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Bald darauf nahm Frau Karen Abschied.

Als sie draußen auf der Straße war, sprach sie für sich:

Die liebe Rositte – natürlich – sie kann ja wirklich sehr süß sein, aber sie ist und bleibt doch ein kleines Dummchen ...!

 

Am Freitag zwischen Weihnachten und Neujahr fand also ein Familiendiner auf Havslunde statt ...

Die Gesellschaft saß um den Tisch in dem großen Speisesaal.

Niels Uldahl schlug an sein Glas und erhob sich. Es wurde totenstill.

»Meine Damen und Herren! begann er, darf ich Ihnen in meiner Gattin und in meinem eigenen Namen einen herzlichen Dank dafür darbringen, daß Sie uns die Freude gemacht haben, sich hier heute Abend einzufinden. Leider können wir nicht so oft wie wir es gern möchten, Ihre auserwählte Gesellschaft genießen. Ich lebe ja, wie Sie wissen, einen großen Teil des Jahres in einer Art freiwilliger Verbannung, indem ich gemeinsam mit einer Anzahl anderer gleich- und ungleichgesinnter Berufsgenossen im Rate des Landes sitze und an dem Tauwerk spinne und an den Plänen niete, die unser kleines Staatswesen in Fluß halten ... Aber, meine Damen und Herren, wie ehrenvoll und begehrt diese Tätigkeit auch ist, so bedenke ich mich trotzdem nicht, die Hausväter zehnfach glücklicher zu preisen, die das Jahr hindurch im Schoße ihrer Familie verweilen können, wie zum Beispiel mein lieber Bruder Franz! ... Und wenn ich mich nun deshalb an dich, meine heißgeliebte Gattin wende, so geschieht es, um dir einen ...«

»Vater ... du darfst nicht! ... Wie kannst du nur! ... Du darfst nicht.«

Fräulein Sophie war von ihrem Platz aufgesprungen und stand leichenblaß mit leuchtenden tränenerfüllten Augen da und fuchtelte ganz außer sich mit den gegen den Vater vorgestreckten Armen.

»Du darfst nicht ...! Ich will es nicht haben. Du darfst nicht!« wiederholte sie.

Frau Line lief eiligst zu ihr:

»Aber Sophie ... Sophiechen ...!«

»Er darf nicht, Mutter! ... Sage es ihm! ... Wie kann er es nur fertig kriegen!«

»Ja, ja, ich werde es schon sagen, ich werde es schon sagen ... Aber komm du jetzt mit mir!«

Und sie schlang einen Arm um die Tochter und führte sie hinaus ...

Niels Uldahl hatte seine Nichte Mona zu Tisch. Er hatte sich, sobald Fräulein Sophie aufzuschreien begann, mit einem bedauernden Achselzucken gesetzt und eine lebhafte Konversation mit seiner Tischdame begonnen. Aber seine Augen ruhten kalt und hart auf der Tür, aus der Frau Line hinausgegangen war. Und als es ihm zu lange dauerte, bis sie sich wieder zeigte, rief er laut über den Tisch:

»Ach, Anna, willst du nicht hinaufgehen und nachsehen, wo deine Mutter bleibt; man verläßt seine Gäste nicht in dieser Weise!«

»Vater ...«, erklang es flehend von Charlotte und Frederikke.

Aber er tat, als höre er es nicht und fügte hinzu:

»Sage, sie soll sofort kommen!«

Und Fräulein Anna erhob sich und ging ...

Bald darauf trat Frau Uldahl ruhig und beherrscht ein:

»Verzeihung ...!« lächelte sie, indem sie Platz nahm.

Im selben Augenblick stand Niels auf.

»Ja, meine Damen und Herren,« fuhr er fort, als ob nichts geschehen wäre, ich wollte Sie also bitten, ein Glas auf das Heim zu leeren! Und an dich, meine liebe Gattin, will ich einen herzlichen Dank richten für das, was du durch lange Jahre speziell für das Heim hier auf Havslundegaard gewesen bist! Sowie außerdem einen Dank für ...«

»Niels, Niels ...!« erklang es mahnend von Franz Uldahl.

