Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Vierzehntes Kapitel

Der Sohn

Auch heute beendete der Bürgermeister erst sorgfältig alle seine städtischen Geschäfte, bevor er sich auf den Weg machte, sorgfältiger vielleicht noch als sonst – nicht der geringste Rest blieb zurück. Es war eine gute Stunde vor Sonnenuntergang, die Luft warm, der ganze Himmel wolkenlos und im Westen gegen den Horizont hinab von gelbem Dunst überlagert. Er hatte bald die Vorstadt im Rücken. Den Strom hinunter glitten lange Fahrzeuge, tief beladen. Schlaff hingen die großen Segel an den hohen Masten; die Schiffer halfen mit Stangen nach, die überall bald Grund fanden, denn das Wasser war zu dieser Jahreszeit flach, hielten auch von den Sandbänken ab, die mitten im Fluß sichtbar wurden. Stromauf wurden die Kähne getreidelt, trotz des jetzt schwachen Gefälles immer noch eine mühsame Arbeit. Eine Mehrzahl lag schon zur Nacht am Anker fest; zwischen den Weiden unten am Ufer brannten die Feuer, an denen das Abendessen bereitet wurde. Von den Feldern wurden die letzten Wagen abgefahren. Die Knechte auf den Sattelpferden knallten mit den Peitschen, und die Mägde oben auf dem Heu hatten bunte Tücher an ihre Harken gebunden und sie wie Fähnlein aufgerichtet, lachten und sangen. Die nimmermüden Lerchen trillerten hoch in der Luft über dem Wanderer. Es war ein Bild des Friedens, und so nahm es auch Bartholomäus Blume in seine Seele auf.

Wie anders hatte er's schon geschaut! Vor vierzig Jahren, als er noch ein Knabe war ... Da lagerten die Polen und Litauer nach der unglücklichen Tannenberger Schlacht unter König Jagello und Großfürst Witowd hier, hatten die Felder verheert, die Bäume niedergeschlagen, die Höfe abgebrannt. Die Bürger mußten Feuer in die eigene Stadt weisen, die nicht mit Erfolg verteidigt werden konnte, flüchteten mit ihrer fahrenden Habe in die Vorburg, die Heinrich von Plauen ihnen öffnete. Des traurigen Tages konnte er nie vergessen, da er mit seinen Eltern dort einzog, ein Bündel mit Kleidern auf dem Rücken, eine Kuh am Strick führend, und die armen Leute sich durch das enge Tor zwängten, als wäre der Feind schon hinter ihnen, daß er fast erdrückt wurde und doch die Kuh nicht zurücklassen wollte. Schrecklich hatte er hungern müssen während der langen Belagerung. Und als man dann in die Stadt zurückkehrte und auf der großen Brandstätte die Stelle suchte, wo das Haus gestanden ... noch jetzt kamen ihm im Andenken daran die Tränen in die Augen.

Das war nicht der letzte Krieg gewesen. Wiederholt noch hatten die Polen bei ihren Einfällen das Land verwüstet und zu drohen hatten sie niemals aufgehört. Das Weichselland, das ihnen die See öffnete, schien ihnen ein lockender Besitz. Sollte nochmals darum gekämpft werden müssen? Und bei solcher Uneinigkeit im Lande, bei solcher Zwietracht zwischen der Herrschaft und den Untertanen, was konnte diesmal der Ausgang sein? Polen unterworfen zu werden – nichts Schreckhafteres konnte sich Blume vorstellen. Für ihn gab es nur eine mögliche Rettung aus dieser Gefahr: die Stärkung des Deutschen Ordens. Nur so lange der mächtig bestand, war der Friede gesichert. Darum hatte er Hohn und Spott nicht geachtet, als er vom Bunde trat, ein gutes Beispiel des Vertrauens zu geben. Noch verzagte er nicht, daß treue Männer ihm folgen würden. Aber auch wenn er mit wenigen allein bleiben müßte, meinte er seine Pflicht getan zu haben.

