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Im Familienhaus.

Bis gut gegen zwei Uhr war es bei der Leichen-Johanne still gewesen.

Aber da erwachte die kleine Juliane, die das Bett mit der Mutter teilte, dadurch, daß diese sie plötzlich bei der Brust packte und sagte:

»Da sind sie!« und im selben Augenblick mitten im Zimmer stand.

Juliane, die mit den Anfällen Bescheid wußte, sprang auch aus dem Bett, lief zur Mutter und ergriff deren Hand.

»Da sind sie! Hörst du? Sie kommen näher!« stieß Johanne in ihrer Angst hervor.

Aber die Kleine streichelte ihr beruhigend die Hand:

»Nein, nein, gewiß nicht, Mutter ...« sagte sie sanft, »komm, jetzt gehen wir ein bißchen; das hilft ja immer.«

Und Mutter und Tochter begannen im Zimmer auf und ab zu wandern.

»Schließ' die Augen Mutter. Ich werde dich schon führen.«

Die Leichen-Johanne drückte die Augen fest zu. Und Juliane führte sie behutsam im Zimmer auf und ab.

»Schneller! Schneller!«

Durch die niedrigen Fenster mit den kleinen Scheiben sah man über die Felder hinaus, die im weißen Mondnebel dalagen. Hie und da ragte ein Baum und ein Hausdach hervor.

»Schneller! Schneller, Juliane! Sonst kann ich sie hören!«

»Ja ja, ...« sagte die Kleine und beschleunigte ihren Schritt, so gut es sich in dem engen Zimmer tun ließ ...

Als nach dem Tode des Schwerenot-Jens alle seine Angelegenheiten geordnet waren, hatte man Johanne sein Bargeld, sein Sparkassenbuch und die Kiste mit seinem Hab und Gut ausgeliefert.

Man hatte ihr »oben« vorgeschlagen, das Buch in Verwahrung zu nehmen und ihr allmählich nur je eine kleine Summe auszuzahlen. Aber da hatte Johanne gerast und sich wie toll angestellt; man hatte sich deshalb damit begnügt, die fünfhundert Kronen zu teilen, von denen die Hälfte für Juliane sichergestellt wurde, während man den Rest der Mutter übergab. Und sie war seitdem nicht mehr nüchtern geworden.

Der Gedanke daran, in ein Trinkerasyl zu kommen und sich zum Menschen machen zu lassen, war schon längst verdunstet und vergessen. Die Leichen-Johanne hatte keinen anderen Gedanken, als sich mit betäubenden Getränken zu füllen. Sobald sie einen Rausch ausgeschlafen hatte, begann sie mit einem frischen. Sie konnte die Erinnerung an Jens und sein Ende nicht ertragen, obwohl kein Mensch gegen sie Verdacht geschöpft hatte.

»Schneller! Schneller, Juliane!«

»Ja, ja ... Wollen wir nicht unsere Holzpantinen anziehen, Mutter, wie immer, dann hörst du nicht so gut!«

»Ja! Wo sind die?«

Das Kind suchte seine und der Mutter Holzschuhe hervor. Und jetzt begannen sie beide im Zimmer auf und ab zu lärmen, daß der Spektakel im ganzen Hause widerhallte.

Johannes Stube lag in der Mitte ...

»Jetzt ist die drin wieder nicht richtig,« murmelte Spat-Marie, die in dem nördlichen Zimmer wohnte – »nie kann man seine Nachtruhe in Frieden haben!«

Und Maren Ohrwurm im südlichen Zimmer zog das Deckbett höher über den Kopf und fluchte im Schlaf.

Aber drinnen bei der Leichen-Johanne trabten sie immer weiter ...

»Höre! Höre! Juliane! Jetzt sind sie gerade hier draußen.«

»Trample, Mutter, trample!« sagte die Kleine und setzte selbst die Füße so fest auf, daß ihr die mageren Kniee schmerzten. Sie hatte längst entdeckt, daß es keinen Zweck hatte, die Mutter zur Vernunft bringen zu wollen; man mußte auf ihre Ideen eingehen, wenn man sie einigermaßen in der Gewalt behalten wollte.

»Trample, trample!« wiederholte Johanne.

