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Präzis mit dem Glockenschlage acht bekam der Amtsrichter Seemann seinen Morgenkaffee in seine Privatwohnung gebracht.

Wenn er Kaffee getrunken hatte, steckte er sich eine Pfeife an, setzte sich in eine Sofaecke und »dachte«.

Von neun bis zehn Uhr machte er einen Morgenspaziergang, nachdem er erst die Karauschen unten im Gartenteich gefüttert hatte.

Von zehn bis zwölf Uhr arbeitete er im Landratsamt unten in der Stadt.

Um ein Viertel auf Eins frühstückte er zu Hause. (Solo.)

Von Eins bis Drei war er wieder im Bureau.

Dann aß er mit der Familie zusammen Mittag; trank Kaffee, rauchte eine Zigarre, machte einen Nachmittags-Spaziergang, kam um sechseinhalb Uhr zurück, las, zeichnete und »dachte« in seinem eigenen Zimmer, bis die Uhr neun schlug und die Kinder zu Bett gebracht waren.

Dann tranken er und seine Frau Tee im Eßzimmer, worauf sie lasen, rauchten und im Wohnzimmer miteinander schwiegen, bis die Uhr auf dem Schreibtisch in der Ecke elf schlug. Dann standen sie auf, sagten einander gute Nacht und gingen jeder in sein Schlafzimmer mit dem Wunsch eines ebenso angenehmen Beisammenseins am folgenden Tage und alle übrigen Tage, bis an ihr Lebensende ...

 

Die hohe Stehlampe auf dem Mitteltisch im Wohnzimmer war angezündet. Klein und dickbäuchig saß Frau Rositta in ihrem Zimmer und nähte Kinderzeug für den »Schnitzer«.

Das Zimmer war gemütlich ausgestattet mit Teppichen auf dem Fußboden, alten Mahagoni-Möbeln und alten Kupferstichen.

Auf dem Tisch neben dem Nähkasten stand ein Veilchenstrauß, der das Zimmer mit seinem Frühlingsduft erfüllte.

Die Kinder waren zur Ruhe gebracht; alles im Hause war still ...

Da schlug die Uhr auf dem Schreibtisch neun. Die kleine Frau hob den Kopf. Türen wurden geöffnet und geschlossen. Es war Isidor, der mit Pfeife und Whisky aus seiner Privatwohnung kam.

Heute Abend hatte der Amtsrichter den Tee in seinem Zimmer eingenommen, was öfters vorkam. Als er an Rosittas Stuhl vorbeikam, strich er ihr sanft über die Wange; und sie blickte von ihrem Nähzeug auf und nickte.

Worauf er sich auf seinen gewöhnlichen Platz am Tischende setzte, ein Buch vornahm und zu lesen begann.

Und die Stille breitete sich von neuem aus. Man hörte nur das Ticken der Uhr und den schwachen, heiseren Ton des Fadens, wenn Rositta ihn durch die Leinwand zog ...

Da krachte plötzlich ein Stück Kohle im Kachelofen, daß die Stücke gegen die Ofentür rasselten.

»Na ...!« sagte der Amtsrichter.

»Ja–e ...!« lächelte Rositta, fast entschuldigend.

Worauf sie hartnäckig weiter schwiegen, unverbrüchlich, eifrig, bis die Uhr elf schlug und man sich erhob, um jeder in sein Zimmer zu gehen ...

Aber heute Abend legte Frau Rositta, statt sofort Gute Nacht zu sagen, ihre Arme um den Hals des Gemahls, lächelte still und sagte:

»Nun ging also der Tag zu Ende, Isidor! Wieviel aus demselben Teig meinst du, haben wir noch zu erwarten?«

»Viele,« sagte er, »ungeheuer viele!«

»Das ist aber schade ...«

»Ja–e, aber da ist nichts zu machen! Und dann haben wir es doch eigentlich ganz nett!«

»Ja-e ...«

»Gute Nacht, Resedachen ... Möchtest du nicht meinen Whisky probieren?«

»Nein, nein, danke, danke ... noch nicht!«

»Na–e, dann steht es ja noch nicht ganz verzweifelt mit dir!«

Frau Rositta streckte den Arm in den ihres Mannes und sie begannen im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Weißt du noch,« fragte sie, »wie du mir das Trinken abgewöhntest?«

»Ja!«

»Und nun willst du es mir wieder angewöhnen?«

»Ja–e ... ich habe nämlich in der Zwischenzeit eingesehen, daß es trotzdem das allein Seligmachende ist.«

Sie blieb stehen und blickte lächelnd zu ihm auf:

»Wir sind eigentlich ein paar nette – Pflanzen hätte ich beinahe gesagt!«

»Ja, von uns kann man was lernen!«

Sie begannen wieder umherzugehen.

