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Vorgeschichte

Frau auf Havslundegaard war schon einmal verheiratet gewesen.

Mamsell Ingwersen berichtet, daß Niels Uldahl, als er nun vor gut zwanzig Jahren durch das Dorf Husum drüben westlich im Lande gefahren kam, wo er bei einem gleichgesinnten Großgrundbesitzer drei Tage lang zur Jagd usw. geweilt hatte, im Vorbeirollen ein großes, blondes Weib mit bloßen Armen und vollem Busen im Kruggarten herumgehen und Obst pflücken sah. Sie war köstlich anzusehen, üppig und rund wie die Äpfel, die sie sammelte. Ihr feines regelmäßiges Gesicht und goldblondes Haar leuchtete in der Sonne. Und es lag in ihren Bewegungen, wenn sie langsam die Arme erhob und die Früchte über ihrem Kopf brach, eine eigenartige, ruhige, fast faule Anmut.

Ein rieselndes Behagen durchzuckte Niels Uldahl.

»Wer ist das?« fragte er den Kutscher.

»Das ist Madame Reimers, die Frau des Krugwirts.«

»Kehr um und fahre ins Haus!«

Und während der Kutscher Ordre parierte, sprach der Herr für sich:

»Der Stoffel von Krugwirt, was zum Teufel soll der mit dem prachtvollen Frauenzimmer!«

Acht Tage und Nächte wohnte Niels Uldahl im Krug von Husum. Und als er am Abend des neunten Tages fortfuhr, saß Lina Reimers neben ihm. Die wildesten Gerüchte über diese Affäre liefen um. Aber endlich befestigte sich die Version, daß Uldahl dem Krugwirt die Frau für bare zehntausend Kronen abgekauft hätte. – Und als der Exgemahl nach einem halben Jahre den Krug verkaufte und nach Amerika reiste, war man fest davon überzeugt, daß die Sache sich so verhielt.

Und so hat Reimers mit der Sage nichts mehr zu schaffen ...

Um diese Zeit, also vor reichlichen zwanzig Jahren, lebten und regierten noch der alte Staatsrat und seine ausländische Frau auf dem Stammsitz des Geschlechtes, Egesborg.

Der Sohn Franz, der Jüngste, hatte Kragholm und Niels hockte auf einem kleineren Hofe, Thorsminde, da er ja als der Älteste den Hauptbesitz übernehmen sollte, wenn die Eltern starben –

Hier auf Thorsminde etablierte Niels sofort Madame Reimers als seine Gattin zur rasenden Erbitterung der Familie. Aber daraus machten die Liebenden sich wenig. Sie erzeugten mitsammen zwei Töchter, und Niels schrieb, sobald er nur den Fuß vor die Tür gesetzt hatte, die glühendsten Briefe an seine Line. Und als die gesetzliche Frist nach der Scheidung verstrichen war, verheiratete er sich standesamtlich mit ihr.

Und nun geschah es, daß Madame Lina Reimers, die bisher von der Familie geradezu verleugnet, da sie endlich auf Egesborg als Frau Niels Uldahl präsentiert wurde, gleich alle für sich gewann, durch ihre Schönheit, ihre Sanftmut und ihr seltsames, großes naives Herz, das kein Falsch kannte. –

Das waren die glücklichsten Jahre in Lines und Niels' Zusammenleben. Uldahl, dessen langer Junggesellenstand eine ununterbrochene Orgie von Trunk, Spiel und Weibern gewesen war, hielt sich zu Hause und freute sich seiner Frau. Und mit ihr war Ordnung und Sparsamkeit ins Haus gekommen. Keine wilden Zechgelage mehr, wo der Wein floß und die Geldscheine flogen, und die erschreckten Dienstmädchen spät nachts bleich hinter den abgeschlossenen Kammertüren saßen. – Jetzt waren Poker und Bakkarat vom L'hombre abgelöst worden, wobei die Verlustlisten freilich auch mehrere Ellen lang sein konnten, das aber doch nie so weit ausartete, daß man »Kopf oder Schrift« um einen Prämienstier oder eine Haushälterin spielte. Die Spieltische waren ins Wohnzimmer hineingebracht worden, und dort saß in der Sofaecke die stattliche Frau des Hauses und ließ ihre klaren blauen Augen vom Strickzeug oder Nähzeug zu den Herren bei den Punschgläsern hinüberwandern und ermahnte zum Frieden und zur Versöhnung, wenn sie zuweilen zusammengerieten und auf die grünüberzogenen Mahagonitische schlugen, daß die Jetons in die Höhe flogen.

»Na, na, Heine, Gutsbesitzerchen, schonen Sie die Möbel! ...«

Und Gutsbesitzer Heine sprang vom Stuhl auf, bog seinen klobigen Körper zum Sofa hinüber und sagte:

»Meine Gnädige ... alles für die Damen!« Und das Spiel wurde in Ruhe fortgesetzt, bis zur nächsten Explosion.

Um elf Uhr zog sich die Hausfrau zurück, während die Herren Spalier bildeten und sich verneigten. Und wenn sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fiel es nicht einem von ihnen ein, ein saftiges Wort vorzubringen, obwohl sie ihr alle in Gedanken weiterfolgten – bis auf ihr Lager.