Mit solchen Gedanken näherte er sich auf dem Fußstege den Linden. Hinter dem Hause zog sich ein Garten in langem Streifen bis zur halben Höhe des Ufers hinab. Er war von ihm selbst mit Obstbäumen bepflanzt, die jetzt längst schon herrliche Flüchte trugen. An einer geschützten Stelle reifte in manchem Herbst sogar der Wein. Den Zaun entlang erhob sich eine Reihe von Stangen, um die sich der Hopfen rankte. Der Bürgermeister trat durch das Wasserpförtchen ein, so genannt, weil es dem Fluß zunächst lag und von den wassertragenden Mägden benutzt wurde, stieg auf der durch abgepflöckte Brettchen gebildeten Treppe das terrassierte Ufer hinan und näherte sich an der Hopfenwand entlang dem Hause, manchen freundlichen Blick auf die langen Gemüsebeete und die mit Obst gefüllten Körbe werfend, die noch nicht in die Vorratskammer getragen waren. Da sah man, eine wie reiche Ernte dieses Jahr gegeben hatte. Auch für Preußen ein Jubeljahr!

Nicht mehr weit vom Hause drang ihm aus einer Laube von gekappten Linden helles Lachen entgegen. Es waren mehrere Stimmen, die sich dazu vereinten. Die seines Töchterchens erkannte er an dem springenden Aufschlag. Es mußte da etwas sehr Scherzhaftes verhandelt werden. Dicht vor dem Eingange räusperte er sich auffällig, um auf sein Kommen vorzubereiten. Nun wurde es plötzlich ganz still in der Laube. Frau Christine kam ihm entgegen und sagte in höchlicher Verlegenheit: »Bist du's, lieber Mann?« Er küßte sie zur Begrüßung auf die Stirn und blickte sich in der Laube um. Da saßen auf dem einen Bänkchen im Halbdunkel Magdalene und Jost vom Wege, auf dem andern Marcus. Von dem Platz neben ihm war soeben Frau Christine aufgestanden.

»Guten Abend allseits«, sagte der Bürgermeister. »Guten Abend, Junker. Ich erwartete Euch nicht hier zu finden. Aber seid willkommen.« Er reichte ihm die Hand. Jost stand auf und murmelte einige Worte, die ihm nicht verständlich waren. Auch Magdalene war aufgestanden und zu ihrer Mutter getreten. Sie legte den Kopf auf deren Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Es kam ihm so vor, als ob sie sich nicht ins Gesicht sehen lassen wollte. »Was hat denn das Mädel?« fragte er.

»Ach –«, antwortete Frau Christine lächelnd, »es ist ganz närrisch. Wie kann ich schweigen?« Sie nahm seinen Arm und führte ihn auf den Gang hinaus. Magdalene huschte an ihnen vorbei ins Haus hinein oder wenigstens hinter die Hecke, die den kleinen Hof abschloß. Die beiden jungen Männer blieben allein zurück.

»Es hat sich etwas ereignet, Väterchen«, begann Frau Christine, nachdem sie aus dem Hörbereich der Laube gekommen zu sein meinte.

Sie nannte ihn gewöhnlich »Väterchen«, wenn sie etwas an ihn zu bringen hatte, das die Kinder anging. Zumal etwas, das sich ihm einschmeicheln sollte. Denn wenn sie sein strengeres Einschreiten wünschte, so rief sie in weniger mildem Ton den »Vater« an. Er wußte das aus langer Erfahrung und konnte daher auch jetzt ungefähr bemessen, was für ihn in Aussicht stand.

»Ihr seid ja sonderbar verstört«, antwortete er, »als wäre ich Euch recht ungelegen gekommen. Vorher schien's in der Laube doch recht vergnüglich zuzugehen. Der Jost –«

»Ja, das ist's eben.«

»Es hätte mich sonst nicht gewundert, ihn hier zu treffen. Aber seit einiger Zeit ... Du weißt, seit die Stadt Marienburg vom Bunde getreten ist, hat sich manches geändert. Herr Tileman vom Wege glaubt mir noch gütige Rücksicht zu beweisen, wenn er über mich hinwegsieht, als wäre ich Luft, und oft genug spielt's ihm um den Mund, als hätte er große Mühe, ein Spottwort zurückzuhalten. Seinen Sohn aber schickt er von Zeit zu Zeit nach Marienburg, nicht um die alte Freundschaft in Gang zu halten, sondern um auszuforschen, was hier und im Schloß geschieht. Und dazu läßt er sich gebrauchen.«

