Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Elftes Kapitel

Jost vom Wege

Kaum wußte Czerwonka Marienburg auf sich selbst angewiesen, als er die Aufforderung zur Übergabe ergehen ließ. Würde sie verweigert, so wolle er die Stadt in Grund und Boden schießen, daß kein Stein auf dem andern bliebe; füge sie sich gutwillig, so verspreche er sie der Nachsicht des erzürnten Königs zu empfehlen. Aber binnen vierundzwanzig Stunden müsse er eine Antwort haben.

Bartholomäus Blume versammelte den Rat und die ganze Gemeine. »Ich habe getan«, sprach er sie an, nachdem er das Schreiben verlesen hatte, »was ich nicht lassen konnte. Wär' dieser Streich gelungen und das Schloß für den Orden gewonnen, ich zweifle nicht, daß ihr mir's gedankt haben würdet. Jetzt ist unser Plan vereitelt, und da wundert's mich nicht, wenn ich vielen als ein Tor und andern vielleicht schlimmer noch: ein Verbrecher erscheine, weil ich die Stadt in diese Not gebracht. Das muß ich tragen. Wenn ihr nun aber fragt: warum hast du das getan, ohne des Rats Einwilligung nachzusuchen oder der Gemeine Willen zu erforschen, so antwort' ich nicht, wie ich wohl könnte: solche Dinge dürfen keine Mitwisser haben! Sondern: ich allein wollt' die Verantwortung dieses gefahrvollen Wagnisses auf mich nehmen. Und so möget ihr nun nach der Wahrheit Herrn Ulrich Czerwonka und dem König die Versicherung geben, ihr hättet von diesem Überfall allesamt nicht das mindeste gewußt – ich allein sei der Schuldige. Bindet mich und liefert mich aufs Schloß aus, so habt ihr euren Gehorsam und guten Willen bewiesen und werdet leicht Verzeihung erlangen. Mit mir aber geschehe, was sich nicht abwenden läßt.«

Diese Rede erschütterte alle Zuhörer tief. Es waren einige rasch Verzagte aufs Rathaus gekommen, deren Häuser von den Kugeln gelitten hatten und die deshalb Lärm schlagen wollten über des Bürgermeisters Eigenmächtigkeit und Waghalsigkeit. Sie schämten sich jetzt und hielten sich ganz still oder waren wohl gar unter den ersten, die ihm zuriefen, er habe recht getan und dürfe nicht fürchten, daß sie ihn im Stich lassen. Klaus Engelbrecht schlug auf den Tisch, daß das Tintenfaß aufsprang, und rief: »Was da? Euch den verfluchten Böhmen ausliefern? Waren wir nicht einig, daß der Eid uns abgezwungen sei und brechen müßt' wie ein für den Notfall schlecht zusammengeschweißtes Stück Eisen? Wer von uns hätt' nicht ebenso gehandelt wie Ihr, wenn's an ihn gekommen wäre? Hätt's doch auch gelingen können. Und noch ist nicht aller Tage Abend. Was wir Marienburger von des Königs Regiment zu erwarten haben, wissen wir nun schon. Soll die Stadt nicht in wenigen Jahren ganz verkümmern, so müssen wir wieder unsern Herrn Hochmeister in der Burg sitzen haben. So ist denn jetzt geschehen, was doch nur eine kurze Weile hinzuhalten gewesen wäre. Und so haltet uns nicht für feige Hunde, die hinterm Zaun bellen und mit eingekniffenem Schwanz fortlaufen, wenn ein Stein gegen sie aufgehoben wird. Euch ausliefern? Da sei Gott vor! Für den Rat will ich gutstehen, daß nicht ein einziger Euch nachgibt.«

»Und ich für das Gericht«, sagte der Schöppenmeister.

»Und ich für die Kahnreederzunft«, versicherte Kaspar Reinke. »Wir wollen's schon eine Weile gegen die Bündischen aushalten. Im Winter friert uns ja doch alles Wasser zu; da haben wir nichts zu versäumen.«

»Sind unsre Mauern und Türme noch nicht fest genug, dann wollen wir nachhelfen«, rief Franz Thielen, der Maurermeister.

»Und die Kunst, Geschütz zu gießen, ist nicht so groß«, fügte der Glockengießer Anselm Liebelt hinzu. »Gebt mir Metall, und ich will euch ein Rohr herstellen, das seine Kugel durch die Schloßmauer jagt.«

Nun wuchs auch den Ackerbürgern der Mut. Sie meinten, sie hätten die Ernte gut eingebracht und könnten die Stadt auf ein halbes Jahr versorgen, daß niemand, bei einer Belagerung Not zu leiden brauchte.

Der Schuster-Ältermann Hans Wohlgetan äußerte sich zustimmend: »Da rissen wir uns ja selbst den Absatz vom Stiefel und gingen bald barfuß, wenn wir unsern Herrn Bürgermeister fortschickten!« Und der Schneider Veit Pumpensack stieg auf die Bank und schrie mit seiner dünnen Stimme über die Köpfe der andern hinweg: »Unser Herr Bürgermeister hat eingefädelt, nun wollen wir nähen. Ein Schelm, wer unter den Tisch kriecht.«

»Gebt uns Waffen«, riefen die andern, »gebt uns Waffen! Wir wollen die Stadt wohl verteidigen und lieber in Ehren untergehen, als solche Schmach auf uns laden.«