Nur der Ehemann konnte zuweilen irgend eine obscöne Bemerkung fallen lassen im schadenfrohen Triumph darüber, daß sie gerade seine Bettgenossin war.

Aber da schlug Gutsbesitzer Heine wieder auf den Tisch:

»Halt's Maul, Uldahl!«

Und Gutsbesitzer Torsen und Kammerjunker Frölich bekamen womöglich noch rötere Köpfe und Hälse, wie vorher, und sagten:

»Du bist ein Schwein, Niels!«

– – – Aber geradezu rührend wurde das Wesen dieser halbgezähmten Bären, wenn spät nachts ihre Wagen vor der Tür vorfuhren; sie schalten die Kutscher aus, weil die Wagenräder zu stark auf den Pflastersteinen lärmten und weil die Pferde stampften und unruhig waren. Und draußen im Entree, das auf Thorsminde unmittelbar an das Schlafzimmer stieß, schlichen sie herum und sprachen flüsternd miteinander und stolperten über ihre eigenen schwankenden Beine, um Frau Line nicht zu wecken ... »da drinnen«.

Und ihre Augen waren voller Sehnsucht und Cognac, wenn sie auf die geschlossene Schlafzimmertür blickten...

Denn das war das Merkwürdige bei Frau Uldahl, daß sie trotz ihrer blonden Ruhe und ihrer ganzen keuschen, ein wenig lässigen Erscheinung gerade auf die Sinne dieser Männer eine stark erotische Wirkung übte. Sie sahen in ihr wahrscheinlich den Typus jenes reinen, weißen Weibes, vor dem sie einst im ersten furchtsamen Erwachen ihrer Mannheit im Traume gekniet hatten. Und nun sahen sie plötzlich nach einem Leben in Brunst und Enttäuschung den Gegenstand der Träume leibhaftig vor ihren Augen wandeln.

Daher wohl zugleich ihr Respekt und ihr Begehren. –

Auch Niels Uldahl hegte selbst in den Jahren, in denen er am wildesten und bösartigsten gegen seine Gattin raste, immer noch einen gewissen mystischen Respekt vor ihr ... einen Respekt freilich, der ihn reizte und aufregte, und die verbissene Raffiniertheit seiner Bösartigkeit noch erhöhte.

Aber in der Zeit auf Thorsminde ging alles noch ruhig und gut. Und als das Paar später nach dem Tode des Staatsrats und seiner Frau nach Havslundegaard übersiedelte, lebte es auch hier in den ersten Jahren einigermaßen verträglich. Frau Line gebar ihrem Manne im ganzen sieben Töchter, von denen die drei ältesten in zartester Jugend starben, während die anderen allmählich zu blühenden und blondlockigen jungen Weibchen heranwuchsen, wie es einst ihre Mutter gewesen, als Niels Uldahl sie am Morgen der Zeiten im Apfelgarten des Husumer Kruges gesehen hatte.

Nur Fräulein Sophie war, wie gesagt, dunkelhaarig und braunäugig. Mamsell Ingwersen sagte, daß sie ihrer Großmutter, der Staatsrätin gliche, die ja »irgendwo da unten in der Wärme« geboren worden war.

 

Es gab im Park von Havslunde, wo dieser sich bis auf ungefähr dreihundert Ellen zum Strande hinunterdehnte, eine große halbkreisförmige Lichtung, genannt der »Baderasen«. – Wenn man oben auf der hohen Steintreppe des Gartensaales stand und über die Brücke des Burggrabens blickte, dann sah man die Lichtung bei sonnigem Wetter wie einen goldgrünen Teppich am Ende der langen Lindenallee liegen. Und hinter dem Teppich wieder lag ein schmaler Streifen leuchtenden weißen Sandes, und dann kam die Bucht mit ihren blaugrauen Wogen ...

Hier hinunter verlegte Frau Line an Sommervormittagen nach dem Frühstück ihre ganze Kinderstube mit deren Inventar von Ammen, Kinderwagen, Wiegen, Kindern und Spielzeug.

Es war ein Gewimmel wie von einer Völkerwanderung, wenn der Zug durch die Lindenallee ging. Und wenn man hier unten auf dem Rasen sein Lager aufschlug, wurde der Laut von Stimmen, Gelächter und Tumult weit über die Wasser der Bucht hinausgetragen ...

Auf einer hochlehnigen weißgestrichenen Sprossenbank, die im Laufe der Zeit von den Mädels »Platz der Gnädigen« genannt wurde, saßen dann Frau Line und Mamsell Rottböl mit einem Stapel Kinderzeug zwischen sich und nähten, stopften und besserten aus, während die Kindermädchen und die größeren Kinder im Sonnenschein spielten und die Ammen im Schatten unter den Bäumen mit den Wiegen beschäftigt waren. Denn es kam vor, daß man auf Havslunde in diesen Jahren zwei Säuglinge auf einmal zu versehen hatte, eines fast nur reichliche neun Monate älter als das andere ...

