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Aber keiner erhielt jemals eine Erklärung dafür, weshalb dieser absonderliche Mann während seiner ganzen ihm aufgezwungenen Ehe herumgegangen war und sich so königlich amüsiert hatte.

Denn Frau Karen behauptete hartnäckig, es sei Lüge und boshafter Tratsch, was man sich später von ein paar umfangreichen Briefschaften erzählte, die sie kurz nach der Bestattung des Gemahls erhalten haben sollte.

Die eine Zuschrift, sagte man, kam von dem Wirt des Hotels in der Stadt, in der die »landwirtschaftlichen Sitzungen« abgehalten worden waren; und die andere war von Madame Kristoffersen im Kruge von Herritslev, wo Palle den Onkel beim Genuß von Kaffee und Weißbrot überrascht hatte.

Und beide Schreiben enthielten, wie man behauptete, ellenlange spezifizierte Rechnungen über einige fette Extramahlzeiten, die Franz Uldahl – infolge des ökonomischen Sinnes seiner Frau – sich genötigt gesehen hatte, fast während seiner ganzen Ehe einzunehmen.

Die Forderung des Hotels lautete auf 8773 Kronen und 66 Öre; die des Kruges auf 3455 Kronen und 15 Öre. Was zusammen macht: 12 228 Kronen und 81 Öre ...

Aber Frau Karen ließ auf das Grab ihres Mannes in Gold prägen:

Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen der Name des Herrn sei gelobt!

Worauf sie Kragholm zum Verkauf ausschrieb und ihre Anstalten traf, in die Hauptstadt überzusiedeln, um der Trauer und den Erinnerungen zu entfliehen.

 

Der Sommer war also gekommen. Das Heu stand in Schobern. Die Herren Gesetzgeber rasselten von Krug zu Krug und sprachen verheißungsvoll zu ihren Wählern. Eine Flut voll Lüge und Faselei stand hoch über dem Lande ...

Aber der Reichstagsabgeordnete Gutsbesitzer Uldahl-Ege saß auch ferner in seinem Turmzimmer auf Havslundegaard angenagelt.

Und doch war er jetzt dem »Glück« näher als jemals. Die Zeitungen erörterten eingehend und fast täglich seine Aussichten, bei einem der damals häufigen Ministerwechsel auf einen der Sessel hinauf zu rücken.

Niels Uldahl hatte es nämlich im Laufe der Jahre verstanden, sich politisch geltend zu machen, denn er besaß Selbstvertrauen und Mundwerk und hatte deshalb schon verschiedene Vertrauensposten bekleidet. In der verflossenen Periode war er sogar zum Vorsitzenden des Finanzausschusses gewählt worden; und stand so augenblicklich nach außen hin im Zenith seines Ansehens ...

Aber nach innen, zu Hause auf seinem Hof ... Ja es schien keinerlei Einfluß auf Herrn Uldahl-Eges Privatleben zu haben, daß er in kürzerer oder längerer Zeit vielleicht zu einer der höchsten Würden des Landes emporsteige. Er hauste im Gegenteil diesen Sommer noch – weniger zurückhaltend auf Havslunde, als jemals. Nach einem neuen vergeblichen Attentat auf die kleine Moor-Minka, welche zur Folge gehabt, daß sie zu ihren Eltern nach Hause flüchten mußte, hatte er sich mit einem Meiereimädchen des Hofes eingelassen. Und gemeinsam mit ihr und einem riesenhaften Schmied unten aus dem Dorfe feierte er wilde nächtliche Orgien in seiner Festung im Herrschaftsflügel oder in der Kemenate der Dirne (die sie mit sechs anderen teilte), im Wirtschaftsgebäude.

Und am Tage schlief er dann seinen Rausch aus, taub gegen jede Annäherung seiner Umgebung ...

Einmal über das andere hatte das Wahlkomite ihm vergebliche Aufforderungen gesandt, er solle wie die übrigen Abgeordneten zu den vorschriftsmäßigen Wahlversammlungen ausziehen.

Und als sich die Herren endlich in einer Deputation einfanden, um ihn zur Vernunft zu bringen, wandte er seine alte Taktik an und ließ sie unerbittlich vor seiner verschlossenen Turmtür stehen.

Und Frau Line mußte schließlich eingreifen und ihnen erklären, daß der Herr Gutsbesitzer krank sei, während sie gleichzeitig listig einlud, einen Bissen Brot und ein Glas Bier im Eßzimmer einzunehmen.

Was man selbstverständlich nicht verschmähte.