»Das ist eine Beschuldigung, Väterchen –«

»Ich spreche nicht ins Blaue hinein. Meine Art ist's nicht, mißtrauisch zu sein. Auch versteh ich's wohl, daß Tileman mit mir unzufrieden ist. Denn das Feuer will das Wasser ausdampfen und das Wasser möchte das Feuer löschen; so können die beiden Elemente sich nicht gut miteinander vertragen, nachdem sie einmal zu nahe aneinander gekommen. Aber um den Jost hat mir's doch leid getan, daß der so früh schon in den häßlichen Streit hineingezogen wird. Er hat auch durch sein Benehmen schon gezeigt, wohin er sich in Zukunft zu stellen gedenkt.«

»Du verkennst ihn aber, Väterchen. Es mag sein, daß er eine Zeitlang allzu willig nachgegeben hat. Immer wieder zog es ihn doch zu uns zurück. Ich habe wohl gemerkt, wie es in ihm kämpfte, und eine Weile konnte ich zweifeln, welche Macht den Sieg behalten würde. Nun ist's entschieden. Magdalene –«

Er warf hastig den Kopf auf. »Was ist's mit dem Mädchen?«

»Mein Himmel! Da hätt' ich nicht die Mutter sein müssen ...«

»Du beunruhigst mich, Christine. Sag's ohne Umschweif, was ich hören soll.«

»Nun, ja – ja. Es fordert doch ein wenig Vorbereitung. Jost war schon gestern hier, wenn auch nur auf ein Stündchen, und vorgestern hat er über den Zaun geguckt, als Lenchen gerade auf dem großen Apfelbaum saß und mit einer Stange die Früchte von den obersten Ästen herunterholte, hat sie schalkhaft angerufen und nach Marcus gefragt, daß sie vor Schreck bald hinabgefallen wäre.«

»Aber was ist da zu erschrecken?«

»Das verstehst du nicht, Väterchen. Und kurz – heute hat er sich schon recht früh eingefunden und zur Hilfeleistung bei der Obsternte angeboten, auch ganz freundschaftlich selbst zum Mittag eingeladen. Und während ich dann im Hause zu tun hatte ... na, du kannst dir ja denken, daß ich bei solcher Gelegenheit in der Küche nötig war ... da ist's geschehen.«

»Was – was?«

»Du kannst dir's ja denken – die jungen Leute haben sich miteinander ausgesprochen.«

Er ließ ihren Arm los und blieb stehen. »Der Jost vom Wege –«

»Und Magdalene. Natürlich die beiden. Und dann haben sie mir's gestanden und viele Bitten zugefügt, daß ich's bei dir ...«

Er wiegte den Kopf und kniff die Lippen ein. »Aber, das ist ja eine rechte Tollheit von dem Jungen!«

»Ich hab ihn auch tüchtig ausgescholten«, versicherte Frau Blume, »daß er so voreilig gewesen und seine Werbung nicht erst ordentlich beim Vater des Mädchens angebracht, wie es sich geziemt. Aber zu ändern war's doch nicht mehr. Er sagt, das Herz sei ihm so plötzlich auf die Zunge gekommen –«

»Ja, was so ein verliebter Tor sagt! Und Magdalene hat sich gleich fangen lassen?«

»Sie ist ihm schon vor Jahren gut gewesen. Aber sie hat ihm, wie sich von selbst versteht, auch noch gar nicht das Wort gegeben, sondern gleich gesagt, daß der Vater –«

