Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Fünftes Kapitel

Mutter und Sohn

Das Bundesheer brach von Bischofstein auf und setzte seinen Marsch nach den befestigten Grenzorten des Ermlandes fort. Es fand nirgends ernsthaften Widerstand. Trotzdem geriet manches Dorf dort in Brand und wurde manches kleine Landstädtchen ausgeplündert. Die Schlösser erhielten Besatzungen, nachdem des Bischofs Leute ausgetrieben waren. Die meisten wurden gefangengenommen, einige entkamen nach Heilsberg und berichteten dem Vogt, daß alles verloren sei.

Dorthin führte nun wieder auf Umwegen Jost den Kern seines Heerhaufens. Er verstärkte die Mannschaft in der Stadt und legte sich selbst vor die Vorburg, dem Schloß jede Verbindung mit dem Lande abschneidend. Von einer Schanze aus ließ er das Geschütz spielen. Tat er den Mauern damit wenig Schaden, so beunruhigte er doch fortwährend die schwache Besatzung. Sie mußte bald müde werden.

Im Waldhause blieb man indessen in großer Sorge. Von den nach Heilsberg Flüchtenden erfuhren die Frauen, wohin die Kriegsfurie sich wendete und daß die Söldner des Ordens ihr nicht Einhalt zu tun wagten. Ursula selbst dachte an Flucht. Aber wo ein sicheres Obdach finden, da ja sogar die Burgen keinen Schutz boten? Auf ihrem schnellen Pferde die Grenze zu gewinnen, hätte ihr freilich leicht gelingen können. Doch wie die Mutter ungefährdet durchbringen? Und Frau Regina hatte auch nicht einmal Neigung, ihre Hütte im Stich zu lassen und für ihre Person Sicherheit zu suchen. Sie befand sich wie in einem Traumzustande. So schweigsam, so verschlossen, so abgekehrt von der ganzen Außenwelt hatte Ursula sie lange nicht gesehen, als seit des Hauptmanns Besuch. Sie schien sein Wiederkommen bestimmt zu erwarten, aber die Beängstigung darüber hatte offenbar noch einen anderen, doch ganz unfaßlichen Grund, als daß Ursula durch ihn eine Kränkung erfahren könnte.

Nach kurzer Zeit schon wäre es ihnen gar nicht mehr möglich gewesen, sich zu entfernen. Jost vom Wege mochte eine solche Absicht geargwöhnt haben, denn auf seinen Befehl geschah es, daß eines Tages eine Rotte von seinen Söldnern vor dem Waldhause erschien und sich zu längerem Bleiben einrichtete. Der Anführer meldete Frau Regina, daß der Hauptmann befürchte, es könne ihr von verlaufenem Kriegsvolk leicht ein Schade zugefügt werden, weshalb er beauftragt sein, Haus und Hof zu bewachen. Er ließ auch merken, daß er die Entfernung der Insassen nicht dulden werde, die unter seinem Schutz ganz sicher seien, auf der Landstraße aber jetzt überall Gefahr laufen könnten. Er baute nicht weit vom Hoftor ein paar Laubhütten und aus Steinen einen Kochherd. Von dieser Lagerstelle aus konnte er unschwer beobachten, was im Hause vorging. Einer von seinen Leuten umstrich stets mit dem langen Spieß auf der Schulter den Graben und Zaun.

Ursula sprach sich über diese versteckte »Gefangennahme« sehr ungehalten aus. Wäre es nach ihrem Willen gegangen, so hätte nun der offene Versuch gemacht werden müssen, das Haus zu verlassen, schon um festzustellen, daß man wirklich gefangen sei. Frau Regina ging jedoch auf ihr Schelten nicht ein und sprach auch jetzt gegen den Hauptmann kein unfreundliches Wort. Wie betäubt durch eine unsichtbare Einwirkung, schien sie die Fähigkeit verloren zu haben, einen Entschluß zu fassen. Sie war krank und fand für sich selbst kein Heilmittel.