Und sie trampelten jetzt beide los, daß die Spat-Marie an die Wand zu donnern begann.

Johanne drückte die Hand ihrer Tochter, daß das Kind beinahe aufschrie.

»Höre!« flüsterte sie starr vor Angst.

»Das ist nur Marie hier nebenan, Mutter.«

Und sie trabten weiter ...

An dem Tage, an dem die Leichen-Johanne ihren Mann unter die Pferde geworfen hatte, und durch die Tür zur Dunggrube geflüchtet war, hatte der Schweinehirt, Rasmus Reptholt gerade alle Ferkelchen, wohl an die fünfzig Stück, hinausgelassen. Johanne war mitten unter sie gestürzt und war umgefallen, hatte sich verwirrt erhoben und war wieder gefallen, während die Ferkel in ihrem Schrecken kreischend und schreiend über sie hinweggelaufen waren und auf ihrem Leibe und ihrem Gesicht herumgetrampelt hatten.

Doch das hatte weniger zu besagen, da sie ungesehen entschlüpft war.

Aber mitten in der Nacht nach dem Begräbnis ihres Mannes, als sie sich einen kräftigen Rausch angetrunken hatte, um schlafen zu können, war sie plötzlich dadurch aufgewacht, daß das Zimmer gesteckt voll kleiner Ferkel war. Sie saßen nebeneinander auf ihren Hintern, so viel das Zimmer nur fassen konnte, und glotzten sie mit ihren kleinen, bösen, rotgeränderten Augen an, bis sie Juliane dazu bewegen hatten, aus dem Bett zu krabbeln und die Tiere mit dem Besen wegzujagen.

Aber die ganze Nacht hindurch bis zum hellen Morgen hatte Johanne das Scharren und Grunzen der Tiere rings um das Haus hören können ...

Und dieses Grunzen und Scharren war es, was die Leichen-Johanne jetzt immer zu hören glaubte, wenn die Anfälle sich meldeten.

Ins Zimmer hinein wagten die Kanaillen sich nicht mehr, da ein unschuldiges Kind drinnen schlief.

Aber jetzt sannen sie darauf, das Haus umzuwerfen. Jens sollte gerächt werden. Und Johanne hörte sie zu Tausenden angestiegen kommen und mit ihren Schnauzen in der Erde graben und wühlen. Jede einzige Nacht hörte sie es. Es kamen immer mehr hinzu. Nun waren es gewiß bald über eine Million! Und heute Nacht würde es geschehen. Heute Nacht würden sie kommen und ihr Haus über ihrem sündigen Kopf umwerfen.

»Da sind sie! Da sind sie, Juliane! Höre! höre!«

»Nein, nein, Mutter, es fährt nur ein Wagen vorbei ..«

Aber Johanne riß ihre Hand aus den Fingern der Tochter und stürzte ans Fenster.

»Sieh, sieh!« flüsterte sie, und die Haare auf ihrem Kopf froren ihr vor Schrecken, denn sie sah draußen im Mondschein einen ungeheuren Halbkreis schwarzer, weißer und bunter Schweine anrücken. Sie wühlten die Erde auf, Schnauze an Schnauze, ihre bösen Äuglein leuchteten wie Feuer und ihr Grunzen erfüllte die Luft mit einem bösartigen Laut, wie das brummende Schwingen eines Rades. Jetzt würde es geschehen. Jetzt war der Augenblick gekommen! In einer Minute würden sie das Haus umringt und den Grundstein umgeworfen haben; die Mauern würden einstürzen, und die Tiere ihr mit ihren stinkenden Füßen über Gesicht und Glieder stampfen wie an jenem Tage auf dem Dunghaufen von Havslundegaard.

»Schließ die Augen, Mutter! Schließ die Augen!«

Aber ehe die Tochter es verhindern konnte, stürzte die Leichen-Johanne zur Tür, riß sie auf und lief hinaus. Die Holzschuhe schleuderte sie von sich. Und indem sie das Hemde um die nackten Beine zusammenzog, krümmte sie sich vornüber, um all ihre Kraft zu sammeln, und setzte in einem langen Sprunge quer über die Schweine fort und in den Mondnebel hinein ...


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