Aber als die Männer später nach beendeter Fütterung abzogen, erhob der älteste Bauer unter ihnen seine Stimme und sagte:

»Dat nächste Mal stimmen wi för eenen, der tau uns hürt. Heww' ick recht, Lud'?«

Die andern Bauern nickten hierzu ein einträchtiges: Ja!

Und hiermit war Niels Uldahls politisches Todesurteil gefällt.

 

Eines Vormittags Anfang Juli rollte ein Char à banc vor das Portal von Havslundegaard. Im Wagen saßen zwei Herren in Zivilkleidung und zwei Herren, die mit Uniformmützen geschmückt waren.

Es waren der Amtsrichter Seemann, ein Polizeibeamter und ein paar Chefs des Kreditvereins.

Frau Line ging ihnen mit bleichen Wangen im Entree entgegen. In der Tür zum Wohnzimmer sah man die blassen Gesichter der Mädchen. Niels zeigte sich nicht.

»Aber Isidor,« stotterte Frau Uldahl, »was bedeutet denn dies?«

Der Amtsrichter ergriff mitfühlend ihre ausgestreckte Hand und behielt sie in der seinen:

»Nur keine Angst,« sagte er, »das wird sich schon alles wieder einrenken lassen, wenn wir erst mit Onkel Niels gesprochen haben ... Ist er zu Hause?«

»Ja, aber du weißt doch ...«

»Wir wollen und müssen mit ihm reden, Tante; es ist durchaus notwendig.«

»Ja – ja ...« sagte Frau Line verwirrt, »ich will gleich versuchen ...«

Aber ehe sie noch die Turmtür erreicht hatte, schob Fräulein Sophie die Schwestern zur Seite und kam aus dem Wohnzimmer heraus.

»Nein, laß mich,« sagte sie aufgeregt. – »Geh du lieber in die Stube zu den anderen, Mutter. Du kannst solche Gemütsbewegungen nicht vertragen.«

Und sie legte einen Arm um Frau Uldahl und führte sie ins Wohnzimmer zurück und schloß die Tür.

Darauf wandte sie sich zu dem Amtsrichter. Ihre Lippen bebten und ihre Augen flammten:

»Was wollt ihr hier?« fragte sie.

Isidor stand verwirrt:

»Wir ... ja«

»Ja, was soll ich denn Vater sagen, was wollt ihr?«

»Sage, daß Leute vom Kreditverein da sind, dann weiß er Bescheid.«

Das Fräulein ging zur Turmtür und klopfte an:

»Vater, hier sind Leute vom Kreditverein, die dich sprechen wollen!«

Aber sie bekam keine Antwort.

Da klopfte sie wieder und härter: »Vater, hörst du nicht! Du mußt aufmachen.« Und sich dem Vetter wieder zuwendend, sagte sie und ihr Antlitz war weiß und kalt: »... Er ist betrunken! Das ist er jetzt alle Tage! Und er hört es nicht! Er macht nicht auf!«

»Sollen wir nun Bankerott machen, wie all die andern, die Havslunde besessen haben? ... Und dabei hilfst du!«

»Nein, nein, Sophiechen! Das wird sich schon ordnen lassen, wenn wir erst mit dem Gutsbesitzer gesprochen haben.«

Aber sie überhörte seine Worte, so erregt war sie. Sie ging dicht auf ihn zu, so dicht, daß er unwillkürlich einen Schritt retirierte:

»Wo ist dein Skizzenbuch, lieber Freund?« fragte sie und lachte höhnisch. »Ich sehe ja keine Spur von deinem Skizzenbuch! Willst du denn das hier nicht zeichnen? Das müßte doch amüsant sein.«

»Nein, aber liebes Kind, du bist ja ...«

»Ja, was willst du denn hier?«

»Ich habe dir doch gesagt, daß wir vom Kreditverein kommen ... Dein Vater hat seine Zinsen für die beiden letzten Termine nicht bezahlt ... Und er antwortet nicht auf die Briefe, die man ihm sendet ...«

Fräulein Sophie unterbrach ihn:

»Und gerade du mußt herauskommen, um uns das zu erzählen,« sagte sie. »Gerade du mußt es sein, der uns von Havslunde jagt, statt, daß du alles tätest, was in deiner Macht steht, um es zu hindern! ... O, Isidor, Isidor, an wen auf der ganzen weiten Welt soll ich jetzt glauben ...?«

Und indem sie die Hände vors Gesicht schlug, brach sie in krampfhaftes Weinen aus, das sie vergeblich zu dämpfen suchte lind flüchtete ins Wohnzimmer zurück. Die Tür blieb hinter ihr offen stehen.