Wenn Frau Uldahl hier auf ihrer Bank in der Mitte ihrer Kinder saß, umgeben vom sicheren und schirmenden Schutz des Parkes und Gutes, so war sie vollständig zufrieden und glücklich. Und in solchen Stunden empfand sie, wie in ihr eine tiefe Dankbarkeit emporwuchs gegen den Mann, der sie all dessen hatte teilhaftig werden lassen, der sie, gerade sie, zur Begleiterin seines Lebens erwählt und treu zu ihr gehalten hatte in den Jahren, als alle gegen sie standen und offen und im Verborgenen daran gearbeitet hatten, ihn von ihr fortzuziehen... Und wenn sie ihm deshalb ohne irgend eine Art von Weigerung ihre Arme öffnete und sich seinen heißen und ungezähmten Sinnen bereitwillig zu überlassen schien, so geschah es für sie eher, um eine Dankesschuld abzutragen, als etwa gerade deswegen, weil ihr Blut in vollem Einklang mit dem seinen flammte und siedete.

Und noch aus einem anderen Grunde war sie ihm stets gefällig und gehorsam, obwohl seine erotischen Ansprüche an sie im Laufe der Jahre sich in immer seltsamerer und seltsamerer Weise äußerten. Sie sah nämlich ein, jetzt, da sie ihn so tief kennen gelernt hatte, daß, wenn sie sich in diesem Punkte seinem Willen nicht blindlings beugte, die scheinbar so gleichmäßige und friedliche Harmonie ihres Zusammenlebens zerstört sein würde. Deshalb zwang sie sich und war ihm gehorsam, auch wenn ihre unverdorbene und keusche Natur sich immer wieder in schamhaftem Protest erhob.

 

Es lag in der Lichtung, auf der Grenze zwischen Rasen und Strand ein Badehaus. Die Tür lag nach dem Meere zu und von einem weißgestrichenen Mast über ihr wehte ein langer danebrogsfarbener Wimpel.

In diesem Badehause lebten und wohnten die Kinder, als sie älter wurden, fast den ganzen Sommertag. Sie kleideten sich im Hause an und aus, lagen und dehnten sich am Ufer und ließen sich von der Sonne durchglühen, wateten hinaus und duckten sich in den Wogen, kamen, leuchtend vor Nässe, wieder zurück, kugelten sich im Sande und ließen sich gegenseitig damit bewerfen, daß ihre behenden Körperchen aussahen, als wären sie gepudert, wenn sie wieder in das Wasser hinausplätscherten ...

Dies war Kinderspiel in Tag und Sonne. Aber ringsum in der Gegend schlich das Gerücht umher, daß, wenn die Nacht hereinbrach und nur der Mond über dem Wasser der Bucht leuchtete, am Ufer hier unten zwei andere weiße und nackte Menschenkinder »spielten« – der Herr auf Havslundegaard und seine gehorsame Frau.

 

Da trat vor ungefähr 15 Jahren jenes Ereignis ein, das mit einem Schlage und für immer eine Mauer zwischen den Eheleuten errichtete.

Viele nannten Frau Uldahls Benehmen damals geradezu töricht und sinnlos, denn, Herrgott, wir leben doch nun einmal in der Welt! – Aber sie handelte wie sie handelte, weil sie infolge ihrer unkomplizierten und gradlinigen Natur nicht anders konnte.

Es war ein Maientag mit Sonne und singenden Lerchen.

Niels Uldahl hatte beim Frühstück im Namen der Kinder die Lehrerin scherzhaft ersucht, ihnen des herrlichen Wetters wegen den Unterricht zu erlassen.

Dies war gnädigst bewilligt worden, und Frau Line war mit der kleinen damals 5–6 jährigen Anna in den Strandwald hinabgegangen, um Anemonen zu pflücken.

Aber nach einer halben Stunde kommt das Kind ganz verstört vor Weinen und Verzweiflung in die Küche gelaufen und erzählt, Mutter wäre unten im Tannenwalde umgefallen und könne nicht aufstehen und wolle nicht antworten.

Aber als sie eiligst hinunterliefen, die Mamsell und die beiden Stubenmädchen, nachdem sie erst den Diener Jürgen auf die Suche nach dem Hausherrn geschickt hatten, trafen sie auf dem Fußwege über die eingefriedigte Wiese Frau Uldahl, die langsam dem Hof zuschritt. Die Hände hielt sie fest gegen den Unterleib gepreßt, und nur Schritt für Schritt schleppte sie sich vorwärts ... Sie war damals hochschwanger mit ihrer jüngsten Tochter Sophie.

»Aber gnädige Frau! Sind die gnädige Frau krank geworden?«

»Ja ..«

Und behutsam führten sie Line heim und brachten sie zu Bett. Und während sie noch um sie herumliefen und sich mühten, stand plötzlich Niels Uldahl bleich und aufgeregt in der Tür des Krankenzimmers:

»Was ist hier los?«

»Die Gnädige ist krank geworden ...«

»Na–a, das ist wohl nicht so schlimm ... ich werde läuten, wenn wir euch brauchen ...«

»Ja, aber, gnädiger Herr ...«

Er stampfte wütend mit dem Fuß auf.

»Hinaus, sage ich!«

Und die Weiber schlichen ab ...

Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, trat Niels zum Bett.