»Höre, das gefällt mir gar nicht, Alte. Ich glaube nicht, daß der Jost da mit guter Überlegung gehandelt hat. Sondern er hat sich übereilen lassen und wird's nur zu bald bereuen. Die Thorner Patrizier sind stolze Herren. Uns Kleinstädter behandeln sie mit Freundlichkeit, da sie uns zu brauchen meinen; darüber hinaus gelten wir ihnen wenig. Wie käme uns nun solche Ehre? Und wenn's das allein wäre –! Aber Tileman und ich ... Unmöglich! Das arme Kind tut mir leid, wenn es sich das zu Herzen nehmen sollte. Aber wie kann ich ...? Unmöglich – unmöglich.« Frau Christine hatte bemerkt, daß Jost aus der Laube getreten war und sich zögernd näherte. »Mag er denn selbst seine Sache weiterführen«, sagte sie, auf ihn hinweisend. »Ich glaube, er meint es treu. Es ist traurig genug, daß dieser Zwist der Vater, die doch von alters her gute Freunde waren, auch der Kinder Glück zerstören soll.«

»Ja, ja –«, sagte er seufzend, »aber es ist nun so. Gott mag's bessern.« Er wendete sich zu Jost zurück und hielt ihm die Hände entgegen. »Lieber Junker, ich höre soeben, was mich gar sehr besorgt macht –: Ihr begehrt unser Mädel zur Frau.«

»So ist's, lieber Herr«, antwortete Jost zutretend, »und eine bessere Wahl hätte ich nimmer treffen können. Gebt uns Euren Segen.«

»Das tät ich sonst gern«, sagte der Bürgermeister, »denn Ihr seid mir lieb und wert. Ich will auch vertrauen, daß Ihr's jetzt ernst meint –«

»Das ist wahrlich so«, fiel der junge Mann ein, »jetzt und immerdar. Ich will's gestehen, daß ich lange geschwankt habe, ob ich mein Herz sprechen lassen dürfe, wie es mir guten Rat gegeben hat. Denn ob er sicher auch der beste war, so blieb doch viel Zaghaftigkeit zu überwinden, daß ich auch stark genug wäre, alle Bedenken niederzuschlagen, die nicht leicht abzuweisen waren. Ein so junger Fant bin ich nicht mehr, daß ich nicht sähe, wie es die Welt treibt. Aber sonderbar! Je mehr Hindernisse sich mir in den Weg stellten, um so mutiger wurde mein Herz, sich nicht abdrängen zu lassen. Hatt' ich's versucht, ihm zu trotzen, so ward mir's nun jedesmal, wenn ich Magdalene wiedersah, gewisser und beglückender, daß ich zu ihr gehöre und von ihr nicht weichen könne. Und so ist's jetzt auch über allem Zweifel, daß Magdalene mich liebt und nicht aufhören wird mich zu lieben. Widerstrebt deshalb nicht, werter Herr, sondern legt unsere Hände zusammen. Es ist wahrlich so des Himmels gütige Fügung.«

Blume schaute ihm mit recht väterlichem Wohlwollen in die leidenschaftlich blitzenden Augen, wendete sich dann aber seiner Frau zu. »Ihr habt's schon ohne mich abgemacht, wie ich merke«, sagte er, »und ich will deshalb nicht schelten. Wird's doch Kümmernis genug geben, wenn von anderer Seite Einspruch erfolgt. Ich sehe ihn voraus, und ich weiß auch, daß er nicht so leicht zu brechen ist, wie die Liebenden in ihrer Hoffnungsseligkeit jetzt denken mögen. Wenn ich einwillige, das bedeutet noch wenig. Euer Vater wird nicht einwilligen, Jost. Vielleicht wär's auch sonst nicht geschehen, da sein Stolz für den einzigen Sohn und Erben eine andere Verbindung sucht. Nun spricht das nicht allein. Aus einem Freunde bin ich ihm ein verhaßter Gegner geworden. Und das wissen alle seine Genossen in der Eidechsengesellschaft und im Bunde. Wie könnte er da solche Gevatterschaft eingehen? Nie wird er unsere Magdalene als seine Tochter annehmen.«

