Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Achtes Kapitel

Gewißheit und Wandel

Der Feldscher hatte nicht zu viel versprochen. Die halbe Stunde war noch nicht verstrichen, als Jost wieder auf den Füßen stand. Sein Vater redete ihm zu, den Arm zu schonen, an dem die Ader geschlagen war, und lieber noch eine Weile liegen zu bleiben. Aber er achtete nicht darauf. »Es hat mich im Augenblick so überwältigt«, sagte er »fast schäm' ich mich meiner Schwäche. Aber nein! Das ...«

Er setzte sich an den Tisch, stützte den Kopf auf den gesunden Arm und starrte vor sich hin. Der Ratsherr bot ihm einen Becher Wein zur Erfrischung der Lebensgeister; er wies ihn zurück. »Speise und Trank soll nicht über meine Lippen«, murmelte er, »bis ... ja bis –!«

»Mein armer Junge«, sagte der Alte, ihm die Schulter streichelnd. »Es hat dich scharf gepackt. Aber du bestandest darauf, alles wissen zu wollen. Und einmal mußte doch ...«

»Vater, es kann nicht sein«, rief Jost, »Trotz alledem ... Das ist noch keine Gewißheit. Meiner Mutter Fehl freilich – daran muß ich glauben.« Er schüttelte sich schaudernd. »Aber daß jene Frau – und das Mädchen ...« Er sprang wieder auf, ging vors Zelt und befahl dem Troßbuben, sein Pferd vorzuführen, auch ein zweites herbeizuschaffen. »Ich muß Gewißheit haben«, sprach er immer halblaut vor sich hin.

»Ich bitt' Euch, Vater, begleitet mich«, sagte er, nachdem er zurückgekehrt war.

»Wohin?«

»Aufs nächste Dorf. Ich hab' dort meine Gefangenen einquartiert. Es sind einige darunter, die Euch gut zu kennen behaupten. Vielleicht ist's Euch von Nutzen, sie zu sehen und zu sprechen. Sie versichern, viel zu wissen. Auf Euer Wort will ich sie ausliefern oder freilassen.«

Das konnte kein bloßes Vorgeben sein. Warum hätte der Kriegshauptmann nicht widerspenstige Edelleute oder Magistratspersonen und vielleicht gar Priester aufheben sollen, über die er nun doch nicht selbst verfügen mochte. Aber warum nannte er sie nicht sogleich? Und sein sonderbares Wesen –! »Es ist wohl nicht so eilig«, wendete der Ratsherr ein.

»O doch, Vater, es ist sehr eilig.«

»Was sind denn für Leute unter den Gefangenen, die nicht einen Tag warten können?«

»Ihr werdet es sehen, Vater.«

»Schone dich, Jost. Du darfst mit dem Arm in der Binde nicht reiten.«

»Es ist eine kurze Strecke bis zum Dorf, und wir reiten Schritt.«

»Du bist so dringend. Und wenn ich dich ansehe ... Du gefällst mir gar nicht, Jost. Was hast du denn?«

»Ich will mir's aus dem Kopf bringen.«

»Was?«

»Das wegen meiner Mutter – nun ja, das.«

Der Alte zog die Stirn in Falten. »Ich hätte dir's doch verschweigen sollen.«

»Nein, nein! Ich hatte das beste Recht ... Und es steht ja auch noch nicht fest, daß alles vorbei ist. – Kommt mit mir, Vater!«