»Verzeih', daß ich heftig wurde: aber die Frauenzimmer haben mich gereizt ...«

Frau Line antwortete nicht.

Da lächelte er dumm, riß sich zusammen und sagte entschlossen und verwegen:

»Ist das nun etwas, was man sich so zu Herzen nimmt ... was Teufel, das bißchen Kuß an einem Frühjahrstage! Hi, hi! Du weißt doch, du und ich, wir leben so miteinander, daß keiner ernstlich zwischen uns kommen kann.«

Sie blickte verwirrt zu ihm empor.

»Ja, Niels, ja ...« sagte sie, »aber ich möchte lieber warten und ein andermal mit dir sprechen ... Ich bin so müde.«

»Hum'. Dann ist es wahrhaftig deine eigene Schuld. Du hättest es ja ruhig und gemütlich nehmen können, als die Bagatelle, die es ist. Nicht? Meinst du nicht auch, daß es deine eigene Schuld ist?«

»Gewiß ... aber laß mich jetzt ein wenig allein, Niels.«

»Wie du willst.«

Er ging bis dicht vor das Bett und beugte sich über sie.

»Wir beide, die wir so gut miteinander leben, wie niemand anders ...« flüsterte er zärtlich und faßte sie um.

Sie entzog sich ihm scheu und hastig; ihre Augen weiteten sich angstvoll.

»Hä!« lachte er böse, »hi, hi! Ja, du bist in der Tat eine nette Mimose. Und es steht dir gut, nach alledem, was zwischen uns vorgegangen ist ... Aber das ist für dich schlimmer als für mich!«

Und er verließ das Zimmer und warf die Tür hinter sich zu ...

Als er fort war, schloß Frau Uldahl die Augen und lag still da. Ab und zu glitt gleichsam ein Schauer von Schmerz über ihr Gesicht, denn die Gedanken ließen ihr keine Ruhe ... Es war die »Bagatelle« geschehen, daß sie auf ihrem Spazierweg unten im Strandwalde Niels auf einem Grabenrande zwischen den Tannen sitzend gesehen hatte in heißer Umarmung mit der Lehrerin der Kinder. Und im selben Augenblick war Frau Line zu Boden gesunken, wie in die Kniee gezwungen von einer großen grausamen Hand, die ihr die Stahlfinger um das Herz gepreßt hatte ...

Aber es war nicht gerade der Umstand, daß Niels ein anderes Weib geliebkost hatte, der ihr das tiefste Weh verursachte, denn sie hatte lange genug gelebt, um zu begreifen, daß die Männer ohne Skrupel soviel Gunst und Huld annehmen, wie sie kriegen können. Nein, was ihr die bitterste Qual verursachte, war, daß sie sich in all diesen Jahren vergeblich seinen kranken Sinnen hingegeben hatte. Das hatte sie jetzt, als sie ihn nun plötzlich und unvorbereitet eine andere, eine neue begehren sah, mit einem so starren Entsetzen ergriffen, daß sie einen Augenblick geglaubt und gehofft hatte, es sei ihr Tod ..... Den Kindern zuliebe und dem Heim zuliebe hatte sie sich geopfert. Und weil sie wußte, daß er krank war. Und weil er sie wirklich einmal geliebt hatte, was seine Briefe bewiesen, und weil sie jetzt Mitleid mit ihm empfand. Und weil er sie damals zu seiner Gattin gemacht hatte. Und weil, und weil, und weil ...!

All dies kreiste in ihrem Gehirn; und alles miteinander lief unweigerlich auf diesen einen entsetzlichen Gedanken hinaus: daß nun alles vergebens war ...!

Es klopfte an die Tür und die Mamsell trat ein:

»Wie geht es der gnädigen Frau?«

»Ja, danke ... es geht schon besser ...«

»Sollen wir Buttermilchsuppe oder Fleischbrühe mit Milch zum Vorgericht geben, gnädige Frau ...?«

 

Reichlich 14 Tage lang hielt sich Niels Uldahl vom Krankenzimmer seiner Frau fern. Aber jeden Morgen gab der Diener Jürgen seine Karte an der Tür ab und erkundigte sich nach dem Befinden der Gnädigen. – Zuletzt lag ein ganzer kleiner Stapel von Visitenkarten auf ihrem Toilettentisch:

Niels Uldahl-Ege
Havslundegaard

Da endlich, mitten in der dritten Woche, eines Vormittags zur vorschriftsmäßigen Besuchszeit stellte sich der Herr Gutsbesitzer selbst ein.

Er war in schwarzem Rock, hellen Beinkleidern und Lackstiefeln (jedoch ohne Handschuhe und Hut). Und er traktierte seine Frau mit der ausgesuchtesten Höflichkeit. Bezeugte ihr seine Freude darüber, daß sie sich wieder wohl befände und sprach die Hoffnung aus, sie bald unten in den Wohnzimmern zu sehen.

Über die Lehrerin und den Tannenwald fiel kein Wort. Und nach Verlauf einer halben Stunde zog er sich höflichst zurück, um nicht zu »fatiguieren« ...

Aber am Abend desselben Tages, als alle zur Ruhe gekommen waren, drang er berauscht und lärmend in das Schlafzimmer ein und verlangte sein eheliches Recht. Und Frau Line mußte ihm drohen, Hilfe herbeizuläuten, ehe sie ihn wieder hinausbugsieren konnte.