Jost biß die Lippe. Seine Blicke irrten unruhig am Boden umher. Er schien betroffen durch dieses gerade Wort, das eine gerade Antwort forderte, und wußte doch offenbar nicht, wie er sie geben sollte, ohne unaufrichtig zu sein. »Mein Vater ...«, murmelte er, »ja, Ihr kennt Ihn wohl – aber doch nicht so gut als ich. Ich meint's auch nicht anders, als daß er dagegen sein wird – sehr dagegen; die Gründe liegen obenauf. Aber ... so ein Eisenkopf er ist, am Ende zwing ich ihn doch. Denn ich bin sein Sohn und einziges Kind – er hat ein Herz für mich und will mein Glück. Freilich wie er's versteht. Aber er wird sich überzeugen lassen, daß da jeder mit eigenen Augen sehen muß und die meinigen ganz gesund sind. Was kann er denn auch gegen Magdalene einzuwenden haben? Sie ist so gut und brav als schön. Gibt's reichere und vornehmere Mädchen – von denen mag er sich wohl eine zur Schwiegertochter wünschen. Aber glaubt mir, darauf besteht er nicht.«

»Es freut mich, daß Ihr hierin so zuversichtlich seid«, sagte Blume, doch nicht ganz frei. »Aber wenn diese Bedenken auch nicht unüberwindlich sein mögen, die anderen wiegen um so schwerer. Ihr habt die Zeit für Eure Werbung nicht gut gewählt, lieber Junker.«

»Die Zeit ist nicht die Ewigkeit. In kurzem können sich die Dinge gar sehr geändert haben.«

»Doch nach Menschendenken nur zum Schlimmeren. Glaubt dem älteren und erfahreneren Manne.«

»Und wenn mein Vater sich gegen alle freundlichen Vorstellungen verhärtet, kann er mich zu seinem Willen zwingen? Bin ich nicht frei geboren wie er selbst? Verpflichtet mich der kindliche Gehorsam zu denken und zu fühlen wie er? Mag er seine Einwilligung weigern, ich werde nicht aufhören, Magdalene zu lieben. Und wenn Ihr mich würdig erachtet –«

»Nein, nein! so sprecht nicht, lieber Junker«, fiel der Alte ihm in die Rede. »Das sind trotzige Worte, auf die Ihr selbst nicht einmal Verlaß haben dürft. Euren Vater sollt Ihr in Ehren halten, er sei mild oder strenge. Wie könntet Ihr gegen seinen Willen etwas tun, das den Familienstand anrührt? Er ist Euer Herr nach göttlichem und menschlichem Recht. Solang er lebt, seid Ihr in Abhängigkeit von ihm, und würdet Ihr selbst alt und grau. Darum rat' ich Euch in treuer Meinung, legt Euch keine Pflicht auf, die Ihr doch nicht erfüllen könnt. Noch seid Ihr nicht gebunden; und ob es schon schmerzen mag, sich von dem loszureißen, was man im Augenblick als das Liebste erkennt, noch ist die Wunde heilbar. Denkt auch nicht daran, daß Ihr meinem Mädel wehe tut. Das geht, so Gott will, vorüber. Ich selbst will Eure Sache bei Magdalene führen, und einen besseren Anwalt sollt Ihr nicht finden.«

»Nimmermehr«, rief Jost, »tret' ich so feige zurück. Nimmermehr! Ich bin gebunden und will gebunden sein. Laßt Euch erbitten –«

»Wohl denn«, sagte der Bürgermeister seufzend, »ich merke, daß ich Euch doch nicht überrede. Vernehmet denn meinen ernsten Willen. Meiner Zustimmung versichere ich Euch gern – aber unter einer unverbrüchlichen Bedingung, daß auch Euer Vater das Verlöbnis genehmigt! Sprecht mit ihm und seht zu, ob Ihr seine Vollmacht erlangt. Ich will Euch keine kurze Frist setzen; Euer gutes Vertrauen, daß die Zeit glücklichen Wandel bringt, mag nicht zuschanden werden. Vielleicht, daß Ihr durch Beharrlichkeit siegt. Ein volles Jahr will ich Euch lassen –«

»Oh, was denkt Ihr –?« fiel Jost ganz entsetzt ein. »In wenigen Tagen muß es sich entscheiden –«