Ein paar Wochen vergingen so. Die Waldwege waren von den warmen Sonnenstrahlen völlig getrocknet, die Bäume mit dichtem Laub bekleidet; von allen Zweigen sangen die Vögel. Nur die Eichen hatten sich nach ihrer Gewohnheit lange besonnen, ob sie dem schönen Frühlingswetter schon trauen sollten, und vorsichtig ihre Knospen erst wenig geöffnet. Es war dies die Zeit, in der Ursula sonst am liebsten durch den Wald schweifte, alle die vertrauten Plätzchen aufzusuchen und die heimgekehrten Sänger zu begrüßen. Jetzt kam sie sich vor wie ein in den Käfig eingesperrtes Vöglein. Sie wäre so gern ausgeflogen – weit, weit über Wald und Feld, Hügel und Tal, über Dorf und Stadt bis Marienburg, nach dem einen zu schauen, an dem ihr Herz hing.

Sobald Jost vom Wege mit seinem Heerhaufen nach Heilsberg zurückgekehrt war, ließ er sich auch wieder im Waldhaus blicken. Die Frauen sollten ihm dankbar sein für seine Obsorge. Aber Ursula sagte ihm's gerade ins Gesicht, daß sie deren Grund wohl erkenne und sich der Freiheit beraubt fühle. Seine Bemühungen, ihre Neigung zu gewinnen, wurden von Tag zu Tag leidenschaftlicher und dreister. Er umfaßte sie und wollte sie nötigen, sich seine Küsse gefallen zu lassen; aus seinen Blicken leuchtete ein verzehrendes Feuer, das sie erschrecken mußte. Er sprach es schon deutlich aus, daß er sie besitzen müsse, und wenn er dafür dem Teufel seine Seele verschreiben solle; nicht ohne sie werde er von Heilsberg abziehen, das ihm durch ihre Eroberung erst wahrhaftig ein Berg des Heils werden müsse.

In einer Nacht stand Ursula auf, nachdem sie bis dahin nicht geschlafen hatte, sattelte ihren Gotländer, führte ihn leise vom Hof, schwang sich auf und jagte davon. Aber sie war von der Wache bemerkt worden, wurde von den Reitern verfolgt, die der Hauptmann am Abend zuvor ohne ihr Wissen zurückgelassen hatte, bald eingeholt und gezwungen, die Flucht aufzugeben.

In derselben Nacht war das Schloß Heilsberg beschossen, die Vorburg gestürmt; der Vogt hatte sich ergeben. Der Zweck des Kriegszuges war erreicht. Als Jost von Ursulas Fluchtversuch erfuhr, sprengte er sofort, obgleich er die Nacht kein Auge geschlossen hatte, nach dem Waldhause. In seinem Siegerstolz fühlte er sich berechtigt, auch hier seine letzte Forderung zu stellen. »Ich höre«, sagte er mit einem Anflug von Spott, »daß Ihr diese Nacht einen Ritt in den Wald gemacht habt, mein schönes Fräulein. Warum bei Nacht? Gestern bei Tage hätt' ich Euch so gern begleitet. Das lehntet Ihr eigensinnig ab. Ei! Wär's Euch am Ende darum zu tun gewesen, gar nicht mehr wiederzukehren? Ihr seht, meine Reiter sind wachsam und flink. Aber was dachtet Ihr Euch denn? Wenn Ihr ihnen entschlüpft wäret, meint Ihr, ich hätt' Euch ziehen lassen? Überallhin wär' ich Euch gefolgt, und es hätt' Euch nicht gelingen können, Euch vor mir zu verbergen. Mit solchem Goldhaar kommt man nicht weit, ohne der Leute Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eure Spur wär' bald aufgefunden gewesen, und bis in die unwirtlichen Länder der Litauer und Russen hätt' ich sie verfolgt, wenn Euer Unstern Euch dahin verleitete. Gottlob! Euch sind die Fährlichkeiten einer solchen Reise erspart. Rüstet Euch nun aber zu einer anderen, die nicht so bedrohlich ist. Ich kehre morgen nach Thorn zurück; mein Auftrag hier ist erledigt. Ich will nicht vom Waldhaus scheiden, ohne auch hier der Sieger geblieben zu sein. Ihr sollt wissen, daß Ihr mir angehört mit Banden, die unzerreißbar sind. Wollt' ich selbst sie lösen, ich könnt' es nicht, oder es wär' mein Tod. Eher schnitt ich mir das eigene Herz aus der Brust, als daß ich von Euch mich trennen müßte! Deshalb nehm' ich Euch mit mir. Fügt Euch willig diesem Spruch, und Ihr sollt gehalten sein wie eine Königin!«