Noch ein paar Mal versuchte er sich seine alte Macht über sie zu erzwingen. Das erste Mal dadurch, daß er bettelte und weinte und sich auf die Kniee warf und bereute und Buße und Besserung und ewige und unverbrüchliche Treue gelobte:

Sie wäre doch seine einzige und wirkliche Liebe! – das zweite Mal dadurch, daß er in trunkener Raserei Hand an sie legte und sie zu Boden schlug und schrie, er wollte sie nackt aus dem Hofe zu dem »Bauerngesindel« zurückjagen, von dem sie gekommen sei.

Aber Frau Line blieb unbeugsam. Und sie ließ ihr Bett aus dem bisherigen gemeinsamen Schlafzimmer hinaus und in einen Raum neben der Kinderstube tragen.

Welches Manöver er augenblicklich damit beantwortete, völlig aus dem ersten Stock auszurücken und sich als Märtyrer in zwei kleinen Räumen im Parterre-Geschoß des Turmes zu etablieren ...

 

Es waren fürchterliche Jahre, die jetzt folgten. Und hätte Frau Uldahl nicht diese fast reflektionslose Ergebung in ihr Schicksal gehabt, deren entschiedenes Gepräge ihr Leben in guten wie in bösen Tagen zeigte, so hätte sie diese Zeit wohl auch kaum überstehen können ohne Schaden an ihrer Seele zu nehmen.

Aber nun war es im Gegenteil, als ob sie mit dem Unglück wüchse, größer, umfangreicher, überlegener würde. Ja, es entwickelte sich sogar bei ihr allmählich eine Art melancholischen Humors, der sie die Ereignisse von oben herunter ansehen ließ, und der in den wunderbaren Tagen bei ihr erwacht war, als ihres Mannes chevalereske Visitenkarten sich auf ihrem Toilettentisch aufhäuften. Lächelnd, aber durch Tränen betrachtete sie das Leben und seine Erscheinungen, weise und naiv zugleich wie »das Volk«, dem sie entstammte ...

Aber wie dieses Volk nicht recht leben und gedeihen kann, ohne etwas zu haben, dem es im Glauben und in Träumen sein Haupt zuneigen kann, so hatte auch sie ihre Chimäre zu Trost und Erquickung in schweren Stunden – nämlich die so verkannte und so verachtete Kunst des Kartenlegens.

Sie hatte diese segensreiche Zuflucht schon als Kind kennen gelernt, da sie nach dem Tode ihrer Eltern in das Haus ihrer Großmutter kam, einer zu jener Zeit berühmten alten Frau, die allerdings selbstverständlich an Gott und seinen leibhaftigen Gegensatz glaubte, die aber doch stets in kritischen Augenblicken – in ihren eigenen sowie in denen anderer – ihre Zweifel bekam und deshalb nach den Karten als den einzigen Allwissenden und Unfehlbaren griff ...

Indessen hatte Frau Line in den ersten glücklichen Jahren ihrer Ehe so gut wie alle Religionsübung an den Nagel gehängt – das Glück hat bekanntlich keine Narkose nötig. Aber als die Sorgen und die Enttäuschung und das Schisma kamen, flüchtete sie aufs neue zu ihrem Gott zurück, um Kraft und Heilung zu finden. Und Stunde für Stunde konnte sie nun mit ihren Karten dasitzen und durch sie die Gewißheit und Sicherheit erlangen, die mehr wert ist als aller Verstand. Denn war ihr die Prophezeihung beim ersten Mal nicht günstig, so legte sie sich die Karten immer wieder, bis das Resultat schließlich der Erwartung entsprach. Und war ihr das Glück unweigerlich abhold, so hatte sie ja als einen letzten Balsam aller Briefe Niels aus den guten Jahren ...

Sie hatte sich eine Art »Kapelle« in der kreisrunden Turmkammer des ersten Stockes eingerichtet. Und da saß sie dann hinter Schloß und Riegel und befragte ihre Karten und las alte Liebesbriefe.

Und gleichzeitig lag ihr Mann in dem unmittelbar darunterliegenden Turmzimmer und schlief den nächtlichen Rausch aus, den ihm sein Martyrium immer häufiger auferlegte ...

So fanden sie beide Ruhe.

 

Joachim Uldahl-Ege hieß der einzige lebende Bruder des Staatsrats. Er war um diese Zeit 70 Jahre alt, Junggeselle und besaß den Hof Groß-Ravnsholt, ein paar Meilen südlich von Havslunde. Er war ein kleiner, vierschrötiger Baumstamm mit schneeweißem Haar und Bart und einer Stimme so tief und donnernd, daß die Kinder sich versteckten, wenn sie sie hörten. Außerdem war er lahm und stützte sich wo er ging und stand auf einen dicken Elfenbeinstab, der seine vollen fünf Pfund wog und aus einem einzigen Zahn geschnitten war.

