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Der kleine Isidor war während all dieser Begebenheiten von Seemann adoptiert worden und wuchs auf dem stillen und friedlichen fünenschen Hof auf.

Als er Student geworden und in der Hauptstadt weiter studieren mußte, verkauften die Pflegeeltern den Hof und gingen mit ihm; so unentbehrlich war er ihnen geworden.

Und nachdem er später seine juristischen Beamtenprüfungen bestanden hatte und als Vorsteher im Bureau des Landratsamtes des Kreises von Havslunde und Söby angestellt worden war, zogen sie mit ihm auch hier hinüber...

Aber da geschah es, daß Isidor einst bei einem Besuch auf Havslundegaard seine polnische Cousine Rositta traf. Die beiden Verwandten fanden sofort viel Gefallen aneinander, besonders weil sie stundenlang zusammensitzen und schweigen und doch tiefe Freude an ihrer Gesellschaft empfinden konnten. Deshalb beschlossen sie nach ein paar stummen Begegnungen sich nicht mehr zu trennen, verheirateten sich und bauten ein Haus nach ihren Köpfen, nämlich so, daß jeder von ihnen seine eigene Wohnung bekam und nur das Speisezimmer gemeinsam war. – Und nun waren sie neun Jahre verheiratet mit einer Ausbeute von zwei Söhnen von acht beziehungsweise sechs Jahren....

Anfangs war der alten Frau Seemann bei der Verlobung und Heirat des Sohnes garnicht wohl zu Mute gewesen. Sie glaubte, er würde seine Eltern vergessen und seine Frau wäre seiner nicht würdig; aus welchem Grunde sie viele Tränen des Kummers vergoß.

Aber als sie allmählich Frau Rositta genauer kennen lernte, und entdeckte, welch liebenswürdiges und vernünftiges Frauchen sie war, freute sie sich in ihrem Herzen und schloß dankbar die Schwiegertochter in ihre abendlichen Gebete ein: Dank, lieber Herrgott, sagte sie, daß du uns zwei kinderlosen alten Menschen jetzt zwei Kinder gegeben hast, und entschuldige, daß ich mit dir ins Gericht gegangen bin ... Und als sie später auf dieselbe bequeme Façon sogar Großmutter wurde, weinte sie bitterlich vor Freude.

»Ja, du hast nun immer das Wasser schnell bei der Hand gehabt, Mutter!« sagte der alte Seemann. »Aber das ist nun dein Vergnügen!«

Und die Frau lachte und packte ihn um beide Schultern und rüttelte ihn nachdrücklich:

»Du bist ein reguläres Stück Holz, Vater!«

»Was sagst du, Mutter?«

Herr Seemann genoß außer seinem gleichmäßigen Gemüt auch das Glück, mit den Jahren tüchtig schwerhörig geworden zu sein.

»Ich sage, daß du ein reguläres Stück Holz bist!«

»So, das sagst du ... Ja einer muß es doch sein!..«

Die Alten hatten stets das Junggesellen-Zimmer des Sohnes unberührt stehen. Im Winter sogar geheizt. Und jeden Tag, wenn der »Herr Amtsrichter« sein Bureau verließ, besuchte er sie. Er und Frau Seemann saßen dann gewöhnlich auf einem Ecksofa im »Zimmer« und sprachen »von früher«. Vater Seemann dagegen nahm selten an diesen Plauderstunden teil. Er hielt sich mit seinen Zeitungen in der Wohnstube nebenan auf.

Aber alle Augenblicke mußte Frau Seemann vom Sofa auf und zu ihm hinein und fragen, wenn es sich um irgend etwas aus der Vergangenheit handelte, womit die beiden anderen nicht zurechtkommen konnten. Sie schrie ihm dann in das gute Ohr:

»Hör' mal, Vater, war es Niels Hansen, der unsere Droschke kaufte? Du weißt schon ... oder war es Rasmus Paulsen?«

Der Alte lugte mit seinen kleinen Tränensack-Augen schelmisch über die Brille hervor: »Redet Ihr jetzt von der Droschke, Mutter?« sagte er. »Ja Ihr habt viel zu tun! Rasmus Paulsen hat sie gekauft ... Ihr Frauenzimmer könnt auch nichts behalten!«

Dann tauchte er wieder in den Zeitungen unter, und die Frau ging zum Sofa zurück ...