Sie drängten zum Ratstisch vor und schüttelten Blume die Hand, ermutigten sich gegenseitig mit feurigen Worten und zählten die Meister und Gesellen auf, die jedes Gewerk zur Stadtfahne stellen könnte. Der Bürgermeister war bewegt. »Lieben Freunde und Gevattern«, sagte er, mit der Hand Stille gebietend, »es geht mir wahrlich sehr zu Herzen. Aber bedenkt, was ihr tut. Heut' ist's noch Zeit, euch die Hände in Unschuld zu waschen, morgen nicht mehr. Laßt ihr mich die Schuld nicht allein tragen, so ist jeder von euch mein Mithelfer, und sie wird tausendmal so groß in des Herrn Königs Augen. Ihr habt Weib und Kind zu Hause. Müßt ihr um die nicht mehr sorgen als um euch? Handelt nicht vorschnell – es könnt' euch gereuen.«

Die Bürger wollten sich aber nicht bedeuten lassen. Alle waren sie voll Grimm gegen die Bündischen, daß sie lieber Gut und Leben aufs Spiel setzen, als sich unterwerfen wollten. Da Bartholomäus Blume sie nun auch jetzt so hochgemut sah, wie er sie zu anderer Zeit stets gefunden hatte, nahm er ein altes Schwert von der Wand, hielt mit der Linken den Schwertgriff aufrecht, legte die Schwurfinger der Rechten darauf und rief: »Wohlan denn! So schwöre ich mich zu eurem Hauptmann und will euch in solchem Amt dienen bis zum letzten Blutstropfen – so wahr mir Gott helfe!«

Eine Minute lang herrschte regungsloses Schweigen; jeder wußte, daß Blume halten würde, was er nicht nur mit den Lippen gelobte, jedem von ihnen hatte er sich zugeschworen. Er forderte von den Bürgern keinen Treueschwur, aber es war ihnen allen zumut, als ob auch sie ihm in irgend einer Form die Versicherung geben müßten, daß er sich ebenso auf sie verlassen dürfte. Die beiden Ratmannen, die neben ihm saßen, fanden das Rechte. Blume hatte das alte Schwert auf den Tisch sinken lassen; nun legten sie still rechts und links gleichfalls die Hände auf den Kreuzgriff. Da dies die Schöffen und Älterleute sahen, traten sie unaufgefordert alle zu zweien und dreien heran und wiederholten die feierliche Handlung. Es wurde kein Wort dabei gesprochen, aber ihre Gedanken waren dieselben.

Dann ging man ans Werk, die Stadt gegen das Schloß in bessern Verteidigungszustand zu setzen. Die fernere Beschießung unterblieb, war aber sicher nicht für alle Zeit aufgegeben. So wurden die Bürgerhäuser am Schloßgraben entlang von ihren Bewohnern geräumt und bis unter das Dach mit Steinen und Erde ausgefüllt, so daß sie nun einen festen Wall bildeten, der auch den Kugeln der Donnerbüchsen Widerstand leisten konnte. Davor wurden Erdwerke ausgehoben, hinter denen die Schützen Deckung finden möchten, und dahinter hölzerne Gerüste errichtet, die als Wehrgang von Fenster zu Fenster dienten. In den Schmieden war rege Arbeit Tag und Nacht; da wurden die eisernen Spitzen für die Spieße und Pfeile gehämmert. Aus den Gärten waren die trockenen Hopfen- und Bohnenstangen in die Stadt getragen und zu Schäften hergerichtet. Auch eiserne Brünnen und Sturmhüte wurden geschmiedet. Schwerter und Armbrüste gab die Waffenkammer im Rathause her. Viele von den vornehmeren Bürgern besaßen eigene Rüstung, die in Friedenszeiten dort aufbewahrt war. Die junge Mannschaft wurde in Fähnlein geordnet und unter Rottmeister und Hauptleute gestellt. Sie blieb fortan im Dienst und besetzte mit Zinnenbergs Söldnern gemeinsam die Tore und Türme. Eine Schar stand immer in der Nähe des Walles bereit, einen Ausfall der Schloßleute abzuwehren. So lange die Landstraßen offen blieben, wurde Proviant herangefahren, so viel man in den Dörfern aufbringen konnte. Fässer mit Mehl und Grütze gefüllt, Kisten voll getrockneter Fische und gedörrtem Fleisch lagerten in allen Kellern.

So konnte man abwarten, was der Feind unternehmen werde. Und er war nicht müßig. Im Kulmerlande wurde in den folgenden Wochen und Monaten mit wechselndem Glück gekämpft. Die Bündischen rafften alle Mittel zusammen, ihre Söldner zu befriedigen und zu vermehren, ihre festen Plätze zu stärken. Zinnenberg und dem Spittler gelang es nicht, gegen sie einen entscheidenden Schlag zu führen, so viel Schaden sie ihnen auch taten. Die Danziger aber konnten einen Teil ihres Kriegsvolks in die Marienburg werfen und so das Schloß gegen jeden Angriff eines Ordensheeres ausreichend sichern. König Kasimir aber hatte in schwerstem Zorn gedroht, er wolle es den Eidbrüchigen gedenken, und müßte er seine Krone verpfänden.