»Wenn du's denn durchaus so willst ...«

Sie stiegen auf und ritten durch die Lagergassen, in denen zwischen den mitgebrachten Zelten auch Buden von Strauchwerk und abgerissenen Zaunbrettern aufgebaut wurden, überall lagen die Materialien im Wege, so daß sie nur langsam vorwärts kamen. Draußen auf der Landstraße aber spornte Jost sein Pferd sogleich zum Galopp. Tileman kam im Trab kaum mit. »Du wolltest Schritt reiten«, rief er ihm zu. Jost ließ sich aber nicht aufhalten; er schien nicht einmal zu hören, daß er angesprochen wurde. Im Dorf wendete er sich dem Hause des Schulzen zu. Es standen vor demselben Wachen; sie hüteten mit ihren Spießen die Tür und die Hofeinfahrt. Auf dem Hof, wohin er lenkte, stand des Bauers Vieh unter freiem Himmel angebunden. Im Stall hatten einige Reiter ihre Pferde untergebracht; die Scheune war mit Mannschaft belegt. Nicht weit vom Ziehbrunnen brannte ein helles Kochfeuer. Jost betrat das Haus durch die hintere Hoftür. »Ich will Euch den Weg zeigen, wenn Ihr's erlaubt«, sagte er.

Tileman folgte ihm auf dem Fuße. An der Stubentür machte Jost einen Augenblick halt. Er hielt die Schnur der hölzernen Ziehklinke in der Hand. Endlich gab er ihr einen heftigen Ruck und drückte zugleich gegen die Tür, daß sie weit aufsprang. Er trat zur Seite und schob seinen Vater hinein.

In dem halbdunklen Raum befanden sich zu dessen Verwunderung nur zwei Frauen. Die eine saß auf der Bank zwischen den beiden Fenstern, an die Holzwand gelehnt; die andere kniete vor ihr und hatte den Kopf in ihren Schoß gelegt. Sie sah bei dem Geräusch auf und nach dem fremden Mann hin, der eintrat. Als sie Jost hinter ihm erblickte, versteckte sie wieder ihr Gesicht. Ein matter Lichtschein fiel auf ihr Goldhaar und ließ es erglänzen.

»Das sind deine Gefangenen?« fragte der Ratsherr, sich zurückwendend, im Ton der Ungläubigkeit. »Wir scheinen fehlgegangen zu sein.«

»Nein, nein!« antwortete Jost, »wir sind an der rechten Stelle – das sind meine Gefangenen, die Ihr sehen solltet, Vater.«

Er faßte seinen Arm und zog ihn der Gruppe näher.

Die sitzende Frau hatte sich erschreckt aufgerichtet. Sie starrte den Mann, der ihr arglos entgegenschritt, versteint eine Weile an. Dann kreischte sie plötzlich auf, warf Ursula ab, erhob sich rasch und wollte flüchten. Aber schon nach dem ersten Schritt sank sie auf die Bank zurück, ihr Kopf suchte an der Wand eine Stütze. »Tileman –«, keuchte sie.

Jetzt wurde ihr Gesicht vom Fensterlicht gestreift. Der Ratsherr, der seinen Namen hörte, war durch den Klang der Stimme betroffen, ging schnell vor und prallte, wie gegen Stirn und Brust gestoßen, zurück. Sein ganzer Körper schüttelte sich. Die Hände mit den ausgespreizten Fingern hoben sich unwillkürlich gegen die Stirn, auf der die Adern anschwollen. »Stehen die Toten auf –«, lallte er fast unverständlich.

»Kennt Ihr die Frau, Vater?« rief Jost in furchtbarer Aufregung, die gespannten Blicke von dem einen zum andern irren lassend.

»Paula ...«, ächzte der Ratsherr. »Aber ich weiß nicht, ob ein Blendwerk des Teufels ...«

