt uns denn, Jens Rasmussen?« fragte sie und bog sich zu ihm hinüber.

Der Küster lag kurze Zeit, ohne zu antworten; dann sagte er, und in der Tiefe seiner dunkeln Augen leuchtet' ein Flimmern:

»Es ist die Wut ...!« sagte er.

»Und auf wen sind Sie denn so wütend?«

Seine Augen flammten stärker, und er riß seine Hand aus der ihren.

»Auf euch alle, die ihr gesund und warm seid!«

»Jens Oluf ...« bat Oline, die an seinem Kopfende stand, »rege dich nun nicht wieder auf ...«

Aber er achtete nicht auf sie und fuhr fort:

»Und ich bin wütend auf die Sonne, die scheint,« sagte er, »und auf die Vögel, die singen! Ich bin wütend auf die Jugend, die auf den blumenbedeckten Feldern spielt. Und ich bin wütend auf das Frühjahr, das gerade jetzt draußen zu knospen beginnt!«

»Jens Oluf ... Jens Oluf ...«

»... Weshalb starb ich nicht, als es noch Winter war!« fuhr er fort. »Weshalb grub man mich nicht in den Schnee ein! Weshalb soll ich hier liegen und hinsiechen und verfaulen, wenn das andere keimt und wächst!«

Frau Line wollte sprechen. Aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. Er erhob seine mageren knochigen Hände, wie um sie zu beschwören:

»Was habe ich nur verbrochen, daß ich diesem Ungemach anheimgefallen bin,« fuhr er in seiner gekünstelten Buchsprache fort, »Was habe ich verbrochen? Was ist mein Vergehen? Kann ich dafür, daß meine Mutter mich in unreiner Brunst zeugte? Sagt es mir, daß ich um Vergebung beten kann. Laßt mich leben, daß ich doch Buße tun kann! Ich bin jung, und man betrügt mich um meine Jugend ... Man betrügt mich um mein Leben ... man hält mich erbärmlich zum Narren! ... Sonnengold und blauen Himmel und grüne Wälder zeigte man mir und sagte: sieh, dies ist das Leben, all dies gebe ich dir! ... Und als ich dann niederkniete und zugreifen und meine Hände mit aller Herrlichkeit der Welt füllen wollte, da war es nur Staub und Erde und Asche und Lüge ...!«

Seine Arme fielen schlapp herab und er sank röchelnd in die Kissen zurück.

»Jens Oluf, Jens Oluf«, ... schluchzte Oline. Und Frau Line saß ratlos da.

Da ertönten plötzlich Fußtritte draußen auf dem Gartenwege, und ein großer junger Mann ging trällernd an den Fenstern vorüber. Er war barhäuptig, und sein rotblondes Haar flammte in der Sonne.

Der Küster fuhr mit einem Ruck in die Höhe:

»Da ist er wieder! Da ist er wieder!« schrie er und wollte aus dem Bett. »Judas! Judas!«

Und die Gnädige und seine Frau mußten mit ihm kämpfen, um ihn zurückzuhalten.

Als der Küster wieder ruhiger geworden war, versuchte Frau Line, mit ihm zu reden. Milde und stille begann sie und sagte ihm viel gute und beschwichtigende Worte über ihre eigene ruhige Art das Lebens und seine Schickungen zu tragen.

Bis er plötzlich müde und hoffnungslos seine Augen zu ihr aufschlug und wie mit einem Schrei sagte:

» Das nützt nichts! Das nützt nichts! Die Menschen wohnen zu weit von einander!«

 

Am Sonnabend den 4. Mai starb Jens Oluf Rasmussen. Und am selben Tage wurde in der Villa Seemann das erwartete Kind geboren ...

Es war eine schwere Geburt gewesen, ... und als das Kind endlich zur Welt kam, zeigte es sich, daß es ein armes mißgestaltetes kleines Wesen war, ein Knabe mit einer fürchterlichen Hasenscharte und einem unförmlichen, aufgequollenen Kopf.

Frau Närup hatte es sogleich aus dem Wege geschafft, ohne es Rositta zu präsentieren. Und hatte darauf zu Isidor geschickt, der sich auf den Wunsch seiner Frau im Amtsbureau aufgehalten hatte.

