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Die Sonne war untergegangen und die Dunkelheit brach an. Ein paar Knechte hatten sich Pechfackeln zurecht gemacht, die sie anzündeten und mit denen sie über das Eis jagten.

»Jacobsen ...?« flüsterte die Köchin Sörine, als der Eleve hinaufkam, um die bunten Lampen aus dem Badezelt zu holen.

Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt, wo sie stand; und ihr Gesicht war blau vor Weinen und Kälte.

»Jacobsen ...? Kleiner, guter Jacobsen ...?« Aber der Eleve hörte sie nicht.

Er ging und pfiff ...

 

In der Villa Seemann freute man sich nicht auf das Kind, das eintreffen sollte. »Den Schnitzer« hatte man es getauft, mit einem Versuch, die Sache humoristisch aufzufassen. Und Isidor hatte eine Zeichnung des Kindes gemacht, wie es auf einem Katheder stand, klein, altklug und mit einer Brille auf der Nase und seinen zerknirschten Eltern Vorwürfe darüber machte, daß sie es geschaffen hatten ...

Aber Frau Rositta ging still und umfangreich in den Stuben umher, während Isidor reuig um sie herumpusselte.

Auch diese Situation hatte der Amtsrichter verewigt.

Aber das half eben so wenig ...

Es sollte auch nicht zur Erhebung der Gemüter beitragen, daß die Laune der alten Frau Seemann in letzter Zeit unter den Nullpunkt gesunken war. Aus dem Grunde konnte niemand klug werden; und wenn man sie fragte, antwortete sie unweigerlich:

»Das weiß ich nicht ... ich bin nur so betrübt.«

Aber da endlich eines Tages bei einem von Isidors gewöhnlichen Besuchen, machte die alte Dame ihrem Herzen Luft ...

Sie saß auf ihrem »Gedenkplatz« auf dem Ecksofa. Frau Seemanns Kinn zitterte nervös und ihre Augen waren tränenbetaut.

»Aber was ist denn los, Torachen,« fragte Isidor und ergriff ihre Hand, »sag' es mir doch jetzt.«

Und da kam unter heftigem Schluchzen:

»Es ist Vater ...!«

»Und was tut er?«

»Er läßt mich so viel allein sitzen ...«

»Ja aber, es würde doch furchtbar unpassend sein, wenn Thora mit ihm in den Klub ginge, der ist doch nur für Männer.«

»Ja, das weiß ich wohl ... und keiner freut sich, weiß Gott, mehr darüber als ich, daß das alte Wurm ihm beigetreten ist.«

»Na, ja aber ...«

»... aber ich kann es nicht aushalten, allein zu sitzen, das weiß er sehr wohl ... und das sagte Frau Willemoes auch, als sie gestern hier war, daß das ein großes Unrecht von ihm sei ... und da sagte ich es ihm, als er nach Hause kam, daß sie das gesagt hätte ... und da sagte er, daß er sie kopfüber die Treppe hinunter werfen wolle, wenn sie das nächste Mal käme; denn sie solle nicht herumgehen und Eheleute untereinander verhetzen, sagte er.«

»Und glaubst du, Thorachen, daß er es tut?«

Frau Seemann wurde rot und hitzig.

»Nein, mein Junge,« nickte sie, »da kennst du deinen Vater schlecht! Er ist wirklich ein allzu nobler und feiner Charakter, als daß ihm so etwas einfallen könnte.«

Isidor mordete ein Lächeln.

»Na aber, dann brauchst du dir's doch nicht zu Herzen zu nehmen, Frauchen!«

»Nein,« seufzte sie, als sie merkte, daß sie geschlagen war, »nein, das ist es auch nicht so sehr ...«

Auch Isidor seufzte:

»Was ist es dann ...?«

Die alte Dame starrte in Gedanken versunken vor sich hin; ihre Hände lagen nun in ihrem Schoß und die Daumen wälzten sich in nervöser und rasender Eile umeinander:

»Es ist meine Seligkeitshoffnung ...« entfuhr es ihr.