»Um so besser, lieber Junker. Gleichwohl laß' ich Euch von meinetwegen ein volles Jahr und will nicht früher verlangen, daß Magdalene mir gehorsam sei, wenn ein anderer um sie wirbt, der ihre Achtung verdient. Ein volles Jahr mag sie sich für gebunden halten, wenn Ihr selbst nicht früher sie frei gebt. Ich meine wohl, auf ihre Treue dürft Ihr Euch verlassen. Aber merkt Euch auch dies: es soll ihrem Herzen nicht Gewalt geschehen. Haltet Euch fern von meinem Hause, bis Ihr Eures Vaters Einwilligung bringt, und versuchet auch nicht, ihr zu schreiben und sie zu einer Antwort zu verleiten. Keine Heimlichkeit darf zwischen Euch beiden bestehen, als von der die Eltern wissen. Wollt Ihr mir das in Ehren versprechen?«

Jost blickte finster vor sich hin. »Ihr verlangt viel...« sagte er.

»Aber nicht mehr, als ich muß, wenn ich ehrlich gegen mein Kind verfahren will.«

»So sei es denn. Ich hoffe, Eure Sorge ist ganz umsonst.«

»Daran will ich meine ehrliche Freude haben«, schloß der Bürgermeister und hielt ihm die Hand hin. »Bist du zufrieden, Christine?« wendete er sich zu seiner Frau, die ein paar Schritte seitwärtsstehend mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte.

»Ich denke, eine bessere Zusage hat auch der Junker nicht erwarten können«, antwortete sie. »Es versteht sich ja eigentlich von selbst, daß des Vaters Einwilligung gefordert wird.«

»So gib's unserm Mädel zu wissen«, sagte er, ihre Schulter streichelnd, »und bereite uns das Abendessen. Ihr seid freundlich eingeladen, lieber Junker – heut' möcht' ich Euch nicht ungastlich entlassen. Aber Ihr versprecht mir, Euch danach zu verabschieden gerade wie sonst. Wir wissen, was wir wissen – das muß nun allen Teilen genug sein.«

Der Tisch war auf dem Podest hinter dem Hause gedeckt. Es wurde saure Milch, Schwarzbrot und Butter, zuletzt Obst aufgetragen. Es ging beim Essen sehr still zu. Magdalene wagte kaum von ihrem Schüsselchen aufzusehen, war mit ihren bald freudigen, bald trüben Gedanken beschäftigt und wechselte häufig ohne äußeren Anlaß die Farbe. Jost, der zwar neben ihr saß, sich jedoch keinerlei Vertraulichkeit erlauben durfte, gab zerstreute Antworten, wenn der Hausherr ihn ins Gespräch zu ziehen versuchte. Marcus und die Mutter tauschten wirtschaftliche Beobachtungen aus, um die Unterhaltung zeitweise nicht ganz stocken zu lassen. Als dann das Gebet gesprochen war, sagte Jost allen Lebewohl und ging. Sie geleiteten ihn bis zur Pforte. Er wollte Wort halten und Magdalene nicht beunruhigen. Aber sie selbst hielt sich nun an seiner Seite und lehnte die Schulter an. Er sollte doch aus diesem letzten Gange wissen, daß sie ihm gut sei. Nun meinte er auch ihre Hand fassen zu dürfen, die neben der seinen hinabhing, und er drückte sie zärtlich und hielt sie fest bis zum Abschied; die Alten sahen es wohl, ließen es aber geschehen. »Ich bringe bald frohe Nachricht«, sagte er schon über den Zaun hin.

»Geb's Gott!« antwortete Blume.

Magdalene nickte ihm schweigend zu. Sie wischte eine Träne von der Wange fort.

Er eilte der Stadt zu, glücklich und doch unfroh. Der Tag war so schön gewesen, aber er gehörte doch auch zu denen, die man nicht vor dem Abend loben soll. Er hatte sich von seiner plötzlich wiedererwachten Leidenschaft völlig berauschen lassen; nun war die Ernüchterung nicht ausgeblieben. Er fühlte sich verstimmt und hätte doch nicht sagen können, was er eigentlich vermißte. Er mühte sich, alle seine Gedanken Magdalene zuzuwenden, und hörte doch immer ihren Vater sprechen. Nur zu sehr hatte der recht: zum Verlöbnis war seines Vaters Einwilligung erforderlich. Und daß er die erhielte ... je mehr er's überlegte, um so unwahrscheinlicher wurde es ihm. Wie sollte er's nur am geschicktesten an ihn bringen?