Schon draußen auf der Steintreppe vor dem Hause kam ihm die Hebamme entgegen. Ihr fettes Gesicht war bleich und bewegt.

»Es ist doch nichts mit der Patientin los?« fragte Isidor ängstlich.

»Nein, der gnädigen Frau geht es ganz gut ... das Kind ist es ...«

»Was ist mit ihm?«

»Es ist ...«

»Ist es tot geboren?«

»Nein, leider! hätte ich beinahe gesagt, aber nun können der Herr Amtsrichter ja selbst sehen ... Und der Herr Amtsrichter müssen sich zusammennehmen ...! Ich habe den Kleinen ins Fremdenzimmer hinaufgebracht, ohne ihn der gnädigen Frau zu zeigen ... Schrecklich, daß solche Kinder in die Welt gesetzt werden können!«

Im selben Augenblick, als Isidor das Neugeborene sah, sagte er sich:

»Das Kind darf nicht leben!«

Und er wandte sich fast in Entsetzen von ihm ab.

Er hatte einmal als von der Alexandra der Spa-Marie die Rede war, mit Frau Rositta darüber gesprochen, daß solche unglücklichen Geschöpfe gleich bei der Geburt aus der Zahl der Lebenden gestrichen werden müßten: und sie waren beide vollständig einig gewesen.

Nun sollte er also seine Theorie in die Praxis übertragen. Aber er mußte selbstverständlich allein handeln. Er konnte keinen Mitwisser gebrauchen.

Wieder blickte er auf das Kind hinab, das in seinem Korbbett vor ihm lag, und wieder durchzuckte ihn ein Schauder.

Der geschwollene und unförmliche Kopf des Knaben hing kraftlos auf die eine Schulter herab. Der Hals war zu schwach, ihn zu tragen. Aber was dem Kinde vor allen Dingen seinen ganzen grauenerregenden Charakter gab, war, daß Mund und Nase in eins verliefen und eine große klaffende Hasenscharte bildeten, einen langen blutroten Riß, der sich fast über das ganze Gesicht von Ohr zu Ohr erstreckte.

Und über diesem Riß, über ein Paar große, triste Augen wölbte sich eine hohe, ausgebuchtete Stirn, die von tiefen gedankenschweren Runzeln durchfurcht war, als ob dieser erbärmliche letzte kleine Schößling am Uldahlschen Stamme schon vor der Geburt alle Bitternisse des Geschlechts gekannt habe ...

Isidor richtete sich auf. Sein Beschluß war unwiderruflich:

Nicht einen Tag sollte dieses arme mißhandelte Wesen zu Ende leben dürfen.

Und er begann ruhig und ohne Schwanken die Sache zu überdenken.

Das Stubenmädchen sollte nachts bei dem Knaben wachen. Isidor selbst wollte sich im Wohnzimmer aufhalten. Und bevor das Mädchen zur Ruhe ging, wollte er sich irgendwie die Gelegenheit verschaffen, dem Kinde eine kräftige Dosis der Opiumtropfen zu geben, die er in seinem Schreibtisch stehen hatte ...

Hinter den herabgelassenen Gardinen im Schlafzimmer lag Frau Rositta bleich und erschöpft. Aber als Isidor kam, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, nickte sie ihm lächelnd zu und streckte ihm eine Hand entgegen.

»Nun wäre das also überstanden, Isidorchen!« sagte sie in ihrer stillen humorvollen Weise. »Hast du den ›Schnitzer‹ gesehen?«

Der Amtsrichter erwiderte ihr Lächeln und setzte sich auf den Bettrand.

»Ja, ich habe ihn gesehen. Er sieht etwas schwächlich aus.«

»So, sieht er schwächlich aus, der kleine Kerl? Dann lief Frau Närup wohl deshalb mit ihm davon, ehe ich ihn zu sehen bekam.«

»Naa–e, nee, das glaub' ich nicht ... Sie meinte wohl nur, daß du Ruhe brauchtest.«

»Ja, ich bin auch müde ... Sieht er nett aus, der Junge?«

»Sehr nett, ja ... Und wie geht's dir? War es schlimm?«

»Nun ist es ja überstanden ...« wiederholte Frau Rositta und schloß die Augen bei dem Gedanken.