»Ah –!« schrie Jost auf. »Doch – doch! Barmherziger Gott – doch!«

Die Frau ließ sich zur Erde niedergleiten, schob sich auf den Knien weiter an Tileman vom Wege heran und hob flehend die Hände auf. »Kein Blendwerk Eurer Sinne«, sagte sie, »ich bin's – ich lebe. O verzeiht, daß ich lebe. Ihr solltet es niemals erfahren, kein Mensch ... Nur die äußerste Not preßte mir das Geständnis ab, daß Jost mein Sohn. Das Mädchen dort – meine Tochter – seine unselige Leidenschaft ... Wie durfte ich geschehen lassen, was beider Verdammnis werden mußte? Jetzt wissen sie – die Wahrheit. Sie kennen ihre schuldbeladene Mutter – sie mögen ihr fluchen. Ihr aber, Tileman vom Wege, Ihr habt Euch Euer Recht genommen vor langen Jahren, und ich hab' mich Eurem Recht gebeugt. Es war Gottes Wille, daß ich leben sollte, den Kelch der Leiden bis zur Neige auszukosten. Diese letzten Tropfen sind die bittersten. Laßt mich ungekränkt zurück in die Vergessenheit. Ich darf nicht bitten: verzeiht, was ich getan! Aber ich bitte nochmals – verzeiht, daß ich lebe!«

Tileman stand unbeweglich, die gekrümmten Finger ins Haar eingewühlt, den Mund halb geöffnet, die verglasten Blicke auf sie gerichtet. Jost mochte erwarten, daß er sie ansprechen werde. Da das nicht geschah, trat er zwischen beide und fragte mit Donnerstimme: »Vater, ist das meine Mutter?« »Sie ist's«, antwortete Tileman. »Und Ihr habt sie – töten wollen, Vater?« »Ich habe sie töten wollen – Gott hat es nicht gelitten.« »Und nun sie lebt ... Ihr hebt sie nicht vom Boden auf, Vater?« »Sie ist auch jetzt tot für mich.«

»Unmenschlicher!« schrie Jost. »Meine Mutter – meine Mutter?«

»Dieses Kindes Mutter, das mein Kind nicht ist.«

»Aber meine Schwester. Gott, Gott! Meine Schwester.«

Er umfaßte die Waldfrau und riß sie von der Erde auf. »Kniet nicht vor dem Schrecklichen, Mutter«, rief er, »Ihr habt nicht Verzeihung von ihm zu erbitten, denn er nahm seine Rache, nicht sein Recht. Ihr dankt ihm nicht das Leben; Gott aber, der es Euch gegen seinen Willen schenkte, hat Euch verziehen, was Euer menschliches Fehl war. Mutter – Mutter –!« Er umarmte sie und zog sie stürmisch an seine Brust. »Meine Mutter!«

»O mein teurer Sohn –«, hauchte sie, wie hinsterbend unter seinen Küssen.

Tileman trat zu und legte die Hand auf seine Schulter. »Jost –«, stöhnte er, »du wendest dich ab von deinem Vater – zu ihr ... Wenn du nun weißt, daß sie deine Mutter ist, so weißt du auch –«

Jost schüttelte seine Hand ab. »Vater«, fiel er ein, »könnt Ihr's ermessen, was Ihr mir getan habt? Mir! Was kümmert's mich, ob Euer Zorn gerecht war? Die Mutter habt Ihr mir genommen – getötet! Ja, getötet. Denn die ich jetzt wiederfinde nach diesen langen Jahren, kann mir nimmer werden, was eine Mutter dem Kinde ist. Und daß ich Ursula nicht als meine Schwester kannte ... daß ich ihretwegen meinem Gelöbnis untreu ward ... daß ich nahe daran war, mich mit unsühnbarer Blutschuld zu beflecken ... Vater! Das habt Ihr vor Eurem Sohn zu verantworten. Ganz unselig habt Ihr mich gemacht! Seht, so rächt sich Eure Rache an Euch selbst.«

Er ließ seine Mutter auf die Bank nieder und trat zu Ursula, die sich scheu in die Ecke am Ofen geflüchtet hatte. Die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er hielt ihr die Hand hin und sagte: »Fürchte dich nicht vor mir, Ursula – ich bin dein Bruder. Wie ich dich liebte ... nein! Das ist fort aus meinem Herzen. Ein eisiger Windhauch hat das wildlodernde Feuer ausgeblasen, die Funken sind zerstoben. Schwester – liebe Schwester, laß mich nicht ganz in Frost erstarren.« Er beugte sich vor, ihre Stirn zu küssen. Ursula zuckte zurück. Dann aber sah sie ihn in das tieftraurige Gesicht und bot ihm den Mund. »Bruder ...« flüsterte sie.