Ursula riß sich los von ihm, flüchtete zu ihrer Mutter, sank vor ihr nieder und verbarg das Gesicht in ihrem Schoß. »Mutter, Mutter –!« rief sie, »schützt mich vor diesem Schrecklichen!«

Frau Regina streichelte mit der schmalen weißen Hand ihr Haar. »Fürchte dich nicht«, sagte sie, »der Herr Hauptmann meint's nicht ernst. Er will dich strafen für das nächtliche Wagnis und spiegelt dir nun so ein Schreckbild vor. Wie sollt' er's übers Herz bringen können, dich von mir zu reißen, deiner Mutter? Er ist edel und keiner Gewalttat gegen eine arme Witwe und Waise fähig. Was könnt' es ihm auch nützen, dich zu ihm zu zwingen, wenn doch dein Herz ihm abstrebt? Das war meine Beruhigung alle die Zeit. Ich bitt' Euch, Herr Hauptmann, nehmt es als eine ernste Weisung des Himmels, abzulassen von dem, was Euch versagt sein muß. Muß! Glaubt meinem Wort –: muß. Nehmt Abschied von uns in Frieden und laßt uns ein reines Andenken an Euch zurück.«

Jost lachte hell auf. »Ihr irrt, Frau, Ihr irrt doppelt und dreifach und in allem, was Ihr da als Eure Meinung zu erkennen gebt. Es ist mir Ernst mit der Reise, zu der ich Ursula einlade. Und doch ist nichts Schreckhaftes dabei. Bin ich so häßlich und widerwärtig, daß sie sich vor mir entsetzen müßte? Hab' ich ihr nichts zu bieten für ihre Zärtlichkeit? Freilich! Wenn sie nicht gutwillig folgt, muß ich sie von Euch reißen. Denn wie mit einem schüchternen Knaben soll sie nicht spielen dürfen; des Himmels Weisung aber kenn' ich besser. Sie hat sich mir offenbart in Nächten voll schlafloser Sehnsucht –; da ist dein Glück. Wähnet mich nicht umzustimmen mit Euren Klagen der Verlassenheit. Ist's Euch doch damals nicht so gar schwer geworden, Euch von Ursula zu trennen, als sie Gast sein sollte in Blumes Haus zu Marienburg. Und daß sie Euch Marcus für alle Zeit entführe, schien Euch nicht furchtbar. Steh' ich zurück in Eurer Schätzung, Frau? Bei dem Sohne Tilemans vom Wege dürft Ihr Euer Kind gut aufgehoben halten, auch wenn der Pfaffe nicht seinen Segen spricht. Und darum – sagt Ursula Lebewohl. Meine Reiter warten schon draußen, die ihr das Gefolge geben sollen wie einer Fürstin. Ich bitt' Euch, schönste Herrin, erhebt Euch und nehmt meinen Arm.«

Er faßte Ursula an. Sie schrie auf. Ihrer Mutter schien nun doch ernstlich bange zu werden. Sie schleuderte des Junkers Hand zurück und sah ihn aus den tiefliegenden, gespensterhaften Augen streng an. »Weichet!« sagte sie mit dem Ton eines Geisterbeschwörers. »Noch ist Euer Gewissen rein – ich darf nicht zulassen, daß es sich mit unsühnlicher Schuld belade.«

Aber über Jost hatten alle Dämonen der Leidenschaft schon Gewalt. Er hörte auf ihre Beschwörungen so wenig als vorhin auf ihre freundlichen Vorstellungen. Er zog mit Gewalt Ursula an seine Brust und war bemüht, sie zur Tür zu schleppen, da sie sich mit aller Kraft widersetzte. Bald mußte sie ermatten, zu ungleich war der Kampf. Da war's, als ob Frau Regina von einer unsichtbaren Hand in die Höhe gerissen und geschüttelt würde. Der Kopf schwankte auf den Schultern, die Finger griffen in die Luft wie nach einem Halt, ächzende Laute drangen aus ihrer Brust über die bebenden Lippen. »So rettet denn nichts, als die Wahrheit«, jammerte sie. »Laßt ab – laßt ab! und hört mich an. Ich will Euch ein Geheimnis enthüllen, das Euch vor einem furchtbaren Verbrechen bewahren soll. Hört mich an, eine Unglückliche, eine Schuldige. Ich bin ... O mein Gott, mein Gott!«