Er rüstete auch wirklich noch im Winter sechstausend Mann Reiter und Fußvolk und schickte sie nach Preußen. Einer solchen Heeresmacht war Zinnenberg nicht gewachsen, er mußte das Feld räumen und sich auf Stuhm zurückziehen. Dreitausend Polen verstärkten die Besatzung der Marienburg. Nun fühlte Czerwonka sich kräftig genug, zum Angriff überzugehen. Ungehindert schweiften seine Reiter um die Mauern der Stadt. Tag und Nacht wurde vor ihren Toren und auf dem engen Raum zwischen dem Schloßgraben und den städtischen Schanzen gekämpft. Immer wieder wurde der Sturm auf diese versucht, aber abgeschlagen. Die kleine Besatzung sollte mürbe gemacht und zur Verzweiflung getrieben werden. Der Spittler von Plauen selbst hatte einige Fähnlein glücklich in die Stadt gebracht und führte den Oberbefehl. Der Hauptmann von Trotzler mit seinen Söldnern und Marcus Blume mit der städtischen Mannschaft standen ihm tapfer zur Seite. Ihren unermüdlichen Anstrengungen gelang es denn auch, immer wieder den ergrimmten Feind zurückzutreiben und die Werke zu behaupten. Aber der Streiter wurden immer weniger; viele lagen verwundet im Spittel und in den benachbarten Bürgerhäusern, die zu diesem Zweck von den Bewohnern geräumt waren. Und schon ließ sich die Zeit absehen, in der auch den Mutigsten ermattet der Arm sinken mußte. Plauen erkannte rechtzeitig diese Gefahr, verständigte sich mit dem Bürgermeister, übergab dem wackeren Trotzler den Befehl und verließ die Stadt, ehe sie ganz abgesperrt würde, um zum Hochmeister nach Königsberg zu eilen und ihn zu beschwören, mit aller nur irgend verfügbaren Mannschaft der schwerbedrängten Stadt zu Hilfe zu kommen.

In dieser höchsten Not, als die Lebensmittel schon knapp zu werden anfingen und keine Nacht mehr ruhigen Schlaf brachte, die Söldner schwierig wurden und viele von den Bürgern verzagten, erhielt die Stadt ganz unerwartet Beistand. Von Deutschland her kam eine frische Streitschar von sechshundert Reisigen unter dem Hauptmann Wilhelm Mutscheidler. Ihm schloß sich ein Trupp Fußvolk an, den Jost vom Wege befehligte. Er hatte die Stadt Thorn nicht mehr betreten und außer Landes die unzufriedenen Söldner gesammelt, die den Bündischen den Dienst aufsagten, weil sie nicht gelöhnt wurden. Auch viele von denen, die im Ermland bei ihm gewesen waren und unter seinen Fahnen Beute gemacht hatten, stießen jetzt wieder zu ihm. Es war großer Jubel in der Stadt, als diese Streithaufen einzogen. Sie brachten viele Wagen mit Lebensmitteln mit. Die Bürgerschaft belebte neuer Mut.

Wer der Führer des Fußvolks sei, war nicht bekannt. Er trug eine Helmkappe mit drei Bügeln über dem bärtigen Gesicht, von dem sich wenig sehen ließ. Auch Marcus Blume, der die Torwache kommandierte, erkannte ihn nicht. An jeden andern hätt' er eher gedacht als an Jost vom Wege.

Der fremde Hauptmann wartete ab, bis Mutscheidler mit seinen Leuten untergebracht und der Bürgermeister in sein Haus zurückgekehrt war. Dann ging er ihm dorthin nach.

Im Flur nahm er die Helmkappe ab und ordnete ein wenig sein Haar, nachdem er auch die Lederhandschuhe ausgezogen. Im Zimmer trug eben Frau Christine das einfache Mahl auf, eine Mehlsuppe, in die kleine Stücke schwarzen Brotes gebrockt waren. Magdalene saß am Fenster und schnitt aus alter Leinwand Läppchen und Bandstreifen für die Verwundeten, wie Frau Regina sie darin unterwiesen hatte. Bartholomäus Blume stand hinter ihr und streichelte ihr das blonde Haar. Mutter und Tochter zeigten eingefallene Wangen und auch sonst ein leidendes Aussehen, wie nach anstrengenden Nachtwachen. Der Frau lagerte die Sorge auf der sonst so heiteren Stirn, aber von ihren Augen flog jetzt ein freudiger Glanz, da Blume eben von dem unerwarteten Zuzuge Bericht erstattet und die Hoffnung ausgesprochen hatte, daß nun wieder bessere Zeiten kommen würden. »Der Herr Deutschmeister denkt noch an uns«, hatte er gesagt, »und Herr Ludwig von Erlichshausen wird seine treuen Marienburger nicht verlassen.« Er nahm an, daß das Fußvolk von ihm oder dem Spittler geschickt sei. Den Anführer desselben hatte er auf dem Markt bei der Musterung seiner Leute angetroffen und deshalb nur flüchtig mit einem raschen Dankwort begrüßt.

Auf das bescheidene Klopfen an der Tür rief er ein kräftiges »Herein«. Er war daran gewöhnt, zu jeder Tages- und Nachtstunde heimgesucht zu werden und selten beim Essen Ruhe zu haben. Als der fremde Hauptmann eintrat, fühlte er unter seiner Hand Magdalenens Kopf zurücksinken. Er sah auf und wußte nun, wen er vor sich hatte. »Ihr seid's, Herr Junker –?« sagte er, unwillkürlich vortretend und so Magdalene deckend.