Er berührte ihre Lippen. Und dann war's, als ob noch einmal die frühere Wildheit über ihn kam. Er zog sie an sich, preßte sie an seine Brust, küßte sie wieder und wieder. Sie ließ es geschehen. Und dann hatte er sich auch schon selbst beruhigt. Seine Arme sanken herab, sein Atmen wurde gleichmäßiger, sein Blick klarer. Er führte Ursula zur Mutter. »Sie gehört uns gemeinsam«, sagte er, »in ihr werden wir einander lieben.«

Tileman vom Wege hatte seine Festigkeit wiedererlangt. Stolz und trotzig hob er das Haupt. »Du wolltest mich überraschen«, sagte er, »– ich sehe noch nicht klar, zu welchem Zweck eigentlich, und ob diese da mit dir ... Aber gleichviel! Es ist dir gelungen. Was weiter ist dein Begehr? Dieses Weib – will ich nicht kennen. Dieses Mädchen – geht mich nichts an. Wenn das deine Gefangenen sind, meinetwegen magst du sie freigeben und ziehen lassen. Auf der Landstraße irrt ein Ausgestoßener, ein fürstlicher Bettler, dem ich aus der Marienburg die Tür gewiesen. Ludwig von Erlichshausen heißt er. Zu dem gehören sie. Mein Sohn aber –«

»O Vater – Vater! Seid menschlich«, fiel Jost ihm ins Wort, »wir sind alle Sünder vor dem Herrn.«

»Und erwarten sein Gericht«, setzte Tileman frostig hinzu. »Ich will abwarten, ob mein Sohn mich anklagt.«

Er wendete sich hochaufgerichtet nach der Tür; da er nun aber über die Diele schritt, zitterten ihm die Knie, und die Hand fand nur mühsam die Klinke. Als er in den Flur hinaustrat, taumelte er gegen die Wand und stand eine Weile an dieselbe gelehnt, nach Atem ringend. Er bestieg das Pferd nicht, sondern entfernte sich zu Fuß vom Hofe.

Die Zurückgebliebenen verhielten sich eine lange Weile schweigend. Ursula hatte sich zu ihrer Mutter auf die Bank gesetzt, sie umarmt und mit der Schulter ihren Kopf gestützt. Jost ging unruhig umher, blieb öfters am Fenster oder gegenüber am Ofen stehen, wandte sich den Frauen zu und wieder ab. Er schien zu erwarten, daß sie ihn anredeten, und ihr Schweigen doch wieder ganz natürlich zu finden. Was hatten sie einander auch jetzt noch zu sagen? Endlich kam er ganz ab davon, die Dinge, die sie so tief erschüttert hatten, nochmals zu erörtern. »Ihr könnt hier mit Ursula nicht bleiben, Mutter«, begann er deshalb. »Das Dorf ist von Kriegsvolk besetzt, das Lager ganz in der Nähe –, ich kann nicht immer zu eurem Schutz bei euch sein, wie ich möchte ...«

»Laßt uns zurück in unsere Waldeinsamkeit«, bat Frau Regina.

»Auch das wird nicht geschehen können«, antwortete er, »wenigstens nicht sogleich, vielleicht für längere Zeit nicht. Das ganze Land ist in Kriegsunruhe versetzt. Es scheint freilich so, als ob der furchtbare Kampf beendet sein soll, nachdem die Marienburg dem König übergeben, das letzte mächtige Bollwerk des Ordens gesunken. Aber noch nennt er eine Anzahl Städte und Burgen sein; er wird sich nicht verlorengeben, so lange noch ein Strahl der Hoffnung leuchtet. Und das Kriegsglück ist launisch. Ich sehe voraus, daß um das Ermland noch ein schlimmer Kampf entbrennen wird. Der Orden, sowie er notdürftig wieder zu Kräften kommt, kann seinen alten treuen Freund, den Bischof Franziskus, nicht im Stich lassen. Dann werden sich die Kriegshaufen um Heilsberg sammeln und die ganze Umgegend unsicher machen. Eure Waldhütte ist gefährdet. Und zwei schwache Frauen ... Nein, nein! Ihr dürft nicht vergessen, Mutter, was Ihr Ursula schuldig seid.«