Aber Niels verstärkte seine Stimme, um ihn zu überschreien:

»... einen Dank für die Liebe zu ihrem Vater, die du stets unsern Kindern einzuimpfen verstanden hast! ... Ein Hoch also auf das Heim, repräsentiert durch Frau Line Uldahl-Ege geborene Sörensen!«

Alle Gäste erhoben sich, und Frau Line hob ihnen lächelnd, aber etwas bleich ihr Glas entgegen. Worauf sie sich ruhig zu den Mädchen wandte, die abwartend am Büffet standen:

»Ja, Olga und Marie, jetzt könnt Ihr ruhig weiter servieren, ...«

»Satansweib!« murmelte der Hofjäger Palle bewundernd, »wo hat sie die Welt her!«

 

Im Gartensaal und in den anstoßenden Wohnstuben wurde der Kaffee serviert.

Alle Kronen und Lampetten waren angezündet und ringsum von den Wänden starrten die gemalten Porträts der Vorfahren über die Versammlung hin: Oluf Uldahl, der Begründer des Geschlechts; und Mathias Uldahl, der Egesborg gekauft und aufgebaut hatte; und der Staatsrat und die Staatsrätin, und Fräulein Natalia und Fräulein Bettina, jung und schön in tief ausgeschnittenen Kleidern und mit kostbarem Schmuck an Hals und Armen ...

Aber am schönsten von allen Bildern war doch das lebensgroße Gedicht auf Frau Line, das an der Mittelwand des Gartensaales hing. – Ihr Mann hatte sie im Morgen der Zeiten von dem ersten Maler des Landes malen lassen. Und sie stand dort auf der Leinwand, wie Niels Uldahl sie zum ersten Male an jenem Vormittag im Kruggarten zu Husum gesehen hatte, groß und üppig unter einem schwer beladenen Apfelbaum und pflückte Früchte ... die Früchte, die ihr die Erkenntnis von Gut und Böse bringen sollten. Ihr seines regelmäßiges Gesicht und goldblondes Haar leuchteten in der Sonne; und der Maler hatte in ihre dunkelblauen Augen die ganze spröde Sehnsucht nach dem »Glück« hineingelegt, die die Jugendjahre zu so einem zauberisch-lügenhaft-verheißungsvollen Sommernachtstraum macht. ...

»Ist das die Gnädige?« fragte Müller Hammer, einer von Niels Uldahls Reichstagswählern; er stand und starrte das Bild entzückt an.

»Ja, das ist die Gnädige,« ... sagte Isidor Seemann, der daneben stand.

»Ja, die Zeit vergeht, und die Flügel sausen!« nickte der Müller. »Wollen wir hineingehen und einen Kognak hinter die Binde gießen, Amtsrichter?«

 

Vom Post-Ole erfuhr man am Morgen nach dem Schmause auf Havslundegaard die traurige Kunde, daß es nun geradezu contant faul mit dem Herrn Gutsbesitzer auf Ravnsholt stände – wenn er nicht schon tot sei.

Niels setzte sich augenblicklich mit Kragholm und Hvidgaard telephonisch in Verbindung, und die drei Verwandten beschlossen, gemeinsam zum Onkel hinüber zu fahren und Isidor Seemann mitzunehmen, um wenn es nötig wäre, juristische Hilfe bei der Hand zu haben. Im Laufe des Vormittags trafen sich die vier Herren deshalb wieder auf Havslundegaard. Und nach einem kräftigen Frühstück fuhren sie im Landauer der Gnädigen davon. Alle vier waren im Pelz und mit Fellmützen bekleidet, und hatten die Pelzkragen um die Ohren hochgeschlagen. Es war klares Frostwetter; die Felder und Chausseen waren weiß vom frischgefallenen Schnee.

Anfangs schwatzte man munter drauf los, lachte und erzählte schlüpfrige Geschichten. Aber allmählich »benahm« sie die Kälte und das Frühstück, und sie wurden schweigsam und nickten schläfrig, jeder in eine Ecke des Wagens gebohrt. Und zuletzt schliefen sie alle mit Ausnahme des Amtsrichters. Er war vollständig wach und unterhielt sich damit, die Gesichter seiner Verwandten zu studieren, jetzt, da der Schlaf sie bloßgelegt hatte.