»Aber Herrgott, Mütterchen,« lachte der Amtsrichter und streichelte ihr die Wange. »Du kannst dir doch denken, daß Petrus entzückt sein wird, wenn er dich sieht! ... Na, bist du es, Thora Seemann, wird er sagen und die Arme ausbreiten: komm' doch her, dann werde ich dich direkt vor Gottes Thron tragen!«

Die alte Frau lächelte, während ihr noch die Tränen über die Wangen liefen:

»Ja, wenn du Petrus wärst, Isidorchen, dann hätte es keine Not ...«

»Ich will dir gern eine Empfehlung mitgeben!«

»Pfui, mit so etwas spaßt man nicht!«

»Nein, es ist auch wirklich mein voller Ernst! Du, die du so süß und liebenswürdig bist, solltest du nicht geradewegs in den Himmel kommen, dann kommt keiner hinein.«

Frau Thora schüttelte still den Kopf.

»Nein,« sagte sie, »ich bin oft böse und ungerecht gegen Vater und euch andere ... Aber das ist es auch nicht,« fügte sie trostlos hinzu, »denn das kann man ja mit Beten gut machen ...«

Ihre Daumen begannen wieder wild zu sausen, und indem sie völlig an sich verzweifelnd ihre Stirn gegen die Schulter des Sohnes lehnte, sagte sie schluchzend:

»Ich kann nicht an Jesu unbefleckte Geburt glauben, Isidorchen ... und nur durch den Sohn kommt man zum Vater!«

Der Amtsrichter mußte sich derb in die Lippen beißen, um nicht zu lachen.

Endlich war es also der alten Dame geglückt, ihn ordentlich an die Wand zu drücken!

Und er empfand die tiefste Bewunderung vor ihrer Schlauheit, während er gleichzeitig das innigste Mitleid mit ihr hatte, denn sie litt ja unter all dieser Denkerei.

Und dann lächelte er wieder.

Solange er zurückdenken konnte, war nämlich dieser stille Kampf zwischen ihnen geführt worden, wer von ihnen beiden die Oberhand gewinnen würde.

Sobald Frau Thora einen neuen Grund gefunden hatte, zu trauern und Tränen zu vergießen, hatte Isidor sofort versucht, ihr nachzuweisen, daß kein Grund dazu vorläge; und sie hatte sich scheinbar trösten lassen.

Aber im tiefsten Innern war sie ärgerlich darüber, daß er stets den Sieg davontragen mußte.

Und sie dachte sich subtilere und subtilere Ursachen aus. Sie mußte weinen, sonst machte das Leben keinen Spaß. Aber sie verlangte andererseits auch, daß man sie tröste.

Wenn Isidor die Treppe zur Wohnung der Eltern hinaufging, dachte er stets mit einer gewissen Beklemmung: Gott weiß, was sich die kleine Thora jetzt wieder für Spitzfindigkeiten ausgedacht hat! Aber bisher hatte er doch, wie gesagt, das Glück gehabt, sie immer durch Beweise zu überzeugen, was auch im Augenblick bewirken konnte, daß ihr leichter und lichter zu Mute wurde.

Aber wenn sie dann wieder allein geblieben war, reagierte sie ärgerlich auf seine Dialektik und spintisierte und spintisierte, um doch endlich und unabweislich einmal den Sohn matt setzen zu können und einen Trumpf auszuspielen, den er nicht auszustechen vermochte.

Und das war ihr also heute endlich geglückt:

Auf die unbefleckte Empfängnis konnte er nichts wiedergeben.

Am allerwenigsten mit dem jetzigen Zustand seiner Rositta in mente.

Er nahm deshalb in seiner Bedrängnis die Zuflucht zu einem Witz.

»Herrgott, Thorachen,« sagte er und streichelte ihr wieder die Wange, »hat der Herrgott all das andere machen können, dann hat er doch wohl auch ein kleines Kind machen können!«

Aber die alte Dame wollte ihn nicht so um die Sache herumkommen lassen, jetzt, da sie ihn endlich in der Zwickmühle hatte.