Sie warf die Hände vor das Gesicht und wühlte ihr weißes Haar auf. Jost blieb nicht unerschüttert von diesem Ausbruch tiefsten Schmerzes. Er ließ Ursula aus seinem Arm gleiten und hielt nur ihre Hand fest, daß sie ihm nicht entrinne. Den Kopf zurückwendend zu der Leidensgestalt, fragte er: »Warum verlängert Ihr Ursula die Pein? Was soll's mit Eurem Geheimnis?«

»Jost –«, rief Regina mit hinsterbender Stimme, »ich bin – ich bin deine Mutter!«

Sie sank in die Knie und hob flehend die Hände. Aus ihren eben noch so starren Augen stürzten die Tränen. Sie sah zu ihm auf mit einem Blick voll unendlicher Liebe und stammelte: »Vergib, vergib – ich bin deine Mutter!«

Der Eindruck, den ihre Worte auf Jost machten, äußerte sich zuerst in einem erschreckten Zurückweichen, wie man sich vor einem Wahnsinnigen entsetzt, der plötzlich von einem Anfall gepackt wird. Die Zumutung, einer solchen Aussage zu glauben, war so ungeheuerlich, daß er nur im Zweifel sein konnte, ob er an eine plötzliche Zerrüttung ihres Verstandes oder an ein gewissenloses Spiel glauben solle. Aber aus diesen Augen blickte nicht der Wahnsinn und nicht die Verstellung. Noch mehr wurde er verwirrt, als Ursula mit gewiß ungeheucheltem Entsetzen aufschrie: »Seine Mutter –? Nein, nein! Meine, meine Mutter!«

»Seine und deine Mutter«, sagte Frau Regina sanft und wiederholte die Worte, da sie nun beide offenbar ganz ratlos sah, wie sie sich zu dieser wundersamen Eröffnung stellen sollten.

Endlich faßte sich Jost und sprach, als ob er die Waldfrau einer Entgegnung gar nicht würdigen mochte, vor sich hin: »Meine Mutter ist seit langen Jahren tot – es hat ein jeder nur die eine.«

»Ich wollte, sie wäre tot und begraben und in der Erde bereits längst zu Asche zerfallen«, hauchte Regina. »Aber sie lebt zu ihrem Unglück, und ihr schwerstes Leid soll nun dies sein, daß sie sich dem Sohn zu erkennen geben muß, um ihn vor einer furchtbaren Schuld und ihr anderes Kind vor dem Verderben durch seine blinde Leidenschaft zu bewahren. Du bist getäuscht, Jost – oh, wie oft haben meine reinen Lippen selig deinen Namen genannt –! Du bist getäuscht–«

»Mein eigener Vater –«, warf er ungläubig und vorwurfsvoll ein.

»Durch deinen Vater bist du getäuscht. Er wollte, daß ich tot sei, und er ... mußte es wollen. Ich klage ihn nicht an – mich nur, mich. Er glaubte vielleicht auch, was er wünschte, aber Gewißheit hatte er nicht. Und ich lebe, ich stehe vor dir – deine Mutter.«

»Und Ursula wäre – meine Schwester?«

»Sie ist mein Kind, wie du mein Kind bist.«

»Das soll heißen ...« Er zog die Schulter auf und bewegte die Hand abweisend. »Ich merke. Erzählt Eure Märchen andern, Frau; mir kommen sie lächerlich vor, da sie sich gar zu ernst nehmen.«

»O mein Gott!« rief Frau Regina, die Hände ringend, »woher nehme ich die Kraft und das Rüstzeug der Wahrheit, diesen Ungläubigen zu überzeugen? Ich muß es wohl einsehen, daß es von Euch zu viel gefordert ist, lieber Junker, Ihr sollet mir in einer so wichtigen und das tiefste Gemüt berührenden Sache aufs Wort Glauben schenken. Waret Ihr doch erst ein Kind von wenigen Jahren, als Euch die Mutter genommen wurde – wie solltet Ihr Euch ihrer erinnern nach den Zügen ihres Gesichts oder dem Klang ihrer Stimme? Ist mir selbst doch mein Sohn ganz fremd geworden, daß ich ihn nicht hätte aus andern herausfinden können und sagen: Dieser ist's! Da ich aber von Ursula erfuhr, Ihr seiet Tilemans Sohn, meint' ich freilich in Euren Augen und um Euren Mund etwas zu finden, das mich an das liebe Knäblein mahnte, dem ich auf meinem Schoß so oft das Schlummerlied gesungen. Darum vermochte sie mich auch nicht gegen Euch zu erzürnen, daß Ihr sie mit Euren Anträgen bedrängtet und peinigtet. Denn Ihr wäret mir schon gar liebgeworden, und ich bedachte auch, der Himmel könne es so gewollt haben, daß der Bruder unwissentlich die Schwester herausfände und in sein Herz aufnähme zu anderem Bündnis freilich, als er gemeint.«