So wurde in der Familie Seemann die Kontinuität des Lebens gewahrt. Isidor hatte zu Hause in seiner Mappe manch eine muntere Illustration zu diesem Repetitions-Kursus. – –

 

Onkel Joachim war krank. Die Familie auf Havslundegaard hatte keine direkte Mitteilung darüber erhalten. Das Gerücht war nur durch den Post-Ole zu ihnen gedrungen. Aber an dem Tage, als sie es erfuhren, bat Frau Line ihre Mädchen, hinüberzufahren und nach dem Patienten zu sehen.

»Onkel ist sehr krank,« sagte sie, »es ist Gefahr im Verzuge. Ich habe es in den Karten gesehen.«

»Willst du nicht selbst mit, Mutter?«

»Nein, Sophiechen, das wißt ihr, ich bleibe am liebsten zu Hause ... und besonders in solchem Sturm.«

»Mutter, du solltest einmal deine Karten befragen, ob es dir gut tut, immer zu Hause zu sitzen und aufzuquellen.«

Fräulein Frederikke sagte diese Worte. Frau Line schlug lächelnd nach ihr.

»Pfui, du schlechtes Mädel, die eigene Mutter zum Narren zu machen!«

»Ja, aber Frederikke hat recht,« sagte Anna, »du sitzest allzuviel still, Mutter!«

»Mutter sieht bald aus wie Madame Naerup,« nickte Charlotte. Madame Naerup war die unförmliche Geburtshelferin des Kirchspiels.)

»Mutter ist wunderschön,« sagte Fräulein Sophie und blickte Frau Line verliebt an. »Mutter sieht aus wie eine Königin-Witwe.«

»Mit Doppelkinn!« ergänzte Frederikke und verzog sich aus der Schußlinie ...

Aber richtig war es, daß in den letzten Jahren etwas Breites und Matronenhaftes über Frau Line Uldahl gekommen war. Ihre lange bewahrte mädchenhafte Schlankheit war verschwunden. Aber schön war sie wie immer mit ihrem aschblonden Haar und der schwarzen Samthaube. Und sie bewegte ihren Körper mit einer Haltung und einem ruhigen Anstande, daß alle anderen Frauen, die in ihre Nähe kamen, klein und unbedeutend aussahen.

»Kommst du nicht mit, Mutter?«

»Nein, Sophiechen ... und es ist auch kein Platz.«

»Doch, ich kann ja auf dem Bock sitzen!«

»Nein, da kommt Türk hin, sonst geht er den ganzen Nachmittag hier herum und heult. – Dann telephoniere ich also nach Ravnsholt und frage, ob Onkel euch haben will ...«

Und das tat sie. Und Joachim antwortete persönlich von seinem Bett aus, daß er sich freue, den »Vierklee« zu sehen.

So ganz des Todes war er also nicht, wenn auch seine Stimme etwas weniger polternd geklungen hatte, als sonst.

 

Die Fahrt nach Ravnsholt ging in dem kleinen Char-à-banc vor sich. Seit Mamsell Helmers Kopenhagener Reise benutzte keine von den Damen des Hofes gutwillig den Landauer. Und die alte geschlossene Karosse, das »Fliegenspind« benannt, aus der Zeit des Staatsrats, war zu schwer für die Wege.

Die Fräuleins saßen hinten im Wagen in Shawls und Pelzwerk gehüllt, denn der Wind hatte sich zu einem halben Sturm erhoben.

Und vorn auf dem Bock saß Türk, der groß und mächtig hoch über den Kopf des Kutschers emporragte.

Es wurde während der Fahrt nicht viel gesprochen; man hatte genug zu tun, die Shawls zusammenzuhalten. Nur ab und zu, wenn der Wind besonders bösartig war, wandte Lars sich von seinem Vordersitz um und rief:

»Friert ihr, Fräuleins?«

Worauf regelmäßig eines der jungen Mädchen heulte: »Nei–ei–ein ...!«

 

Vor dem »Familienhause« standen Spat-Marie und Maren Ohrwurm und flogen im Winde.