»Das liegt auch an dem schrecklichen Klima, in dem wir leben, Isidor!«

»Glaubst du, Kleine?«

»Ja, wenn die Sonne etwas mehr schiene und wir nicht all den Wind und den Pantsch hätten, dann würden die Menschen viel vergnügter sein.«

Der Amtsrichter schüttelte den Kopf:

»Ich glaube, das liegt tiefer ...« sagte er. »Ich glaube, das menschliche Geschlecht ist zu alt geworden ...! Weißt du noch, der triste Mann, den wir unten in Monte Carlo sahen? Er spielte und spielte aus reiner Melancholie; und als er alles verspielt hatte, ging er und erhängte sich an einer der Palmen ... Und er war noch dazu aus Sizilien, wo es Sonne und Wärme gibt!«

Sie lächelte wieder. –

»Wie gut wir doch immer einander zu trösten verstehen, Isidor!«

»Wir gehören ja auch alle beide zu dem lebensfrohen Geschlecht Uldahl-Ege, Kleine ...! Aber es ist doch unglaublich, wie redselig wir werden, wenn wir zu Bett sollen! Es ist gleich einhalbzwölf!«

»Bloß noch ein bißchen?« bat sie und zog ihn mit sich. Und sie begannen wieder auf und ab zu wandern.

»Weißt du, was Jürgen heute Abend sagte, als er ausgekleidet wurde?«

»Der Strolch, der redet so viel! Das hat er gewiß von dir ...! Na, was sagte er also?«

»Er sagte, ich sollte ihm einen Ballon kaufen; und dann wollten er und ich damit auffliegen, ›ganz so hoch, wie wir nur könnten‹; und wenn wir dann nicht mehr höher kommen könnten, sagte er, dann sollten wir ein Loch in die Welt schlagen und aus ihr herausfliegen.«

»Heiliger Bonifacius, Reseda, der Junge ist ja Religionsstifter!«

»Und als ich ihn fragte, was denn da wäre, sagte er: da liegen all' die Weihnachtsgeschenke, die ich im nächsten Jahre kriegen werde! ... Und du hättest seine Augen sehen sollen, Isidor! ... Wie ist es doch schade, daß aus Kindern Erwachsene werden müssen.«

»Ja, man müßte sie am Tage der Konfirmation erwürgen, dafür bin ich immer gewesen ...! Aber, Kleine, hast du es übrigens als Kind dort unten in Polen so besonders gut gehabt?«

»Nein ...« ertönte es sanft.

»Und die Mädchen auf Havslunde ... glaubst du, daß sie über ihre Kindheit besonders entzückt gewesen sind?«

»Nein ... aber deshalb soll man auch immer gut gegen Kinder sein!«

»Vielleicht ...? Ich bin nun etwas mißtrauisch gegen alle kategorischen Imperative geworden ... Aber jetzt will ich, hol' mich der Teufel, zu Bett gehen! Ein verteufeltes Mundwerk hast du doch! Hätte ich das geahnt, hätte ich dich nicht genommen!«

»Jetzt gehe ich, Isidor, ..« lächelte sie, »Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Kleine, willst du nicht meinen Whisky kosten?«

»Nein, ich will nicht ... doch, eigentlich, dann schlafe ich schneller ein!«

Und sie nahm sein Glas und leerte es beinahe ...

Über den »Schnitzer« sprachen sie nicht!

 

Drinnen über dem Arbeitstisch des Amtsrichters hingen ein paar Kopieen der üppigen, schönen und lebenslustigen Porträts von Fräulein Natalia und Fräulein Bettina im Gartensaal von Havslundegaard ...

Als Isidor aus der Wohnstube in sein Zimmer trat, nickte er ihnen gemütlich zu:

»Die Mütter trinken Champagner,« sagte er, »und die Kinder werden schwachköpfig. ... Und nur Gott, der Allwissende, kann sagen, was die Kindeskinder für ein Ende nehmen werden!«

Dann bereitete er sich einen frischen Whisky und begann sich auszukleiden.

»Die Sache ist die,« sagte er, »daß man einen akzeptablen Gott haben müßte, dem man wieder verfallen könnte, Resedachen!«

Im Arbeitszimmer und Schlafzimmer waren Lampen und Lichter angezündet.

Isidor ging während des Auskleidens zwischen den Stuben hin und her. Manchmal machte er ein paar Tanzschritte und summte dazu. Dies war seine gemütlichste Stunde. Er fühlte sich hier in seiner Einsamkeit Angesicht zu Angesicht mit dem Leben selbst und jenseits aller »Kultur« und konventioneller Rücksichten.

Der Amtsrichter Seemann litt nämlich an einer peinlichen Krankheit, einer Art galgenhumoristischen Veitstanzes, den zu verbergen ihn viel Mühe kostete, wenn er mit andern Menschen zusammen war.