Jost wehrte sich mit allem Trotz gegen den Druck, den diese Reden auf sein Gemüt üben wollten. Aber es war etwas darin, das sich nicht überhören und fortspotten ließ. Er begriff sich selbst nicht, wie es ihn nun doch so eigen anpackte und auf der Stelle festhielt, daß er Ursula nicht mehr mit Zwang hinauszuführen und seinen Reitern zu übergeben vermochte. Er glaubte der Waldfrau nicht, aber er wagte auch nicht, sie der Lüge zu beschuldigen. Und je mehr er in dieses bleiche Antlitz sah, das sich ihm jetzt ganz unverschleiert zeigte, desto deutlicher meinte er etwas von sich selbst darin wiederzuerkennen – eine schattenhafte, aber um so erschreckendere Ähnlichkeit. »Ihr werdet Euch nicht wundern, Frau«, sagte er nach einigem Bedenken sehr kühl, »daß mir Eure Eröffnung, zumal unter diesen Umständen und zu dieser Zeit, sehr verdächtig erscheinen. Wenn Ursula ... Aber was rede ich darüber. Haltet mich nicht für ein Kind, das man mit dem schwarzen Mann schrecken kann. Nach einer Mutter, die sich so lange um mich nicht gekümmert hat – sollte sie wirklich nicht tot sein, wie Ihr sagt –, hab' ich wenig Verlangen. Von einer Schwester hab' ich nie gehört – und mag wohl mein Vater selbst nicht wissen. Es sind auch nur Behauptungen, die Ihr mir entgegenwerft. Wie wollt Ihr mir zumuten, daß ich sie als erwiesen annehme, da sie nicht einmal in sich selbst wahrscheinlich gemacht sind. Haltet mich daher nicht auf oder – gebt mir die Beweise.«

»Die Beweise –«, wiederholte Regina schmerzlich. »O mein Sohn! was verlangst du von mir! Recht geflissentlich hab' ich ja jede leiseste Spur zu verwischen gesucht, die zu einer Entdeckung führen könnte. Ich wollte für tot gelten, um für Ursula leben zu können. Du – hattest noch einen Vater

»Weshalb aber für tot gelten, weshalb?« fragte er ungeduldig.

Frau Regina kämpfte schwer mit sich. »Wohl –«, antwortete sie dann, »ich sehe, daß ich mir auch das Bitterste nicht sparen darf, meinem eigenen lieben Kinde ... Du sollst hören, was geschehen ist. Wie wenig liegt an mir. Du sollst wissen ... Aber nicht hier! Ursula darf nicht Zeugin dieser Bekenntnisse sein, die ihr der Mutter Bild für alle Zeiten trüben müßten.«

»O sprich, sprich –!« rief Ursula. »Ich kann alles hören. Wie ich dich liebe, kann ich alles hören. Wie du mich liebst, gibt es nichts, das ich dir nicht von Herzen verzeihen müßte!«

»Nein«, sagte Frau Regina mit Entschiedenheit, »es ist nichts für dein Ohr.«

Ursula aber ließ sich nicht so rasch zum Schweigen bringen; ihr selbst war es wie ein Licht aufgegangen, und sie haschte danach mit eiliger Hand. »Ich kann alles hören«, wiederholte sie, »und ich ahnte es längst ... Nicht wahr – der Herr Hochmeister ist mein Vater?«

Sie fühlte an ihrem Handgelenk, das Jost umfaßt hielt, wie er bei diesen Worten zusammenzuckte. Ihre Mutter starrte sie eine Weile an, als müßte sie dieser überraschenden Erkenntnis auf den Grund gehen. Dann wendete sie sich, ohne etwas zu entgegnen, zum Hauptmann. »Kommt in die Kammer«, sagte sie, »da sind wir allein, und die Wände hüten das Geheimnis. Jetzt sehe ich wohl, daß vor Euch nichts verhüllt zurückbleiben darf.«

Sie öffnete die Kammertür. Jost war einen Augenblick unschlüssig. Dann ließ er Ursula los, stieß das Fenster auf und winkte die Reiter herbei, die auf dem Hof Wache hielten. »Setzt euch auf die Schwelle«, rief er, »und laßt niemand aus ohne meinen Befehl, wenn euch euer Kopf lieb ist!«

Dann folgte er der Waldfrau in die Kammer.