Der Amtsrichter ergriff ihre Hand und küßte sie:

»Tapfere kleine Frau ...!« sagte er. »Aber schlaf jetzt und laß das Denken! Tue, als ob das alles dich nichts angeht!«

»Ja ... sag' mir nur, wen ihr als Wache für den Jungen bestellt habt.«

»Vorläufig hat ihn also Frau Närup. Aber Elise soll heute Nacht bei ihm bleiben. Ich lege mich in der Wohnstube auf dem Sofa hin. Karl und Jürgen bleiben bei den Seemanns, wo du sie heute morgen hingeschickt hast, während du mich ins Bureau jagtest ... Adieu ... und möchtest du nun so entzückend liebenswürdig sein, deinen Mund zu halten.«

Als die Hebamme gegen neun Uhr abends Mutter und Kind für die Nacht versorgt hatte und nach Hause gegangen war, rief Isidor das Hausmädchen und bat sie, einen Brief zur Post zu tragen. Und während sie nun fort war, ging er selbst zu dem Kinde hinauf und gab ihm Opium.

Und als das Mädchen zurückkehrte, sagte er zu ihr:

»Sie bleiben also heute Nacht bei dem Jungen, Elise. Sollte er sich besonders unruhig zeigen, dann kommen Sie herunter und rufen mich. Kommen Sie aber nicht herein, klopfen Sie nur leise an die Tür, daß wir die gnädige Frau nicht wecken.«

Und nachdem er Rositta gute Nacht gesagt, legte er sich völlig angekleidet auf das Sofa. Die Tür im Schlafzimmer ließ er angelehnt. Im Wohnzimmer brannte eine Nachtlampe.

Aber er konnte nicht einschlafen; lag und starrte mit weit geöffneten Augen in den Raum hinaus.

Nun sollte er also zum ersten Male in seinem Leben eine wirkliche Tat vollführen. Er war geradezu stolz darauf und fühlte sich so einigermaßen als Bahnbrecher; dachte sogar einen Augenblick daran, das Ereignis zu notieren und das betreffende Blatt aufzuheben, damit die Nachwelt erfahren könne, daß er, Isidor Seemann, aus dem Geschlechte Uldahl seinen Zeitgenossen vorausgewesen war; denn es war ihm nämlich klar, daß die Zeit kommen würde, da das Gesetz einfach verlangte, das, was er heute heimlich begehen mußte.

»Isidor ...« ertönte es aus dem Schlafzimmer.

Der Amtsrichter war mit einem Satz vom Sofa auf und drinnen bei seiner Frau:

»Was gibt es denn, mein Kind?« fragte er hastig und merkte, daß er nervöser war, als er geglaubt hatte.

»Ach, willst du mir nicht ein wenig zu trinken geben.«

Er reichte ihr das Wasserglas und sie trank begierig.

»Danke,« sagte sie. »Es war beinahe eine Sünde von mir, dich zu wecken; aber ich war so durstig ... Hast du geschlafen?«

»Ja ...«sagte er schnell. »Du hast doch kein Fieber?«

»Nein, gar nicht ... Weißt du, ob der Junge schläft?«

»Er wird wohl schlafen; es ist ja ganz ruhig oben.«

»Du möchtest dich wohl nicht an die Tür schleichen und horchen ...? Elise ist ja nicht gewöhnt, Kinder zu warten.«

»Gewiß, das werd' ich ... Aber leg' du dich nun wieder hin und denke an weiter nichts als an Schlafen.«

»Du bist so gut, Isidor ...«

»Das bin ich. Ich bin einer der besten Menschen seit der Sündflut!«

Als Rositte wieder in Schlaf gefallen war, schlich er sich wieder ins Wohnzimmer zurück und zog die Tür hinter sich zu.

Er fühlte sich immer nervöser, hatte die Empfindung, daß die Zeit sich unnütz lange hinzöge, lag und lauschte angestrengt, ob das Mädchen nicht die Treppen hinunterkäme und ihn riefe.

Aber alles im Hause blieb ruhig.

Da fiel er allmählich in einen Halbschlummer und schlief zuletzt ganz ein. Bis er auf einmal sah, wie die Tür des Schlafzimmers langsam aufglitt und das Neugeborene sein fürchterliches Gesicht hineinsteckte und ihn mit großen anklagenden Augen ansah. Und gleichzeitig ertönte ein stilles Klopfen, als ob schwache Finger gegen eine Fensterscheibe pochten ...