Jost blieb unfern der Tür stehen. »Darf ich mich nach diesem scharfen Marsch bei Euch zu Gast laden, Herr Barthel Blume?« fragte er. »Es bedarf wahrlich keiner Umstände.«

»Aber sagt mir –«, rief der Bürgermeister ganz verwundert und stockte wieder. »Wenn ich mich nicht täusche, sah ich Euch schon vor einer halben Stunde an der Spitze der Landsknechte, die mit den Reitern des Hauptmanns Mutscheidler einzogen. Wenigstens ein Mann in diesen Kleidern mit roter Binde und solchem Helm, wie Ihr ihn in der Hand tragt ...«

»Ihr täuscht Euch nicht«, antwortete Jost lächelnd, »ich führte die Landsknechte in die Stadt.« »So sind es Söldner der Stadt Thorn oder der Bündischen? Welche heimliche Absicht ...«

»Befürchtet nichts, Herr Bürgermeister. Ich selbst habe sie geworben – für Euch geworben, und ich führe sie der Stadt Marienburg zu, der ich meine Dienste anbiete.«

Bei Blume wuchs die Verwirrung. Er glaubte seinen Augen und Ohren nicht mehr trauen zu dürfen. »Aber Ihr seid doch ...«

»Jost vom Wege, der altes Unrecht wieder gut zu machen hat. Ich bin dafür vom Schicksal schwer geschlagen – das wißt Ihr, und auch Ihr, werte Frau, und – auch Ihr, Magdalene ... Von meinem Vater hab' ich mich getrennt, der Stadt Thorn hab' ich den Rücken gekehrt. Ich bin in der Fremde herumgeirrt und meinte nie mehr in mein Vaterland zurückzukehren. Da hatt' ich nun eines Nachts einen gar wunder- und wonnesamen Traum, der mich wohl auf andere Gedanken bringen mußte.«

»Einen Traum –?« fragte Frau Christine, die am Tisch stehengeblieben war.

»Laßt ihn Euch erzählen«, bat Jost. »Es war mir, als läge ich auf freiem Felde unter dem gestirnten Himmel und die Mondsichel tauchte über etwas Dunklem in der Ferne auf. Und da sie nun langsam aufwärts schwebte, wurde es dort heller, und aus dem blauen Nebel hob sich die Marienburg, wie man sie sieht, wenn man von Elbing her kommt – der hohe Turm und der vorspringende Kirchenflügel und vorn an der Mauer das große Muttergottesbild. Es schimmerte in den bunten Farben der Glasstifte, und von der goldenen Krone ging ein Glanz aus, der sich mehr und mehr über die ganze Gestalt und das Jesuskind auf ihrem Arm ausbreitete. Und wundersam! Je aufmerksamer ich hinschaute, desto mehr schien sie sich zu beleben. Sie trat hinaus und glitt wie auf einer Brücke von Mondstrahlen nieder und näherte sich mir langsam, nicht auf dem Boden schreitend, sondern über denselben hingetragen von unsichtbaren Engeln. Als sie nun ganz in meine Nähe gekommen war, öffnete sich ihr lieblicher Mund, und ich hörte sie sagen: Fromme Ritter haben mich einst zu ihrer Schutzpatronin gewählt und mir dieses hohe Haus aufgerichtet. Es ist in der Feinde Gewalt, und auch meine treue Stadt ist bedroht. Sie sind verraten und verkauft. Willst du dich ihrer nicht endlich erbarmen, da du mir doch schon weh genug getan? Geh' zurück zu deinem Vaterlande, umgürte dich mit dem Schwert, sammle Kämpfer für des Deutschen Ordens gutes Recht und tritt in meinen Dienst. So wirst du in deinem Herzen Frieden finden! Ich hatte mich aufgerichtet und war auf die Knie gesunken vor der himmlischen Erscheinung, senkte die Augen und antwortete: Es geschehe nach deinem Willen! Da fühlte ich's wie das Streicheln einer weichen Hand über meinem Haar. Ich blickte dankbar auf und – ich berichte nach der Wahrheit: da stand Magdalene vor mir in all' ihrer Lieblichkeit, beugte sich über mich und flüsterte mit einer Stimme wie Harfenlaut: Komm –! Dir soll vergeben sein. Ich streckte die Arme aus, sie zu umfassen, aber in demselben Augenblick entschwebte schon das holde Traumbild, sich auflösend in wogenden Dunst, und mit einem tiefen Seufzer aus beklommener Brust erwacht' ich. Da war mir's gewiß, daß ich nicht länger zögern dürfte. Noch denselben Tag begab ich mich aus den Heimweg und warb auf allen Straßen, die ich ging, Streiter für Maria. Und so tret' ich nun reuig vor Euch, Magdalene, und frag' Euch: soll mir wirklich vergeben sein um der Mutter Gottes willen, die mich berief? Darf der Traum Wahrheit werden?«

Er war neben Blume hingetreten und streckte ihr die Hand entgegen. Magdalene hatte wie ohnmächtig den Kopf an die Wand gelehnt und die Augen halb geschlossen. Aber sie hörte alles, und es tat ihr unendlich wohl. Sie ergriff seine Hand nicht, aber nach einer kleinen Weile stand sie auf, nahm ihm den Helm ab und legte ihn auf die Fensterbank. Dann ging sie zu ihrer Mutter, schlang die Arme um ihren Hals und sagte: »Das ist gewiß von Gott! Heißt ihn willkommen, Mutter.«

»Er ist willkommen«, sagte Frau Christine. »Setzet Euch zu uns, Junker, wenn Euch unser Mahl nicht zu gering ist. Wir haben traurige Zeit.«

»Aber es soll besser werden!« rief er. »Marienburg wird sich halten und dem Orden das Schloß zurückbringen. Wie ich, irrten viele, von dem Wahn betört, wir könnten unter der Krone Polen die wahre Freiheit gewinnen. Lug und Trug! Schon bricht sich die bessere Erkenntnis überall Bahn. Brüder stehen gegeneinander, Söhne sagen ihren Vätern den Gehorsam auf, Christi Kreuz zu folgen. Furchtbar sind die Opfer, die dieser Krieg fordert. Aber ich hoffe, sie werden nicht vergeblich gebracht sein.« Er wendete sich zu Blume. »Nehmt mich zu Eurem Mitstreiter an!«