»Da sind die vom Hofe!« sagte Marie, »sieh mal den Türk!«

Sie und Maren hatten das Mädchen Alexandra im Schutze des Giebels umhergetragen. Der Wechselbalg sollte möglichst alle Tage ein paar Mal an die Luft, wie das Wetter auch sei, hatte der Doktor gesagt, und jetzt saß es in seinem Stuhl in Decken und Tücher gehüllt. Man sah weiter nichts von ihm als ihr fürchterliches Untergesicht, dessen verlängerte Kieferpartie einer Schweineschnauze glich.

»Taa–ach...!« grüßten die Frauen demütig, als der Wagen vorüberrollte, aber bald darauf fügte die Spat-Marie leise hinzu:

»Einer herauf, der andere herunter! Da fahren die und da sitzt sie!«

Die Fräuleins erwiderten den Gruß mit freundlichem Nicken. Aber als der Wagen ein Stück vom Hause entfernt war, ertönte es plötzlich von Frederikke:

»Wem von uns sieht sie wohl am meisten ähnlich?«

Da brachen alle vier in ein merkwürdig forciertes Gelächter aus; und Fräulein Sophie sagte schnell:

»Wir sagen Mutter nichts davon, daß wir sie gesehen haben!«

Und dann verschwand das Haus hinter dem Mühlenhügel.

Als der Char-à-banc ein Stück auf die Landstraße hinausgekommen war, wandte Lars sich plötzlich um:

»Da kommen Hofjägermeisters, Fräuleins!«

Und unmittelbar darauf hielten zwei Reiter, ein Herr und eine Dame, gefolgt von einer Meute kläffender Hunde ihre Pferde an, jeder auf einer Seite des Fahrzeuges Posten fassend, das gleichfalls stehen blieb.

Es waren ganz richtig Hofjägermeisters, Palle Uldahl auf Hvidgaard und Frau. Er war ein blonder Riese mit einem gewaltigen Vollbart, der ihm bis tief auf die Brust hinabreichte. Sie groß, schlank, fast mager, mit sprühendem schwarzem Haar und kleinen goldlackbraunen sehnsüchtigen Augen. Dazu hatte sie sich stark geschminkt und ihre Lippen waren schmal und blutrot. Fräulein Sophie hatte einmal von ihr gesagt, daß sie »schicksalsschwanger« aussehe.

»Was Teufel, Mädels, seid ihr auch in dem Wetter draußen?« rief der Hofjägermeister.

»Wir konnten euch an Türk erkennen«! lachte seine Frau.

Die Fräuleins kamen aus den Shawls hervor.

»Guten Tag, Onkel Palle! Guten Tag, Tante Mona! Ja, wir sind es wirklich!«

»Guten Tag, guten Tag, Göhren!« Der Hofjägermeister schwenkte die Hand, »wollt Ihr nach Ravnsholt? ... Willst du stehen!« donnerte er in demselben Augenblick dem Pferde zu und zog die Zügel an, daß das Tier sich aufbäumte. – »Wir sind vorhin der Kragholmer Kutsche begegnet mit Frau Karen. Sie fuhr, als hätte sie Feuer im Hintern!«

»Ist Tante Karen auch ...?«

»Ja–h! Alle Testamentsjäger sind auf dem Kriegspfade. Aber der Alte will uns nicht vor Augen sehen ... Das ist doch ein verfluchter Wind! ... Aber so haltet doch das Maul, Hunde ...! Er hat seine Tür zugeschlossen, der Ohm Joachim, und Madame Pompadour geborene Henriksen als Wachtposten draußen aufgestellt. Wir sind nicht hereingekommen und ihr andern werdet es auch nicht!«

»Doch, Onkel hat selbst ...« begann Fräulein Anna. Aber ehe sie ausgesprochen hatte, unternahm der Hofjägermeister einen plötzlichen Choc gegen die Hunde, die kläffend und bellend um den Wagen herumjagten, wo ihnen Türk vom Bock aus mit seinem Tonnenbaß sekundierte.