Wohl eine halbe Stunde blieben sie dort eingeschlossen. Als der Hauptmann ins Zimmer zurückkehrte – er kam allein –, sah er sehr verstört aus. Er hielt den Kopf gesenkt und ließ die Blicke am Boden umherirren. Sie schienen Ursula vermeiden zu wollen, die auf der Ofenbank kauerte. Endlich richteten sie sich doch auf ihre ängstlich fragenden Augen. »Ursula«, stammelte er, »wenn es doch sein sollte ... Nein, nein! Es ist nicht.«

Er wollte sie umfassen, aber seine Arme sanken wie plötzlich gelähmt nieder. Er kehrte sich ab und wischte mit der Hand über die Stirn. Dann eilte er hinaus.

Den Reitern gab er eine kurze Weisung, zu bleiben. Er schritt über den Hof und aus dem Tor und in den Wald, bis die dichten Stämme ihn völlig deckten. Dann warf er sich unter einer Linde ins Gras, das Gesicht gegen den Boden gekehrt und auf die untergeschlagenen Arme gestützt. Er ächzte wie ein Schwerkranker, und nach einer Weile schluchzte er wie ein Kind, und dann wieder wurde er ganz still.

So lag er lange – zweifelnd, verzagend, mit sich beratend, was jetzt zu tun. Wenn sein Vater sich so unmenschlich gerächt hätte – wenn die Waldfrau seine Mutter war – Ursula seine Schwester... und ihretwegen Magdalene geopfert... Es war nicht auszudenken!

Der Kopf war ihm schwer. Nur mit Mühe hob er sich auf den Ellenbogen. Und wieder starrte er lange ins Weite. Endlich gab er sich einen Stoß von der Erde auf. »Ich muß Gewißheit haben«, rief er. Dann richtete er sich vollends auf und ging nach dem Haus zurück.

Er fand die Stube leer. In der Kammer lag Frau Regina auf dem Bett und Ursula kniete neben ihr, unaufhörlich ihre Hände küssend. Als er eintrat, wendete sie ihm erschreckt das Gesicht zu und gab ihm mit den Augen einen Wink, fernzubleiben.

Jost ließ sich aber nicht zurückhalten. »Steht auf, Frau«, sagte er in befehlendem Ton, »und auch Ihr, Ursula. Ich hab's überlegt – ich muß Gewißheit haben. Es ist nur einer auf der Welt, der sie mir geben kann, und den will ich befragen –: mein Vater.«

Regina schrie entsetzt auf. »Dein Vater –! Was willst du tun?«

»Euch zu ihm führen«, antwortete er mit fester Stimme.

»O mein Gott! Das ist grausam ...«

»Aber unvermeidlich. Ihr sollt Ursula begleiten. So wißt Ihr am besten, daß ihr durch mich kein Leid geschieht. Ich will sie halten wie meine Schwester, bis es gewiß ist, daß Ihr – mich hintergeht.«

»Ihr glaubt noch nicht...?« »Die Beweise, Frau, die Beweise! Es fehlen die Beweise. Ihr habt die Pflicht, sie mir zu geben. Begreift Ihr das nicht? Kein Widerspruch weiter! Steht auf und folgt mir. Ich muß Gewißheit haben!« Es half kein Bitten und Weinen. Frau Regina wurde auf einen mit Stroh gefüllten Wagen gehoben, Ursula erhielt Erlaubnis, ihren Gotländer zu besteigen; aber sie ließ ihn an die Leiter binden und setzte sich zu ihrer Mutter. Ein Trupp Reiter umringte das Gefährt.

In raschem Trabe ging's durch den Wald nach Heilsberg und am andern Morgen auf Marienburg zu.


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