»Wie dürft' ich Euch zurückweisen?« antwortete der Bürgermeister. »Verstärkt doch jeder tapfere Arm unsere Hoffnung des Sieges. Und Ihr bringt auch ein tapferes Herz mit, begangenes Unrecht zu sühnen. Macht Euch auf einen harten Kampf gefaßt. Unsere Gegner werden uns nicht schonen, wenn wir unterliegen. Mag es vereinter Kraft gelingen, ihr Rachewerk zu vereiteln. So lang' ich atme, will ich Euch für Euren Beistand dankbar sein.«

Er führte Jost zu Tisch, sprach das Gebet und teilte ein Brot unter viere. Marcus hatte die Woche am Schuhtor und war nicht abkömmlich. Während der Mahlzeit fragte Frau Christine: »Wißt Ihr, daß Eure Mutter noch hier in der Stadt ist?«

»Und Ursula –« setzte Magdalene hinzu.

»Ich wußt' es nicht«, antwortete er ruhig. »Aber es ist mir lieb, sie in der Nähe zu wissen, obschon ich ihnen bessere Sicherheit wünschte, als ihnen eine belagerte Stadt gewähren kann. Meiner Schwester freilich wird's am wohlsten sein in eures Marcus Schutz. Sind sie noch nicht ein glückliches Paar?«

»Wir konnten in diesen Kriegsnöten an Hochzeit nicht denken«, sagte Blume lächelnd. »Marcus selbst hat solchen Wunsch unterdrückt.«

»Das nenn' ich Unrecht«, bemerkte Jost lebhaft. »Worauf will er warten? Wer unter Waffen steht, weiß nicht, ob er morgen noch tun kann, was er heute versäumt. Gerade in der Gefahr müssen die sich fest aneinander binden, die eines Herzens sind. Ursula ist ein tapferes Mädchen, sie wird auch eine tapfere Frau sein.«

Magdalene hörte ihn gern so sprechen und dankte mit einem innigen Blick. Die Erinnerung an Ursula hatte ihn nicht aufgeregt, es schien ihn keine Überwindung mehr zu kosten, sie sich als Marcus' Braut und Frau zu denken. Dies am treffendsten bewies ihr, daß eine Umwandlung mit ihm vorgegangen war, die ihr selbst ein glückliches Ereignis bedeuten durfte. Das freilich gestand sie sich jetzt nicht.

Nach dem Essen ging er ins Spittel, seine Mutter zu besuchen. Er fand sie unter den Kranken, selbst eine Kranke nach ihrem Aussehen, aber unablässig bemüht, Wunden zu heilen und Schmerzen zu lindern. Sie war voll Freude, ihn wiederzusehen. Als er ihr sagte, daß er in der Stadt Dienst trete, für den Orden zu kämpfen, stutzte sie doch. »Und dein Vater –?« fragte sie beklommen.

»Er weiß nicht«, antwortete er, »wozu ich mich entschlossen habe, und erfährt's vielleicht auch nie. Er soll sehr schwach und mitunter wie geistesverwirrt sein, auch sein Zimmer nicht mehr verlassen und niemand sehen wollen als die alte Haushälterin. Um der Stadt Geschäfte kümmert er sich nicht mehr, und den König soll er einen falschen Freund genannt haben, weil er die Danziger vor den Thornern begünstigt und nicht in allem Wort gehalten. So ist mir's mitgeteilt worden. Mich hat er längst verloren. Auch wenn ich nicht hierher gekommen wäre, für seine Sache hätt' ich nie gekämpft. So erleichtert es mich nun, daß er nicht mehr der Bündischen Führer ist, da ich gegen sie die Waffen trage.«

Sie hieß ihn warten, bis sie ihren Rundgang beendet habe, und nahm ihn dann mit in ihr Stübchen. Dort sah er Ursula. Er küßte ihr brüderlich Stirn und Mund, hielt sie mit beiden Händen an den Schultern von sich ab, betrachtete sie mit ruhigem Wohlbehagen und sagte: »Wie anders siehst du mir jetzt aus, Ursula – Schwester! Ja, jetzt bist du meine Schwester. Ich fühl's hier innen auch nicht anders. Es ist wundersam – und doch nicht. Ich war schon bei Magdalene. Und ich schwöre dir's, ich konnte ihr offen ins Auge sehen, und keine Wimper zuckte dabei. Und auch sie ... Still davon. Sie hat mir verziehen. Nun mag über mich kommen, was da will, ich werde frohen Mutes sein bis zum letzten.«

Der Star, der verschüchtert auf den Ofen geflogen war, schrie: »Marcus – Marcus!«, als ob er ihn zu Hilfe rufen wollte.

»Es hat keine Not«, beruhigte ihn Ursula, »er ist ein guter Freund.« Sie nahm Josts Hand. »Horch! Jost – Jost – Jost vom Wege.« Der Vogel plapperte unverständlich. Ursula wendete sich lachend zum Gast. »Es wird nicht lange dauern, so wird er dich mit deinem Namen begrüßen«, sagte sie. »Der Vogel da ... Das ist nun alles, was mich an den Wald erinnert. Wann wird Friede im Land, daß wir wieder in unser stilles Haus einziehen können?«