Der Amtsrichter sah sich hilflos und gequält um. Die andern Herren hatten sich diskret auf die Steintreppe vor dem Hause zurückgezogen. Durch die offene Tür der Wohnstube hörte Isidor Fräulein Sophies Schluchzen und Frau Lines Beschwichtigungen:

»Na, na, Sophiechen, na, na ... Sei nun ein ruhiges und vernünftiges Kind ...«

»Ja aber, wenn sie uns nun von Havslunde fortjagen, Mutter ... wenn sie uns nun von Havslunde fortjagen ...!«

»Nein, nein, das tun sie ganz bestimmt nicht ... Vater hat ja Geld genug ... Vater ist ja ein reicher Mann, sagen alle Menschen ...«

Isidor stand einen Augenblick unentschlossen da. Es war, als würde sein ganzes Wesen gelähmt vor Kummer und Mitgefühl, nicht nur mit diesen seinen Verwandten hier, sondern mit dem ganzen großen Menschenhaufen der Erde ...

Dann riß er sich plötzlich mit Gewalt aus seinen Gedanken und ging zur Turmtür und klopfte an:

»Onkel Niels,« rief er. – »Ich bin's, Isidor Seemann. ... Du mußt aufmachen. Ich will mit dir über das Geld für den Kreditverein reden ... Es kann ja noch alles geordnet werden.«

Und als es ihm vorkam, als höre er ein sachtes Herumpusseln hinter der Tür, ein stilles Scheuern, als ob ein Riegel zurückgeschoben würde, wiederholte er das Klopfen lauter und kräftiger und nannte von neuem seinen Namen und seinen Auftrag.

In diesem Augenblick wurde die Tür schnell geöffnet, und er erblickte wie in einer Vision Niels Uldahls verschwiemeltes, von weißem Haar und Bart umrahmtes Gesicht.

»Rede mit meiner Frau! Die Geschichte hier geht mich nichts an!«

»Ja aber, Onkel Niels, deine Frau ist ja gar nicht vertraut mit diesen ...«

Aber ehe Isidor aussprechen konnte, wurde die Tür wieder zugeschlagen und der Riegel vorgeschoben ...

 

Es stellte sich bei der eingehenden Untersuchung des Kreditvereins heraus, daß Niels Uldahl ein so gut wie ruinierter Mann war.

Sein ganzes großes Vermögen war im Sande zerronnen. Was er damit gemacht hatte, konnte niemand begreifen. Das einzige sichtbare Resultat des Geldes war der Turm, den er in seiner Eitelkeit hatte an das Haus anmauern lassen ...

Aber unter vier Augen erzählte man sich, daß er das Vermögen der Familie im Spiel und mit Frauen vergeudet hatte. Unter anderem hieß es, ein damaliger Thronerbe und jetziger Monarch, der eine Zeitlang seiner Spielleidenschaft wegen berühmt gewesen, habe ihn in einer Nacht um ungefähr hunderttausend Kronen geplündert haben, die Niels am folgenden Tage prompt auszahlen ließ.

Man ist ja nach jeder Richtung hin Gentleman!

Und ferner behauptete man, daß eine jüngere leichtlebige Schauspielerin der Hauptstadt bei außergewöhnlichen Gelegenheiten auf ihrem stark frequentierten Busen einen berauschend kostbaren Schmuck trüge, den der Herr von Havslunde ihr nach einer ebenso berauschenden Nacht als Morgengabe überreicht haben sollte ...

Solche und zahlreiche Gerüchte kursierten.

Aber Nils Uldahl selbst gab keinerlei Aufklärung. Er schloß seine Turmtür zu und ließ Frau Line und Isidor Seemann die Schwierigkeiten ordnen.