Dieser Stab war schuld an einem unheilbaren Bruch zwischen Niels und dem Onkel. Er war nämlich ein Familienkleinod, das sich vom Urgroßvater Uldahl, dem großen ostindischen Kaufmann, der ihn von einer Reise mit heimgebracht, in gerader Linie vererbt hatte. Aber dann hatte der Staatsrat ihn einmal in einer Partie Billard an Joachim verloren. Darauf hatte Niels bei einem Besuch auf Ravnsholt nach dem Tode des Staatsrat sich des Kleinods bemächtigt und es mit nach Hause genommen, mit der Behauptung, der Vater hätte kein Recht gehabt, sich davon zu trennen. Aber Joachim hatte sich am folgenden Tage mit dem Gerichtsvollzieher wieder eingefunden und hatte sich den Stock aushändigen lassen. Diese Demütigung war es, die ihm Niels nie hatte verzeihen können ...

Joachim Uldahl war in den letzten Jahren nicht über die Grenzen seines Besitzes hinausgekommen. »Denn was ging das übrige ihn an«.

Aber eines schönen Tages hielt er in seinem niedrigen Jagdwagen vor der Steintreppe von Havslundegaard. Er saß in der Mitte des letzten breiten Sitzes, vorn übergeneigt, sich auf den erwähnten Stab stützend und aus einer silberbeschlagenen Meerschaumpfeife dampfend, die das Bildnis Seiner Majestät Christian VIII. auf dem Deckel trug.

Während der Wagen über die Brücke in den Burghof rumpelte, zeigte sich Niels' Antlitz hinter einem der Turmfenster im Parterregeschoß, verschwand aber sofort wieder.

Jürgen, der Diener, kam hinaus.

»Ist der Herr zu Hause?«

Jürgen, der strenge Ordre hatte, Niels stets zu verleugnen, machte ein idiotisches Gesicht und sagte:

»Die gnädige Frau kommt schon ...«

»Hilf mir herunter!«

Der Diener half und Joachim taperte die Treppe hinauf.

Im Entree kam ihm Frau Line entgegen. Sie war kaum vor einer Woche aufgestanden, nachdem sie die kleine Sophie zur Welt gebracht, und sie war bleich und schlank und schöner als jemals:

»Willkommen, Onkel Joachim ...«

Der Alte sah sie bewundernd von oben bis unten an. Auch sein Herz hatte sie sich sofort bei ihrer ersten Begegnung zu Füßen gelegt.

»Na,« sagte er, als die Musterung zu Ende war, »Sie hat also gekalbt?«

Frau Uldahl errötete.

»Wie ging es ... ohne Tierarzt?«

»Ja–e, danke ...«

»Freilich, Sie hat ja Übung!«

Nachdem Jürgen dem Alten beim Ablegen geholfen hatte, ging die Herrschaft ins Wohnzimmer.

»Wo ist Niels?«

Die Hausfrau blickte verlegen zu Boden.

»Könnt ihr euch nicht mehr vertragen?«

»Nein,« ertönte es leise.

»Nee, ich habe davon gehört; deshalb komme ich. Bist du bockbeinig geworden? Das sieht dir übrigens gar nicht ähnlich.«

Frau Line wußte nicht, was sie antworten sollte.

»Nein das ... ja das ...« stotterte sie.

»Nee, natürlich ist es Niels, der Lümmel! Aber Kinder bekommt ihr doch; manchmal müßt ihr also einig sein.«

»Das ist später gekommen, Onkel, das ...«

»Hat er andere Weiber? Das ist es wohl?«

»Ja – e ...«

Frau Line mochte eigentlich dieses Ja nicht sagen; denn das mit den anderen, das war ja gar nicht die Hauptursache, aber ...

»Ja, das sieht uns ähnlich!« nickte der Alte. »Wir haben niemals ruhig einen Unterrock sehen können, wir Leute von Egesborg ... aber wenn er eine Frau wie dich bekommen hat, dann müßte ihn doch der Teufel holen, daß er sich dann nicht an dich halten kann. Wo steckt er denn, die Bestie?«

»Ach, Onkel, das nützt nichts ...«

»Ich bin deswegen herübergekommen!«

»Ja, aber ...«

»Wo ist er? Ist er vielleicht ganz und gar davongerannt?«

»Nein, er...«

»Na?«

»Ach, Onkel Joachim, ich bitte dich ... ich kenne ihn ... und die Menschen sind ja nun einmal wie sie eben sind ...«

»Zum Donnerwetter nein, das sind sie nicht! Wo hast du ihn? Na?«

»Er hat sich in den Turm eingeschlossen.«

»Ich soll doch nicht etwa noch mehr Treppen herauf?«

»Nein, es ist hier draußen am Entree ... Aber er macht dir nicht auf, Onkel.«

»Das wollen wir doch sehen! ... Ist sie aus dem Hause, die Schulmamsell?«

»Ja ...«

»Habt ihr eine neue bekommen?«

»Ja ...«

»Liegt er auch bei der?«

Frau Uldahl errötete, mußte aber auch lächeln:

»Aber, Onkel ...!«

Joachim stolperte eifrig ins Entree hinaus und zur Turmtür. Frau Line blieb in der Wohnstube.