Franz Uldahls rotes, fettes Gesicht hatte nämlich nicht einmal jetzt, da er schlummerte, den merkwürdig geheimnisvollen, verschmitzten Ausdruck verloren, der es in den letzten Jahren immer mehr geprägt hatte. Es war, als sei er schwanger mit einem Wissen, das jeden Augenblick drohte, ihn in lautes Gelächter ausbrechen zu lassen:

»Ha, ha–a! Seht Ihr! Das hättet ihr gewiß nicht von mir gedacht!«

Er gab sich augenscheinlich die größte Mühe, diese seine Lustigkeit zu zügeln, aber so ganz glückte es ihm nie. Sie drängte und drängte sich vor und hatte deshalb schließlich seinem dicken, gutmütigen Sonnenblumen-Gesicht den Ausdruck gegeben, als ob er permanent dem Bersten nahe sei, was Frau Karen oft mitten im besten, wenn sie zu Hause auf Kragholm in den Stuben saßen, ärgerlich ausrufen ließ:

»Aber Franz, was amüsiert dich denn so unglaublich! Es ist doch nicht zum Aushalten, diese grienende Fuchs-Physiognomie zu sehen!«

Da erlosch Franz' Gesicht augenblicklich, die Züge erschlafften und erstarben gleichsam:

»Es ist nichts, Karenchen,« sagte er, »Aber gar nichts!«

Doch gleich darauf sprang wieder ein Lachmuskel vor, und dann noch einer und dann noch einer ... und bald strahlte er wiederum in derselben geheimnisvollen und kitzelnden, inneren Heiterkeit.

Selbst wenn er schlief, bewahrte sein Gesicht in der Regel einen gewissen übermütigen Ausdruck. Frau Karen hatte das Phänomen einmal beobachtet, als er beim Mittagskaffee eingeschlafen war. Die Zigarre hatte er verloren, und die Arme hingen ihm schlapp herab, aber die Runzeln in den Augenwinkeln arbeiteten, und die Mundwinkel waren in ständiger Bewegung.

Unheimlich war Frau Karen nicht zu Mute geworden, denn dazu war kein Grund vorhanden, so seelenvergnügt sah das Gesicht des Mannes aus. Aber sie war wütend und unsicher geworden.

Sie hatte sich jahrelang eingebildet, ihn von Grund auf zu kennen und lange Zeit hindurch hatte sein Betragen auch nicht zu der leisesten Beunruhigung Anlaß gegeben ... Aber jetzt, was konnte das sein, womit er sich in seinen Gedanken trug, der Bursche!

Und plötzlich packte sie der verwirrende Gedanke:

Sollte er etwa nachts auch im Bett so neben ihr liegen und grienen?

Und gleich in derselben Nacht hatte sie heimlich ein Streichholz angezündet und sich über ihn gebeugt.

Und siehe, da lag er ausgestreckt auf dem Rücken, die Bettdecke unter dem Kinn hochgezogen und das große honnette Gesicht erstrahlte in der verborgensten unterseeischen Wonne!

Gerade so lag er auch jetzt in seiner Wagenecke: die Augenfächer gingen und das Lächeln spielte; er wäre beinahe vor Lachen erstickt, bis er plötzlich von einem herzlichen: Hoo, ho, ho–o! erlöst wurde und erwachte.

Der Amtsrichter bog sich lachend zu ihm hinüber:

»Onkel, worüber hast du dich eigentlich die ganze Zeit so köstlich amüsiert?«

Franz sah ihn verdutzt an.

»Über nichts, mein Junge, über ganz und gar nichts,« murmelte er. »Ich habe doch nicht etwa was gesagt?«

»Doch, Onkel, du hast einmal etwas von Austern gesagt!«

Der Alte wurde flammendrot:

»Nichts verraten ...« flüsterte er hastig, als Niels und Palle sich in dem Augenblick zu rühren begannen.

Der Hofjägermeister gähnte:

»Wie weit sind wir?«

»Am Krug von Hejredal ...«

»Ich mache mir den Teufel was aus der ganzen Erbschaft,« sagte plötzlich Niels, »aber den Stock will ich, schockschwerenot, haben!«

»Pah ... pah ..!« blies Franz.

»Was für einen Stock?« fragte Palle, der die Geschichte vergessen hatte.

»Urgroßvaters ... den der alte Bandit, der Joachim, Vater seiner Zeit gestohlen hat.«

»Er hat ihn gewonnen! ... beim Billard, berichtigte Franz.

»Gewonnen! Gewonnen ... Man hat nicht das Recht, solche Sachen zu verspielen ... Was, Isidor?«

»O, doch ...«

»Ein altes Erbstück, das in gerader Linie weitergehen soll! Ne, Donnerwetter, das Recht hat man nicht!«

»Du hast ja gesehen, daß der Gerichtsvollzieher ...« begann Franz.

Niels' Augen blitzten.