Mit Marcus wurde das Freundschaftsband bald fester geknüpft als je. Jost fand ihn männlicher, selbstbewußter, sicherer geworden. Wie er seine Mannschaft zusammenhielt, in Waffen übte, zum Kampf führte, bewies er, daß er auch befehlen und für hohe Ziele rücksichtslos seinen Willen durchsetzen könne. Die Eisenhaube, die Brünne und das Schwert an der Seite kleideten ihn gut. In die Feldbinde hatte Ursula ein Vergißmeinnicht eingestickt; er trug sie mit gerechtem Stolz. Schon in den nächsten Tagen hatten beide Gelegenheit, im Kampf nebeneinander ihre Tapferkeit zu beweisen. Ulrich Czerwonka hatte von der Vorburg aus gegen die Stadtmauer ein Erdwerk aufgerichtet und mit Geschütz armiert. Das hatte Oberst Trotzler nicht hindern können. Jetzt, nachdem unerwartet Verstärkung eingetroffen, hielt er die Zeit gekommen, selbst angriffsweise vorzugehen. Er machte nachts einen Ausfall, nahm die Schanze trotz hartnäckiger Verteidigung ein, eroberte das Geschütz und zerstörte die feindlichen Werke. Es floß viel Blut auf beiden Seiten. Jost war zu eifrig den Seinen voraus eingedrungen, vom Wall hinabgesprungen und nahe daran gewesen, gefangen genommen zu werden. Marcus hatte ihn aus einem Haufen Polen herausgeschlagen und eine Wunde davongetragen, die zum Glück nicht gefährlich war. Jost hatte ihm diese Guttat später vergelten können, als der Feind nach der Vorburg zu verfolgt wurde, sich vor der Zugbrücke plötzlich wendete und die Marienburger berannte, die in Unordnung gekommen waren, da ihr Hauptmann wegen seiner Verletzung zurückbleiben mußte. Jost stellte sich an die Spitze, brachte die Wankenden schnell zum Stehen, führte sie wieder vor und warf einen Teil der Polen in den Graben, da der Brückenübergang verstopft war.

Seitdem waren beide unzertrennlich, wenn nicht der Dienst sie da und dort forderte. Sie fanden sich in des Bürgermeisters Haus oder bei Frau Regina im Spittel. Ursula und Magdalene besuchten einander, wenn nicht gerade von der Burg geschossen wurde, was die Straßen allzu unsicher machte. Viele Häuser freilich waren durch Wandöffnungen innen miteinander in Verbindung gesetzt; aber an den Straßenkreuzungen boten die Lauben keinen Schutz. Öfters trafen die Freunde mit den beiden Mädchen zusammen und verplauderten mit ihnen eine frohe Abendstunde. Bei Tage allerdings gab's auch für sie zu tun. Die Söldner mußten gespeist werden. Die Bürgermeisterin hatte mit Frau Engelbrecht und Frau Reinke Küchen eingerichtet, in denen von den Bürgerfrauen und ihren Töchtern für sie gekocht wurde. Die Lebensmittel, soweit sie nicht den einzelnen Haushaltungen durchaus unentbehrlich scheinen durften, waren in städtische Speicher zusammengebracht worden und standen unter des Rats Verschluß. Es mußte gespart werden, denn sie waren trotz der Zufuhr, die Mutscheidler in die Stadt gebracht hatte, sehr knapp.

Wenn Jost mit Marcus allein war, brachte er gern das Gespräch auf Ursula, »Ich verstehe dich nicht«, sagte er ihm. »Du liebst meine Schwester seit langer Zeit, und Ursula ist dir ebenso lange gewogen. Ich stehe nicht mehr zwischen euch. Meine zärtliche Neigung für sie ist nicht gemindert, aber sie ist jetzt anderer Art. Ich möchte sie glücklich wissen und zweifle nicht mehr, daß dies nur durch eine Verbindung fürs Leben mit dir geschehen kann, Lieber. Warum zögerst du, sie endlich zum Altar zu führen? Die Gründe, die dagegen vorgebracht sind, genügen mir nicht. Gibt es andere, zwingendere? Nenne sie. Ich will alle Mühe aufwenden, sie fortzuräumen.«

»Du kannst da nicht helfen«, versicherte Marcus ausweichend.

Jost ließ sich so nicht zum Schweigen bringen. »Wer weiß?« antwortete er. »Ein gutes Wort findet manchmal ein gute Statt. Ist dein Vater dagegen, weil Ursulas Geburt –«

»Das war früher«, fiel Marcus ein. »Ich glaube nicht, daß er sich auch jetzt noch daran stoßen würde.«

»Deine Mutter also?«

»Auch sie nicht. Sie ist herzensgut und liebt Ursula wie ihr eigen Kind.«

»So widerspricht meine Mutter?«

»Nicht mit solcher Entschiedenheit, daß vereinte Bitten nicht durchdringen könnten.«

»Aber was ist's denn?«

Marcus wies ihn durch ein Kopfschütteln ab. Da er aber sah, daß der Freund sich verletzt abwandte und ärgerlich die Lippe biß, legte er den Arm auf seine Schulter, näherte den Mund seinem Ohr und flüsterte: »Ursula selbst will's nicht.«

»Ursula –?«

»So sonderbar es scheint. Sie hat einen Grund, den ich achten muß – einen Grund, der für ihr Gefühl zwingend ist.«

»Und welchen? Sage mir alles, Freund.«

»Du sollst wissen, daß Frau Regina, als damals mein Vater für mich um Ursulas Hand anhielt, mich an den Herrn Hochmeister wies –: er habe das letzte Wort in dieser Sache.«

»Ah! Ich verstehe. Und der Hochmeister –?«

»Schlug meine Bitte rund ab. Ich begreife jetzt, weshalb.«

»Weil Ursula ... Ja, das begreift sich. Er durfte nicht eingestehen –«

»Und mein Vater forderte Aufschluß über das Mädchens Abkunft.«

»Nun aber ist der Schleier gehoben, das Geheimnis kein Geheimnis mehr. Und wenn deine Eltern jetzt nicht Anstoß nehmen –«