Besonders hatte Musik einen unheilvollen Einfluß auf ihn; und er litt die fürchterlichsten Qualen, wenn er im Bureau saß und ein Leierkasten draußen auf der Straße zu spielen begann, während gleichzeitig ein achtbarer Mann an seinem Pult stand und »ernsthafte« Sachen mit ihm verhandelte ...

Tschimdadera und Tschimdadera und Tschimdadera –da–da–a ...! begann es da in Isidor zu trällern und zu wogen; und er empfand die kribbelnste Lust, den Achtbaren um den Leib zu fassen und mit ihm herumzuwalzen –. Weshalb das bißchen wahnsinnige Dasein so feierlich nehmen!

Aber er bezwang sich natürlich und verhandelte weiter.

Und der Achtbare ging auf die Straße hinaus, am Leierkasten vorüber und lobte den Amtsrichter bei anderen Achtbaren und nannte ihn einen selten ruhigen, besonnenen und ernsthaften Mann ...

Ha, ha, ha, hi–i–i ...!

Isidor ergriff plötzlich ein Lineal vom Tisch; und indem er es als Gitarre benutzte, begann er im Zimmer umherzuwalzen, während er laut zu einer selbstkomponierten Melodie sang:

»Ach, wie ist das Leben doch reich ... plum, plum! (schlug er auf das Lineal) und schön – plum – plum! – und tief – plum, plum! – und ach, wo auf Erden lebt wohl mein Vater, Jacobäus, daß ich ihm für mein Dasein danken kann! – Mein Vater Jacobäus, jener geschickte Gymnastiker, der mich auf einem Klub-Ball erzeugte – plum, plum! – Mitten zwischen den Lancieren und der Française – mich erzeugte mit dem stolzen Fräulein Natalia von Havslunde, die mit einem Gutsbesitzer verlobt war, einen Bankier heiratete und am Leberkrebs starb – plum, plum! – in ihrem Palais in den Champs Elysees ...? Denn du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, heißt es, und deinen Gott fürchten und dein – plum, plum – Vaterland lieben!«

Er warf die »Gitarre« fort, nahm eine Spieldose aus der Schublade des Tisches hervor und zog sie auf, und als sie mit einem Marsch einsetzte, begann er mit martialischen Schritten und würdiger Haltung zwischen den Möbeln umher zu stolzieren, nur mit blaugestreiften, seidenen Unterhosen und einem hochroten Fez angetan, den er einmal auf einer Reise nach Spanien von einem wunderschönen Mädchen in Alicante als Morgengabe erhalten hatte, einem wunderschönen und gottesfürchtigen Mädchen, das den Fez einem Türken gestohlen hatte, den sie trotz der Gebote des Korans sternhagelbetrunken gemacht und ausgeplündert hatte; denn sie war eine eifrige Christin und über ihrem gastfreien Bett hing der leidende Erlöser ...

Isidor ergriff wieder das Lineal; und während die Spieldose einen einschmeichelnden Pas de deux ableierte, spielte und sang er mit ihr um die Wette:

»O, Miranda du – plum, plum! – Unvergeßliche! – Unsere Muttersprache ist wunderbar, sie hat einen so milden Klang; und du sprachst spanisch und ich sprach dänisch, aber wir verstanden einander wie es nur ein Mann und ein – plum, plum! – Weib können! – O Miranda, mit den braunen Gliedern und dem heißen Schoß! – O Miranda Madonna, mit dem roten Munde, der nach Knoblauch stank! – Wie ist das Leben doch reich – plum, plum! – und schön – plum, plum! – und göttlich sinnlos! – Und nun habe ich meiner Frau einen »Schnitzer« verschafft, obwohl es, Gott weiß, schon genug – plum, plum!! – Uldahls auf der Welt gibt!«

Er warf das Lineal fort und bereitete sich den dritten Whisky. »Prosit«, sagte er, und trat vor das Porträt seiner Mutter hin.

»Prosit, Madame Jacobäussen! Jetzt kann ich der Wahrheit starr ins Auge sehen! Das Leben ist ein Tingeltangel, gedichtet und in Szene gesetzt von jenem großen, trunkenen Faun, der irgendwo wohl salviert außerhalb des Ganzen sitzt und die Fäden in seiner Hand hält ... Die Priester nennen ihn Gott!

Prosit!« Und er nahm eine Flasche Opium aus seinem Schreibtischfach und goß einige Tropfen daraus in seinen Whisky, um besser einzuschlafen ...

Aber am nächsten Vormittag Punkt zehn Uhr saß der Amtsrichter Seemann auf seinem Bureaustuhl und flößte seinen Mitbürgern Achtung ein.


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