Isidor fuhr auf und sah sich erschreckt um. Dann wiederholte sich das Klopfen, er wurde völlig wach und lief eiligst zur Entreetür und öffnete.

Draußen stand das Hausmädchen, bleich und zitternd

»Was gibt es, Elise?«

»Der Junge ist krank ... Er kann kaum atmen ...«

Isidor stand einen Augenblick unschlüssig. Aber dann hatte er sich entschieden:

»Laufen Sie sofort in die Stadt zum Arzt«, befahl er, »und bitten Sie ihn, gleich zu kommen. Ist Dr. Larsen nicht zu Hause, so holen Sie einen anderen ... Aber gehen Sie durch die Küche und führen Sie auch den Arzt dort durch, daß die gnädige Frau nichts hört.«

Oben im Fremdenzimmer lag das Kind. Der Amtsrichter stand über ihm gebeugt. Das Gesicht des Knaben war noch fürchterlicher anzusehen, jetzt, wo er mit dem Tode rang. Die Augen waren geschlossen und die Hände krampfhaft geballt. Abel er atmete noch; schwach und mit einem seltsam pfeifenden Laut holte er Luft. Es hörte sich an, wie der Jammer eines armen zu Tode getroffenen kleinen Vogels, der nicht vom Leben lassen wollte ...

Und dazu dieser klaffende blutrote Riß!

Isidor wurde immer erregter, während die Minuten verstrichen und der Knabe weiter lebte.

Gesetzt nun, daß der Arzt käme und mit seinen Wiederbelebungsversuchen und seinen Bädern begönne, daß das ganze Haus in Aufruhr käme, und Rositta erwachte und den Grund der Unruhe erfahren wollte ...!

Es war dem Amtsrichter, als ob sich ihm ein Nebel über die Augen legte. Tastend griff er mit den Händen in die Luft.

Und plötzlich, ohne vorher einen Entschluß gefaßt zu haben, holte er ein Kissen von dem zunächststehenden Bett und preßte es hart um das Gesicht seines Sohnes.

Nach einer Viertelstunde kam Elise mit dem Arzt.

Er ging sofort zu dem Lager des Knaben und beugte sich untersuchend über ihn.

»Ist er tot, Doktor?« fragte Isidor vollständig ruhig.

»Ja,« sagte der Doktor, »und gut, daß es so ist!«

Darauf wandte er sich zum Amtsrichter und fuhr eindringlich und ernsthaft fort, als ob er lange und sorgsam über diese Sache nachgedacht habe:

»Und meiner Meinung nach müßte es geradezu gesetzlich befohlen werden, daß solche kleinen unglücklichen Geschöpfe nicht leben dürften ... Aber diese Anschauung können Sie als Jurist und Gerichtsbeamter natürlich nicht teilen, Herr Amtsrichter?«

»Nein ...!« sagte Isidor.

Im Laufe der Nacht, als Isidor Seemann wieder im Halbschlummer auf dem Sofa in der Wohnstube lag, träumte er, daß er rastlos draußen in seinem Garten umherwandere.

Hin und her ging er, auf den Wegen und über die Rasenflächen. Er wollte fort, flüchten, er wußte nicht wovor.

Da ertönte plötzlich hinter einem Busch ein stilles, vergnügtes Lachen, ein seltsam schwaches fast wollustiges leises Kichern, daß er sich vor Unbehagen schüttelte. Er möchte am liebsten wieder wegschleichen, nicht sehen, was sich hinter dem Busch verbirgt, am liebsten sein Leben in Unwissenheit zu Ende leben. Aber er kann nicht flüchten, er wird vorwärts und auf die Stelle zugetrieben.

Und als er die Zweige zur Seite biegt, sieht er seinen neugeborenen Sohn und die entsetzliche Alexandra der Spat-Marie dort auf dem Rasen in der heißesten Umarmung vor sich liegen.

Eiligst zieht er sein Skizzenbuch aus der Tasche und beginnt zu zeichnen.

Das ist roh, Isidor! Das ist roh! ruft es ihm von allen Seiten entgegen.

Aber er antwortet:

»Es ist nicht roher als das Leben selbst!«

Und ruhig zeichnet er weiter ... –


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