»Das ist Ursula selbst nicht genug. Sie weiß, daß der Hochmeister ihr Vater ist. Ihr Vater hat mich abgewiesen. Sie will nicht gegen sein Gebot handeln, nicht ohne seine ausdrückliche Genehmigung –«

»Das also steht im Wege! Dann freilich bist du zu beklagen, armer Freund. Aber Ursula geht da in ihrem Gehorsam zu weit. Sie soll erfahren, daß der Hochmeister kein Recht hat, Einspruch zu tun.«

»Sie weiß es; aber das ändert ihre Entscheidung nicht. Des Vaters Wille ist ihr heilig. Ich darf nicht einmal mit Bitten in sie dringen, meinem heißesten Wunsch nachzugeben. Sie würde glauben, daß wir in unsern Empfindungen nicht mehr so innig übereinstimmen als bisher. Nein! Ich will Geduld haben und es der Zeit überlassen, Wandel zu schaffen.«

Jost beruhigte sich dabei doch nicht. Er sprach mit seiner Mutter und erhielt von ihr die Bestätigung. Er versuchte auf Ursula einzuwirken, aber sie blieb fest. »Schickt Marcus dich zu mir?« fragte sie.

Das verneinte er nachdrücklich.

»So laß uns tun, was wir für das rechte halten«, bat sie. »Hoffentlich kommt die Zeit, den Herrn Hochmeister noch einmal mit Bitte anzugehen. Vielleicht ist er dann gütiger und sieht ein, daß wir zueinander gehören.«

Jost durfte nicht wieder darauf zurückkommen.

Indessen hatte der Orden auch noch von einer anderen Seite unvermutet eine namhafte Unterstützung erhalten. Der Landmeister von Livland konnte sich nicht die Augen verschließen, daß der Orden der Schwertbrüder an der Ostsee gefährdet sei, wenn der Deutsche Orden in Preußen seinen Halt verliere. Auch ihn hinderte nur leider ewige Geldnot, die oft erbetene Hilfe zu bringen. Nun hatte aber der Fall der Marienburg doch tiefen Eindruck auf die Ritterschaft gemacht, die Mahnung des Papstes auf die Prälaten gewirkt, die auch dort der Kirche Anteil am eroberten Land als vollmächtige Herren regierten. Es war ein Heer gerüstet worden und nach Preußen geschickt. Nun raffte sich Ludwig von Erlichshausen, dem es auf dem Schloß zu Königsberg mitunter an dem nötigsten Unterhalt gebrach, so daß die Städte mit den demütigsten Bitten angegangen werden mußten, noch einmal aus seiner Verzweiflung auf. Er reiste von Stadt zu Stadt und von Burg zu Burg, überall die Soldhauptleute anflehend, jetzt ihrer Forderungen nicht zu gedenken, ihre Mannschaften zu vereinigen, dem Spittler zuzuziehen, der sich noch immer mit einer kleinen Kreuzschar im Felde behauptete, und die Marienburg für den Orden zurückzuerobern. Er bewies ihnen und den treuen Bürgern aus Briefen, daß die äußerste Eile geboten sei, da König Kasimir, erst durch den Abfall der Marienburger, dann durch die zähe Verteidigung der Stadt gereizt, seinen ganzen Einfluß beim polnischen Reichstag aufbiete, ein gewaltiges Heer auf die Beine zu bringen, um endlich den Orden aus dem Land zu treiben. Des Reiches Beistand war ihm zugesagt worden und die Rüstung im Gang. Gelang es nicht, sich der Marienburg zu bemächtigen, bevor die Polen einrückten, so war jede Hoffnung verloren. Auch der treuen Stadt konnte dann nicht mehr Entsatz geboten werden.

Viele von den Hauptleuten hatten wirklich durch solche Bitten und Vorstellungen sich bewegen lassen, Versprechungen zu geben und sich mit ihren Heerhaufen in Bewegung zu setzen. Der Hochmeister selbst war, mit geringem Gefolge freilich, bis Marienwerder, nur vier Meilen von Marienburg entfernt, gelangt und hatte dort in dem festen Schloß Wohnung genommen. Das alles war in Marienburg bekanntgeworden und hatte den Mut der Bürger neu belebt. Aber auch in der Burg war man gut unterrichtet. Ulrich Czerwonka erkannte die Gefahr und bot alle Mittel auf, ihr rechtzeitig zu begegnen. Durch täglich erneuerte Angriffe auf die erschöpfte Stadt hielt er die Bürgerschaft in Atem; seine Reiter umstreiften die Mauern und suchten jeden Zuzug abzuschneiden. Doch vermochte er nicht zu hindern, daß unter Deckung der Livländer einige Transportschiffe auf der Weichsel und Nogat ausgerüstet und der Stadt zugeführt wurden. So war der dringendsten Not abgeholfen.