»Niels!« rief der Alte, und seine Stimme brach sich schallend an Decken und Wänden. – »Ich will mit dir reden, Niels ...!« und als keine Antwort kam, stieß er hitzig die Zwinge seines Stabes gegen die Türfüllung. »Hörst du nicht, Junge! Denkst du, ich bin hier herübergekommen, um mich zum Narren halten zu lassen?«

Frau Line zeigte sich in der Wohnstubentür.

»Er macht nicht auf«, sagte sie, »und wenn du den Hof anstecktest.«

Aber jetzt stieg die Wut dem Alten wie mit einem Stempelschlage zu Kopf. Er stieß den Stab gegen die Fußbodenfliesen, daß er in die Höhe sprang und ihm beinahe aus der Hand gefallen wäre.

»Dann gehe ich hinaus und schlage die Fenster ein,« sagte er, »denn sehen will ich ihn, hol' mich der Teufel!«

Aber Frau Line legte ihm flehend eine Hand auf den Arm.

»Ach nein, Onkel Joachim, das müssen wir nachher bloß ausbaden, ich und die Kinder ...«

Der Alte hielt inne.

»Ist er denn ganz und gar von Sinnen, der Niels drinnen?«

»Er hat begonnen zu ...«

»Zu was?«

»... zu trinken ...«

Der Onkel stieß wieder den Stab hart auf den Fußboden.

»Ach so! ... Hör' mal, mein Kind, zieht euch jetzt an, du und die Rangen, und fahrt mit mir nach Ravnsholt und bleibt gleich da; dann hole ich morgen die Lehrerin und eure andern Siebensachen ... Du bist zu gut für dieses Leben hier!«

Frau Uldahl lächelte:

»Was meinst du, würde Madame Henriksen sagen,« fragte sie.

»Was geht es sie an? Der Hof gehört doch wohl mir ... noch!«

»Und dann habe ich auch Angst, daß du es selbst bereuen würdest, wenn du uns gezählt hättest.«

»Meinst du,« murmelte er, »kann schon möglich sein, Schockscheffel, aber dann wäret ihr da!«

Er humpelte im Zimmer auf und ab.

»Kümmert er sich um das Gut?«

»Ja–e, das tut er wohl ... Mich hat er ja nie in seine Angelegenheiten eingeweiht«

»Es heißt, daß er spielt.«

»Wohl nicht mehr als sonst.«

»Bekommst du, was du brauchst?«

»Ja.«

»Paß auf, er muß auch von Havslunde absocken wie er von Egesborg absocken mußte.«

»Dafür konnte er doch nichts, Onkel ...«

»Gewiß konnte er dafür! Es hat keiner Vertrauen zu ihm! Er macht pleite, wie all die andern Besitzer von Havslunde ... Möchte er sich nur dann auch aufhängen ... Du willst also nicht mit nach Ravnsholt?«

Wieder lächelte Frau Line:

»Nein, danke, Onkel Joachim; eine Frau muß sein, wo ihr Mann ist ... ich bin auch die einzige vor der er zuguterletzt doch noch ein wenig Respekt hat.«

»Wohl bekomm's! ... Ja, dann fahre ich wieder los mit meinem blauen Dunst! ... Adieu!«

»Möchtest du nicht eine Erfrischung haben, Onkel?«

»Nein, ich will keine, ich esse nirgends anders als zu Hause ... Adieu!«

»Hast du nicht Lust, die Kinder zu sehen?«

»Die heulen ja, wenn ich mich bloß zeige.«

»Aa–ach, nein, jetzt sind sie größer und verständiger geworden.«

Sie ging ins Entree und rief die Treppe hinauf nach den Kindern. Sie sollten runter kommen!

Die ganze Schar kam denn auch dort oben angewimmelt, und steckte die blondlockigen Köpfchen durch die Sprossen. Aber als sie den Alten erblickten, dessen Stimme sie durch das Haus poltern gekört hatten, ergriffen sie augenblicklich die Flucht zurück in die Kinderstube.

»Hö!« lachte Joachim und blickte ihnen lange nach – »es wäre wahrhaftig ein allerliebster Tanz geworden, wenn ich die mit nach Ravnsholt gekriegt hätte! Du bist sehr klug, Linechen! ... Kriege ich einen Abschiedsschmatz?« fragte er dann.

Und Frau Line, die fand, daß er arg behandelt worden war, überließ ihm ihren roten Mund, auf den er einen kräftigen Kuß anbrachte. Dann steckte er seinen Christian VIII. an und fuhr ab ...

Nur noch zweimal in diesen 15 Jahren kam Onkel Joachim nach Havslunde; aber bei keiner dieser Gelegenheiten gelang es ihm, seinen Neffen zu sprechen.

Dagegen gewöhnten sich die Mädchen allmählich an ihn und besuchten ihn ab und zu auf Ravnsholt, wo er ihnen dann lange Lobreden über ihre Mutter hielt, während er ihnen gleichzeitig anvertraute, daß ihr Vater ein Windbeutel sei, und erschossen werden müßte.

Dies wurde indessen Niels hinterbracht und er legte sein Veto gegen die Besuche ein.

Aber er war ja so oft vom Hofe abwesend ...