An dem Tage, an dem die Geschäfte mit dem Kreditverein soweit in Ordnung waren, daß man die Situation überschauen konnte, sagte der Amtsrichter zu Frau Uldahl:

»Darf ich dir einen Rat geben, Tante Line?«

»Ja gern, lieber Freund ...«

Der Amtsrichter zögerte einen Augenblick gleichsam unsicher. Dann sagte er:

»Du solltest Onkel Niels für unmündig erklären lassen, Tante; es sind Gründe genug vorhanden.«

Aber ohne sich auch nur eine Sekunde zu bedenken, antwortete Frau Uldahl ein entschiedenes:

»Nein! ... Das Geld gehört den Uldahls,« sagte sie, »und der Hof gehört den Uldahls. Und er darf mit seinem Eigentum machen, was er will.«

»Der Hof gehört nicht mehr ihm, sondern dem Kreditverein,« wandte Isidor ein. »Über den hat er also keine Verfügung mehr ... Aber wer bürgt dir dafür, daß er nicht auch das Geld verschwendet, das noch übrig bleibt?«

Frau Line blieb hartnäckig bei ihrer Ansicht:

»Das Geld gehört ihm!« wiederholte sie. »Ausschließlich ihm. Ich brachte ihm nichts. Und die Mädchen haben ja jetzt in Zukunft ihr Erbteil von Onkel Joachim. Sie leiden also keine Not.«

»Ja aber, nehmen wir an, Tante, daß er sich dermaßen beträgt, daß der Kreditverein sich genötigt sieht, euch zu ersuchen, Havslunde zu verlassen? Jetzt sitzt ihr hier. Und bei vernünftiger Ökonomie könntet ihr vielleicht für immer hier sitzen bleiben. Der Hof wird gut betrieben und kann wahrscheinlich im Laufe der Jahre wieder in die Hände der Familie übergehen. Aber ich bin allerdings durchaus der Ansicht, es wäre rätlich, daß du ...«

»Nein, Isidorchen, nein, ich tue es nicht! Ich will nicht auch die Schande über sein Haupt bringen. Und auch wenn man ihn jetzt unter Kuratel stellte, wie du sagst, es hätte gar keinen Zweck. Wenn er käme und mich um Geld bäte, würde ich es ihm doch geben, denn es ist und bleibt doch seines, wie man es auch wendet und dreht.«

»Ja aber, Tante,« fuhr der Amtsrichter eindringlich fort, »wenn du nun auch selbst so stark bist, um tragen zu können, was auch geschieht, so mußt du doch bedenken, was es deinen Kindern für Kummer bereiten würde, den Ort hier verlassen zu müssen, den sie so sehr lieben.«

»Ihr Vater mußte Egesborg vor ihnen verlassen,« sagte Frau Line. »Und, du hast es doch selbst gesagt, es ist ja keine Rede davon, daß wir von Havslunde fortziehen müssen.«

»Nein, allerdings vorläufig nicht ... aber es kann soweit kommen ... Und was glaubst du, würde aus Sophie werden, wenn sie von diesem Ort hier fort müßte? Stell' sie dir vor, gezwungen in einer Stadtwohnung zu leben, oder nur irgend wo anders als gerade in Havslunde! Ich fürchte, Tante, sie würde es nicht überstehen, mit dem seltsamen Gemüt, das sie hat.«

Frau Uldahl zögerte eine Weile, ehe sie antwortete; darauf sagte sie still und warm, als würden die Worte tief in ihrem einfältigen Herzen geboren ... und sie ergriff eine der Hände des Amtsrichters und streichelte sie, während sie sprach.

»Danke, Isidorchen,« sagte sie, »daß du so liebevoll an die Kinder und mich denkst ... aber jetzt ist es Niels, der Rücksicht braucht, jetzt, da alles um ihn zusammengestürzt ist. Und ich kann nicht mithelfen, den Mann noch mehr zu demütigen, der einst liebevoll und feinfühlig mir gegenüber war ... Ja, das war er, lieber Freund! Denke an all das, was er seiner Zeit von seiner reichen und angesehenen Familie erdulden mußte, weil er nicht von mir lassen wollte! Und nun sollte ich ihm damit lohnen, daß ich ihn tiefer verwunde, als es irgend ein anderer vermag. Nein, lieber Isidor, ich sage absolut nein! Die Mädchen und ich, wir helfen uns schon, wie es auch geht; jetzt muß an ihn gedacht werden. Er leidet schon genug unter dem, was geschehen ist. Ich kenne ihn. Er ist in seiner Weise stolz und ehrgeizig ... Und gut und liebevoll ist er auch ... Doch, das ist er! ... oder vielleicht eher, war er! Du solltest nur seine Briefe an mich lesen aus den ersten Jahren, als wir noch auf Thorsminde wohnten! Wer wie ich die Zeiten mit Niels zusammen erlebt hat, kann jetzt nicht mithelfen, dem sinkenden Schiff einen Stoß zu versetzen ... Mag geschehen, was da wolle!«

Isidor zuckte lächelnd die Achseln ... beugte sich jedoch auch unwillkürlich herab und küßte Frau Lines Hand ...


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