Aber doch ... er mußte nun weiter. Und mit ganzer Willenskraft. Er wollte auch. Jetzt erst glaubte er Magdalene in ihrer Holdseligkeit völlig erkannt zu haben, jetzt erst zu wissen, wie schön sie sei. So hatten diese lieben Augen ihn nie angesehen, so ihre roten Lippen nie seinen Namen genannt. Er liebte sie – gewiß, er liebte sie. Und sie mußte die seine werden, sollte er auch den schwersten Kampf um sie zu bestehen haben; seinem Vater das Jawort mit Gewalt entreißen! Er malte sich's lebhaft aus, wie er fest entschlossen vor ihn treten, was er zu ihm sprechen würde. Und immer kühner wurden seine Reden, immer dringlicher seine Forderungen. Zuletzt hantierte er mit den Armen und sprach kurze Sätze laut vor sich hin. Der Torwächter, der ihn einließ, sah ihm kopfschüttelnd nach.

Marcus und Magdalene waren längst in ihre Kammern zur Ruhe gegangen. Bartholomäus Blume und Frau Christine aber wandelten den Gartengang auf und ab in eifrigem Gespräch. Erst über das eben Erlebte, zu dem sichere Stellung zu nehmen war. Daran anschließend teilte er ihr dann mit, was der Herr Hochmeister ihm überraschend angetragen. Es wirkte jetzt viel weniger aufregend, als er vermutet hatte, und so konnte er denn, durch ihren Widerspruch nicht gereizt, ruhig seine eigenen Bedenken klarlegen und abwarten, wie schwer sie dieselben nähme. Sie stimmte ihm nun wohl im allgemeinen zu, fand aber im besonderen doch immer gute Gründe, aus denen sich »bei genauer Erwägung« die Sache auch von einer anderen Seite anschauen lasse. Und so war sie's denn schließlich, die zuredete. Es sei doch ein großer Beweis des Vertrauens, den der gnädige Herr ihnen gebe – und man könne sich ja einfach an seine Worte halten, ohne zu ergrübeln, was etwa sonst dahinter stecke – und es sei gewiß klug, sich gerade jetzt einem mächtigen Gönner zu verbinden, zumal es durch eine Wohltat geschehe, die niemand würde schelten können. Magdalene habe auch das Mädchen gleich in's Herz geschlossen. »Und ist nicht zu bedenken, daß unser Kind vielleicht einem bösen Winter entgegensieht, wenn Jost nicht so bald, als er hofft, seines Vaters Einwilligung erreicht, oder gar ... doch ans Schlimmste will ich nicht denken. Da mag ihr eine Schwester lieb werden, die ihr die Grillen vertreiben hilft, und der sie ihr Herz ausschütten kann, mag es voll Freude oder Bekümmernis sein. Wir wollen doch noch überlegen, Väterchen, ob wir's dem Herrn Hochmeister so rund abschlagen.«

»Wir wollen's noch überlegen«, stimmte er zu. Er wußte nun schon, was schließlich das Ergebnis sein werde.

Der graue Dunst im Westen hatte sich verdichtet und hoch über den halben Abendhimmel hinaufgezogen. Er senkte sich in Nebeln, die gegen das Flußufer anstießen und bald die nächsten Gegenstände verhüllten. Ein kühler Wind erhob sich und trieb die feuchten Massen über den Garten hin. »Ich fürchte, das Wetter schlägt um«, sagte der Bürgermeister, »komm ins Haus, mich fröstelt's schon.«

»Es ist auch ohnedies die höchste Zeit«, meinte Frau Christine, stellte noch eine Harke, die im Grase liegengeblieben war, aufrecht an den Baum und folgte ihm.


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