»Wie ist das Leben doch fürchterlich,« jammerte sie, »keinen hat man, mit dem man sprechen und keinen, der einem helfen kann!«

»Aber Mütterchen ...!«

»Ja aber, so tröste mich doch, Junge!« sagte sie plötzlich hart und wütend. »Du pflegst ja sonst immer damit zu prahlen, daß du mich trösten kannst!«

»Na, aber Frau ...!« rief der Amtsrichter überrascht, »jetzt wird sie ja unartig!«

Und im selben Augenblick warf sich die alte Frau reuig an seiner Brust, verbarg wiederum das Gesicht an seine Schulter und schluchzte:

»Ja, ja, ja ... ich bin böse, das weiß ich wohl ... aber das liegt daran, daß ich krank bin vom vielen Alleinsitzen ...!«

Jetzt war man wieder beim Ausgangspunkt ...

Aber Frau Seemann, die das bei Zeiten entdeckte, fuhr fort:

»Und dann glaube ich auch, Isidor, es kommt zum großen Teil davon, daß ich zu der fürchterlichen Familie gehöre ...«

»Meinst du die Familie deines Mannes?«

»Nein!« sagte sie hitzig, »ich meine die Uldahls, natürlich!«

(Niels Uldahl erschien Frau Thora so ungefähr wie Ritter Blaubart in eigener Person.)

»Es ist doch eine angesehene und feine Familie,« meinte Isidor.

»Ja, das will ich meinen, mit dem Niels!«

»Würdest du vielleicht lieber eine geborene Sörensen sein?«

»I, Gott bewahre!«

»Na, ja aber ... Und dann ist es doch auch die Schuld der Uldahls, daß du mich bekommen hast!«

Frau Seemanns Gesicht wurde ein breites lichtes Lächeln.

»Ja, Gott segne den Staatsrat dafür!« sagte sie. »Du mein Sonnenkind!«

In diesem Augenblick hörte man, daß die Entreetür geöffnet wurde und im Vorzimmer ertönten Schritte.

Frau Seemann trocknete schnell die Augen und putzte sich die Nase.

»Das ist Vater,« sagte sie, »er darf nicht sehen, daß ich geweint habe; es wäre eine Sünde gegen ihn ...!« und sie begann unmotiviert zu lachen und zu schwatzen.

»Sieh' mal her, Isidor, jetzt habe ich die Bilder gefunden, von denen wir gestern sprachen ...!«

Sie lief eiligst ins Wohnzimmer und kam mit einer Pappschachtel voll alter Photographien zurück, die sie mit nervöser Hast auf dem Tisch vor dem Sofa auszubreiten begann.

»Wir sagen Vater kein Wort!« flüsterte sie. »Wir sagen Vater kein Wort!«

Der alte Seemann trat ein.

»Na, wir sind wohl sehr beschäftigt,« nickte er und seine Sack-Äuglein lachten vergnügt.

»Guten Tag, Isidor! Guten Tag, Mutter! ... Was glaubt Ihr wohl steht draußen im Entree für Euch?«

Die Tür glitt leise auf, und die beiden kleinen Jungen des Amtsrichters, Paul und Jürgen, zeigten sich.

»Großvater hat uns mitgenommen ... er sagte, wir müßten ...!« entschuldigten sie ihre unangemeldete Ankunft und blickten zum Vater hin.

»Aber das sind ja die Kinder!« sagte Frau Seemann, lief zu ihnen und küßte und umarmte sie. »Das war allerdings eine Überraschung.«

Paul, der älteste der Knaben, war schlank und dunkelhaarig, mit feinem, blassem Gesicht und großen, »denkenden« Augen. Jürgen, der jüngste, war dick, fast viereckig, blondlockig und gassenbubenhaft.

Der alte Seemann warf seiner Frau einen scheuen, forschenden Blick zu, er hatte ein böses Gewissen, weil er sie allein ließ, – aber er liebte seinen Klub.

»Wie geht's Mutter?«

»Gut, Vater!«

»Ja, das kann ich mir ungefähr denken, wenn Isidor bei dir ist ...« lächelte er erleichtert.

Und dann nahm er seine Zeitung, ging ins Wohnzimmer, setzte sich in seinen Stuhl am Fenster und begann zu lesen.

Er begann aus der Vorderseite des Blattes mit Titel und Datum und schloß auf der Rückseite mit Redakteur und Buchdrucker.