Schon eine Reihe von Jahren hindurch hatte Gutsbesitzer Uldahl den Posten eines Gemeinderatsvorstehers der Kommune von Havslunde bekleidet. Seine Regierungsform war absolut despotisch. Und die übrigen Mitglieder des Rates, Bauern und kleine Landwirte, beugten sich willig vor ihm, da er seinen Posten stets zu ihrem und des Kirchspiels Vorteil versah. Schließlich überließen sie ihm in ihrer klugen Nachgiebigkeit die gesamte Korrespondenz und Rechnungsführung, so daß Uldahl zuletzt der einzige in der Versammlung war, der mit ihren Angelegenheiten vollkommen à jour war. Aber da kam der Bruch mit Frau Line und Niels, darauf folgendes Martyrium im Turm ...

Er fand sich nun plötzlich nicht mehr zu den Gemeinderatssitzungen ein. Die Briefe und Anfragen des Gemeinderats ließ er unbeantwortet. Und als sich einige Mitglieder einmal bei ihm einstellten, um eine Erklärung von ihm zu verlangen, ließ er sie draußen im Entree stehen, ohne die Tür auch nur einen Spalt breit zu öffnen, daß sie doch wenigstens hatten sehen können, ob noch Leben in ihm war.

Das Resultat dieses Vorgehens war selbstverständlich, daß man sich bei der nächsten Gemeinderats-Sitzung einen andern Vorsitzenden wählte.

Aber Niels war immer noch im Besitz der Bücher und Rechnungen.

Geschlagene zwei Monate versuchte man, diese Dinge in Güte von ihm herauszubekommen. Aber er gab ständig kein Lebenszeichen.

Da verlor man die Geduld und reichte eine Klage beim Landratsamt ein, das ihn für verpflichtet erklärte, bei einer Geldstrafe von zehn Kronen pro Tag sämtliche das Kirchspiel betreffenden Bücher und Papiere auszuliefern.

Hierauf antwortete Niels ausnahmsweise, er würde die Sachen abliefern, wenn es ihm konveniere.

Worauf das Amt sagen ließ, wenn »das Betreffende« nicht innerhalb 24 Stunden in den Besitz des Gemeinderats gelangt sei, so würde das gefällte Urteil rückwirkende Kraft bekommen bis zu dem Tage, an dem der neue Vorsitzende gewählt worden war.

Auf dieses Ultimatum gab Niels gar keine Antwort. – Und erst nachdem ein reichlicher Monat verstrichen, sandte er die kriminellen Bücher und Dokumente aus dem Hause, begleitet von der fälligen Geldstrafe, zierlich auf Tage, Stunden, Minuten und Sekunden ausgerechnet und betragend 965 Kronen und 56 Oere ...

So war Niels Uldahl-Ege in seinem privaten wie in seinem öffentlichen Leben, und so blieb er bis die Zeit der Gnade und der große Umschlag gekommen war.

Und doch wurde er nichtsdestoweniger nach ein paar Jahren in den dänischen Reichstag gewählt.

Natürlich hatte er sich in die Reihen der Opposition gestellt. Nicht aus Überzeugung, denn er hatte keine, sondern teils weil seine Standesgenossen sich allmählich von ihm zurückgezogen hatten, und teils weil er infolge seines ganzen Naturells opponieren mußte. Er gehörte zu der Sorte von »Charakteren«, die in einem gegebenen Augenblick nicht vor der Behauptung zurückweichen, daß der Schnee schwarz sei.

Er wurde also gewählt. Und was seine Wahl möglich machte, daß er gerade um die Zeit in das politische Leben eintrat, als die Bauern noch nicht zum vollen Bewußtsein ihrer Macht und Gewalt erwacht waren, und es deshalb für besonders fein hielten, von einem Gutsbesitzer im Reichstage vertreten zu werden – auch wenn sie ihn unter sich für verrückt hielten.

Seine Wahlversammlungen ringsum in den Krügen und Vereinshäusern der Stadt gestalteten sich zu einem wahren Triumphzug, wo er mit Hurrarufen und Händeklatschen begrüßt wurde, sogar von seinen ehemaligen Kollegen im Gemeinderat – denn ein Mundwerk hatte er!

Und als er am Wahltage selbst seine Herablassung so weit trieb, daß er seine Erntewagen, fünfzehn an der Zahl, anspannen ließ, sie mit bequemen Strohsitzen und Bier und Branntwein ausstattete, sich selbst als Kutscher auf dem vordersten Sitz anbrachte, und so in seinem Kreise herumfuhr und Wähler aufsammelte, da empfing er sogar von der Sozialdemokratie Huldigungen als ein wahrer Demagoge; bekam im Rausche der Begeisterung ihre Stimmen und stand bei der Wahlhandlung als Triumphator über den Kandidaten der Rechten da, der mitsamt seinem spärlichen Anhange nur auf seinen konservativen Fleischbeinen angegangen kam.

So siegte wie immer, früher wie später, auch bei dieser Wahl der Idealismus in der dänischen Politik. – Und heute am 27. September, war Herr Niels mit seiner Ökonomieverwalterin, Mamsell Mathilde, nach der Hauptstadt gereist, um sich nach den Sommerferien wieder zur Eröffnung des Reichstages, dem bekannten ersten Montag des Oktobers, einzufinden.


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