Ursula erfuhr von des Herrn Hochmeisters Reise so viel, als davon in Blumes Haus bekannt wurde. Seit sie wußte, daß er in Marienwerder hofhalte, stieg ihre Unruhe von Tag zu Tag. Endlich eröffnete sie sich Frau Christine und ihrer Mutter, sie wolle zu ihm und einen Fußfall tun, damit er ihre Verbindung mit Marcus genehmige. »Ich weiß wohl«, sagte sie, »daß unser Glück oder Unglück diesem großen Schicksal gegenüber, das den hohen Herrn, seinen Orden und sein Land betroffen hat, gar wenig bedeutet. Aber er ist gütigen Sinnes und müßigt sich vielleicht eine Viertelstunde von der Zeit ab, deren er zur Erholung bedarf, um mich anzuhören. Wer weiß, wie lange es dauert, bis wir beide einander wieder so nahe sind. Die Reise erfordert, wenn ich früh aufbreche, nur einen halben Tag, und in der nächsten Nacht kann ich wieder zurück sein. Sprecht also zu meinen Gunsten.«

Die Frauen brachten's an die Männer. Der Bürgermeister wollte anfangs gar nichts davon wissen. Allerhand Kriegsvolk mache die Straßen unsicher; da müsse ein Fräulein, das auf guten Ruf achtet, sich hüten, über Land zu reiten oder zu fahren. Auch habe der gnädige Herr genug hohe Dinge zu bedenken und dürfe mit solchen privaten Geschäften nicht geplagt werden, die vielleicht sein Gemüt beschwerten. Aber Ursula ließ dieser Gedanke, nachdem sie ihn einmal gefaßt hatte, keine ruhige Stunde mehr. »Nun sieh zu«, sagte sie zu Marcus, »daß du deinen Vater bewegst, mich aus der Stadt zu lassen. Wie gern wär' ich dein! Und ich weiß, der Herr Hochmeister wird mir's nicht abschlagen, wie dir. Er kann mir's gar nicht abschlagen.«

»Aber bedenke die Gefahr«, wendete Marcus ein. »Wenn du den Landsknechten oder gar den Polen in die Hände fielest –«

»Ich will in Bettelkleidern gehen«, unterbrach sie ihn, »und mir das Gesicht schwärzen. Es treibt sich jetzt so viel Elend um, und man läßt's unangefochten, weil von ihm nichts zu nehmen ist.«

»Aber in solchem Aufzuge wird man dich in die Burg nicht einlassen.«

»Dazu hilft mir doch nur des Herrn Hochmeisters Ring, den ich treu bewahre.«

»Ach, liebste Ursula, wenn dir etwas zustieße – lieber wollt' ich auf Erfüllung meiner süßesten Wünsche noch viele Jahre bis nach des Herrn Hochmeisters Tod warten.« Sie schalt ihn kleinmütig. Da er nun merkte, daß sie sich's nicht werde ausreden lassen, erbot er sich, sie zu begleiten. Könne er auch wenig zu ihrem Schutz tun, wenn sie von einem Trupp überfallen würden, so kenne er doch die geheimsten Wege und könne sie gegen Strolche und wegelagerndes Gesindel wohl schützen. Das wollte Ursula aber nicht hören. Da sei Gott vor, erwiderte sie, daß sie ihn so gefährde. Marcus Blume sei den Bündischen ein guter Fang; über den möchten sie jubeln. Ob er denn seinem Vater den Schmerz bereiten wollte, seinen einzigen Sohn in der Feinde Gewalt zu wissen und nicht auslösen zu können? Denn dazu werde kein Lösegeld reichen, wenn er auch all sein Hab und Gut anböte. »Und es kann auch aus anderem Grunde nicht sein«, setzte sie lächelnd hinzu. »Wir sind noch nicht Mann und Weib – dem Herrn Hochmeister aber könnt's so scheinen, und er würde gewiß sehr erzürnt sein, wenn ich dich zu ihm brächte, und mich gar nicht anhören wollen. Und dann ... Wer weiß, ob sich's nicht in Marienwerder verzögert? Wie schickte sich das, wenn wir die Herberge teilten? Nein, steh' ab davon! Was ich für dich tue, muß ich ohne dich tun.«

Marcus sprach sehr besorgt mit Jost darüber. »Ei!« rief dieser in heller Freude, »da kommt mir ein guter Einfall. Allein dürfen wir Ursula nicht ziehen lassen – du darfst sie nicht begleiten. Aber ich bin der Bruder; den darf sie nicht abweisen.«

Marcus fiel ihm um den Hals. »Du wolltest –?«

»Aber nicht mehr wie gern! Und ich kann diesmal vielleicht wirklich bessere Dienste leisten als irgendein anderer. Bin ich nicht Jost vom Wege, Tilemans vom Wege Sohn? Die Bündischen kennen mich, wissen aber schwerlich, daß ich jetzt für den Orden kämpfe. Greifen sie uns auf, so werd' ich geringe Mühe haben, uns die Freiheit wieder zu verschaffen, jedenfalls ein sicheres Geleit nach Thorn erhalten. Dort wär' Ursula geborgen. Nehmen uns aber die Ordensleute gefangen, so müssen sie uns wohl nach Stuhm oder Marienwerder bringen, und dann wird Ursulas Ring uns weiter helfen.«

Dies schien Marcus ein annehmbarer Plan. Jost selbst teilte ihn dem Bürgermeister mit, der zwar mancherlei Bedenken erhob, endlich aber doch zugeben mußte, daß Ursula unter diesem Schutz am sichersten reise. »Wenn's denn so sein soll«, sagte er, »will ich Euch ein Schreiben an den Herrn Hochmeister mitgeben, in dem ich den Boten als treu und zuverlässig empfehle und Seine Gnaden bitte, der armen Stadt bald Hilfe zu bringen. Ihr mögt es auf bloßem Leibe bewahren, wo es schlimmstenfalls den Bündischen verborgen bleibt, und zu Eurer Legitimation benutzen, wenn Ihr unangefochten nach Marienwerder gelangt.

Damit war Jost wohl zufrieden. Nun war nur noch Ursula zu bewegen, seine Begleitung anzunehmen. Sie war rascher gewonnen, als er glaubte. »Das hat dir ein guter Geist eingegeben«, rühmte sie.


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