Die Knaben standen schweigend und wohlerzogen am Tisch, wo Vater und Großmutter saßen und die alten Photographien durchsahen.

»Könnt Ihr sehen, wer das ist?« sagte der Amtsrichter und zeigte ein Bild.

»Das ist Großmutter,« sagte Paul sachverständig.

»Das sieht nicht recht nach einer Großmutter aus!« meinte Jürgen.

»Nein, es ist auch viele, viele Jahre her, daß sie photographiert wurde, mein Junge; aber hier sind ja zwei gleiche Bilder, Thora! Kann ich eins davon bekommen?«

»Ja, bitte, Isidorchen. ... Sind es zwei? Das habe ich gar nicht gewußt.«

Der Amtsrichter steckte die Photographie in sein Portefeuille ...

Die Knaben verhielten sich ständig schweigend und diszipliniert, Paul selbstverständlich, Jürgen mit mehr Überwindung.

»Wie geht es eurer Mutter?« fragte die alte Dame.

»Gut!« sagte Paul.

»Sie hat solchen großen Bauch bekommen,« sagte Jürgen.

»So?« lachte Frau Seemann.

»Ja, mit 'nem kleinen Bruder drin!«

Die alte Dame lachte laut; und der Amtsrichter lächelte:

»Na, Jürgen Strolch, nur nicht zu beredt!«

»Nein!« sagte der Knabe und kniff den Mund zusammen.

»Wollt Ihr jeder eine Apfelsine haben, Jungens?«

Die Kinder sahen zum Vater hinüber, und als er zustimmend nickte, sagten sie:

»Ja ... danke ...«

»Das sind doch die zwei süßesten Bälge, die man sich denken kann,« lächelte die alte Frau. »Willemoessens Kinder waren gestern hier, die waren so naseweiß und unartig, daß es ein Greuel war.«

»Ja–e– ...« sagte der Amtsrichter, »und dabei erleben Willmoes wahrscheinlich im Laufe der Jahre mehr Freude an ihnen, als ich an meinen.«

»Dürfen wir die Apfelsinen essen?« fragte Jürgen.

»Nein, steckt sie ein, jetzt wollen wir nach Hause ... Und geht hinein und sagt Adieu zum Großvater«

Der alte Seemann saß in seine Zeitung vertieft; er sah und hörte die Kinder nicht und als der Vater ins Zimmer trat, standen sie noch schweigend und wohlerzogen vor ihm.

»Habt Ihr Adieu gesagt?«

»Großvater liest!« sagt Paul.

»Und da darf man nicht stören!« sagte Jürgen ... Er hatte die kribbelnste Lust gefühlt, einen Finger durch die Zeitung zu stecken und Buh–h! zu rufen!

Aber er hatte gelernt, sich zu beherrschen.

Als der Amtsrichter nach Hause kam und das Porträt vornahm, das er von seiner Mutter bekommen hatte, bemerkte er, daß auf der Rückseite einige Verse standen, die er selbst vor dreiundzwanzig Jahren gedichtet und niedergeschrieben hatte.

Und er setzte sich sofort an seinen Schreibtisch und verfaßte folgenden Brief, mit dem er Paul zur Großmutter laufen ließ:

Teure Geliebte!

Sieh' her, was auf dem Bilde stand, das Du mir vorhin gabst:

Die Stimme, die in mir den Kinderwillen
Das Gut' und Böse unterscheiden lehrte
Vor langer Zeit, – wie segn' ich sie im Stillen –
Dir, Mütterlein, die Stimme ja gehörte!

Und mußt Du einst, des Erdenwanderns müde,
Den Weg zu Gott, in Deine Heimat lenken –
Aus Deinem Namen quillt mir warmer Friede
Und immer, immer werd' ich sein gedenken!

I. Seemann.

Und dies sage ich noch nach dreiundzwanzig Jahren. Du wirst daraus ersehen, welch' herrliche und prächtige kleine Thora-Mutter Du bist und stets warst

Deinem Sohn
Isidor Seemann.

Als die alte Dame dies zu Ende gelesen hatte, weinte sie lange und mit heftig schnurrenden Daumen.

Aber diesmal vor Freude. ...


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