»Halt's Maul«, sagte er. »Der Stock gehört mir, und das wußte der alte Esel sehr wohl, deshalb ließ er ihn nie aus den Händen ... Halt 'mal einen Augenblick, Lars!«

Lars zog die Zügel an; man zündete sich eine Zigarre an; und das Geschwätz wurde fortgesetzt. Man begann über Joachims Testament zu plaudern.

Wie er wohl das Vermögen verteilt haben mochte? Die Pompadour und ihre drei Lümmel waren natürlich reichlich bedacht worden. Aber es war ja genug da. Man veranschlagte den Nachlaß des Alten auf gut dreimalhunderttausend Kronen ohne Hof und beweglichem Besitz.

»Aber hier sitzen wir und faseln,« rief plötzlich der Hofjägermeister. »Du bist ja sein juridischer Beirat, Isidor.«

»Nein, ... das ist Rechtsanwalt Bock.«

»Der Bauernfänger!« brummte Niels in ständiger Erregung. »Das war doch der Schlimmste, dem er in die Klauen geraten konnte!«

Sie schwatzten weiter über den Hof, die Besatzung und den Betrieb. Wenn Niels Ravnsholt bekäme, so würde er es gleich wieder verkaufen; er brauchte Bargeld, sagte er. Aber an einen Bauern verkaufte er nicht! Scheußlich, zu sehen, wie die Bauernstoffel angefangen hatten, sich rings auf den Herrenhöfen breit zu machen. Kaum ein Tag verging, ohne daß man in der Zeitung las, wie jetzt irgend ein Nielsen oder Petersen oder Jensen irgend ein altes Gut gekauft hätte.

»Oder ein Knudsen!« ergänzte Palle boshaft und deutete über die Felder auf das hohe weiße Hauptgebäude von Egesborg, an dem sie eben vorbeikamen. Es lag stolz und vornehm ohne Türme und Krimskrams, gardiert von seinen gewaltigen hundertjährigen Eichenalleen, breit und stattlich wie ein Symbol des soliden Reichtums entschwundener Zeiten.

»Bauerngesindel!« murmelte Niels, ohne zum Hof hinüberzublicken.

»Die Sache ist die,« nickte Franz tiefsinnig, »daß wir wurmstichig sind, Bruder Niels, und die anderen gesund. Wir sind Zerstreuer, und die andern sind Sammler, Voilà tout!«

»Ja, wir sind in Wahrheit die Auserwählten!« lachte der Hofjägermeister. »Das glauben wenigstens die anderen, bis sie selbst in der Patsche sitzen! Denn es wird ihnen einst gehen wie uns. Die Väter haben Herlinge gegessen, und der Kinder Zähne sind stumpf worden, ha, ha ...! Aber vorläufig sind sie also noch Väter!«

»Ach, ich hätte mir schon durchgeholfen, wenn ich hätte auf Egesborg sitzen bleiben können!« sagte Niels hitzig.

»Und Onkel Joachims Elfenbeinstock gehabt hätte!« murmelte Franz. »Ja, die Geschichte kennen wir!«

Isidor Seemann, der sich ständig schweigend verhielt, betrachtete heimlich wieder die Gesichter seiner Verwandten.

Niels' Antlitz, das vorhin während des Schlafes einen schlaffen und müden, fast gequälten Ausdruck gehabt, sah jetzt, da er wach und erregt war, ganz lebhaft aus; und die großen wasserblauen unzuverlässigen Augen leuchteten böse.

Palles Gesicht dagegen bewahrte hinter seinem gewaltigen Bart so ziemlich denselben Ausdruck gutmütiger und brutaler Kraft, ob er schlief oder wachte. Er glich dem Wilden im dänischen Wappen, angekleidet, soigniert und in Lebensgröße.

Und Franz, die listige Seele, saß stets, auch wenn er tiefsinnige Dinge sagte, und kämpfte seinen ewigen Kampf mit jener geheimnisvollen und unfaßlichen, unterseeischen Lachlust ...

Kutscher Lars meldete vom Bock:

»Da kommt Probst Langkilde und Rechtsanwalt Bauer!«

»Ho! Hallo! Macht ein bißchen Stop,« rief der Hofjägermeister, als die Fahrzeuge aneinander vorbei rollten.

Aber der Probst und der Rechtsanwalt saßen so tief in ihren Pelzen vergraben, daß sie weder sahen noch hörten.

»Paßt auf, da werden Gaunerstreiche ausgeheckt,« sagte Niels, »da das Gesetz und die Propheten unterwegs sind ... Fahr' zu, Lars!


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