»Das Wetter soll in euch hineinfahren!« donnerte er und schlug mit seiner Reitpeitsche zwischen die Tiere, daß sie sich heulend nach allen Seiten zerstreuten. »Man kann ja keinen Ton hören! ... Komm jetzt, Mona! Der Bart fliegt mir davon!« rief er dann weiter, als in demselben Augenblick ein Windstoß ihn zu zerfetzen begann. »Hier ist es nicht zum Aushalten ...! Adieu, Mädels! und viel Glück! Ja wir sehen euch wohl nicht auf Hvidgaard, ehe wir sterben? Aber da gibt's nichts zu holen, denn wir fressen alles auf! ... Komm jetzt, Mona!«

Es war der Hofjägermeisterin unmöglich gewesen, ihr Pferd zur Ruhe zu bringen. Der Sturm und die Hunde machten es nervös, und es hatte getanzt und gestampft und geprustet, daß ihr Reitanzug ganz von weißen Schaumspritzern besät war. – Jetzt schwenkte sie lächelnd die Hand zum Abschied und setzte im Galopp ihrem Manne nach, gefolgt von der kläffenden und lärmenden Meute.

»Adieu, adieu! Und grüßt mir die wunderschöne Frau Line!«

Fräulein Sophie blickte ihr nach.

»Tante Mona ist nun eben großartig,« sagte sie entschieden, – »und da mögt ihr andern sagen, was ihr wollt!«

»Ja aber, Herrgott, Mädel,« lachte Frederikke, »wir haben ja keinen Ton gesagt!«

Es kam ein brüllender Windstoß, und die Fräuleins verschwanden hinter ihren Shawls....

Bald darauf lugte Fräulein Sophie wieder hervor.

»Da liegt Egesborg,« sagte sie und deutete über die Felder auf ein großes weißes viereckiges Gebäude, zu dem eine Allee alter verwitterter und halb eingegangener Eichbäume führte.

»Ja,« sagte Anna, die den Hof zur Zeit der Großeltern besucht hatte, »da war's wundervoll! Was für Stuben! Und welch' eine Aussicht von den Gesellschaftsräumen im ersten Stock!«

»Und jetzt wohnen wir auf einem Pleitehof!« sagte Fräulein Charlotte.

»Ja, wir sind eben alle dem Herrgott eine Pleite schuldig!« sagte Fräulein Frederikke.

Aber Fräulein Sophie verkroch sich in ihren Shawl und seufzte.

Als der Char-à-banc auf den Ravnsholter Boden einrollte, fuhr ein geschlossener Wagen an ihnen vorbei, der gerade das Gut verließ.

»Das war der Kragholmer!« meldete Lars vom Bock her. »Ich habe die Frau drin gesehen.«

Madame Henriksen (vom Hofjägermeister die Pompadour genannt) hieß die große, schweigsame Bauerfrau, die gegen 30 Jahre lang Onkel Joachims Haushälterin gewesen war. Sie war zum Hofe gekommen, als sie 25 bis 26 Jahre alt war, hatte ihm das Haus zur vollen Zufriedenheit geführt und hin und wieder ein Kind mit ihm bekommen, im ganzen vier. Aber sie waren alle kurz nach der Geburt gestorben und zwei von ihnen waren ebenso scheußliche und unheimliche Mißgeburten gewesen wie Niels Uldahls und Spat-Maries Alexandra. Aber Madame Henriksen selbst hatte aus der Zeit ihrer Ehe drei wohlgebaute Söhne, drei schweigsame, zuverlässige und arbeitsame Menschen wie die Mutter. Jetzt dienten sie alle auf Ravnsholt in verschiedenen Stellungen, aßen und schliefen zusammen mit anderen Knechten und standen mit dem Hut in der Hand, wenn sie mit dem Gutsbesitzer sprachen. Aber er konnte sie gut leiden und zeichnete sie in mancherlei Art aus, ihrer selbst sowie ihrer Mutter wegen. – – – –


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