»Was aber sonst anfangen?«

»Ich will für euch beide ein Unterkommen in der Stadt Marienburg suchen. Man wird es meiner Bitte nicht versagen.«

»Dem Feinde? Die Stadt steht zum Orden.«

»Sie stand zum Orden. Das wird sie in Vergessenheit bringen müssen, wenn sie nicht des Königs Gnade ganz verscherzen will.«

»Laßt mich nach der Stadt gehen, uns ein Obdach zu erbitten«, sagte Ursula. »Ich weiß da ein Haus ...«

Sie stockte und senkte die Augen, da sie ihn die Farbe wechseln sah. »Freilich –«, setzte sie hinzu, »Ihr könnt nicht wollen ...«

Er nickte ihr traurig zu. »Doch kann ich wollen, was Ihr im Sinn habt. Verlaßt Euch auf mich. Das Haus ... ich weiß es selbst zu finden. Es ist ein schwerer Gang dorthin, aber – zu schwer soll er mir nicht sein. Jetzt nicht. Bleibt hier, bis ich weitere Nachricht bringe.«

Er küßte seine Mutter und drückte Ursula die Hand. Draußen warf er sich aufs Pferd und jagte nach der Stadt.

Trotz der späten Abendstunde war die Brücke noch nicht aufgezogen. Zwischen den Bürgern und den Kriegsleuten im Lager fand ein lebhafter Verkehr statt. Lebensmittel, Stroh, Decken wurden verlangt und geliefert. Man wollte so lange als möglich ein gutes Einvernehmen aufrechterhalten, wohl auch etwas verdienen. Wußte doch niemand, was der folgende Tag für die Stadt bringen könne. Jost sah überall Krämer und Handwerker in erregtem Gespräch zusammenstehen. Er stellte sein Pferd in einem Gaststall unweit der Mauer ein und ging durch die Gäßchen und Straßen an ihnen vorüber. Kurze Sätze ihrer Reden fing er auf und stellte sich daraus leicht einen Sinn zurecht. Man war allgemein in großer Besorgnis, wie es der ordenstreuen Stadt ergehen werde. Der Aufforderung vom Schloß her, Besatzung aufzunehmen, war nicht Folge gegeben. Nun aber sollte der König mit einem polnischen Heer anrücken; die Marienburg würde ihm geöffnet werden; er werde sicher sogleich die Stadt auffordern. Wie sei es denkbar, ihm Widerstand zu leisten? Und doch –! Dem Orden in der Not absagen – mit den Verrätern gemeinsame Sache machen? Das war eine harte Zumutung. Die Ratsherren saßen noch spät im Rathause; es waren die Älterleute der Zünfte zugezogen. Auch dort standen vor der Tür Leute mit besorgten Gesichtern.

Jost vom Wege schritt unter den Lauben hin bis zum Hause des Bürgermeisters. Er sah von weitem schon Frau Christine und Magdalene auf dem Bänkchen sitzen, und immer heftiger schlug ihm das Herz, je mehr er sich näherte. Er selbst wurde im Dämmerschein unter den Gewölben nicht erkannt. In einiger Entfernung blieb er stehen und lehnte sich an einen Pfeiler, sein Gemüt erst zu beruhigen.

»Geh hinein, Kind«, sagte Frau Christine. »Es wird schon recht kühl. In der Nacht wird dich wieder das Fieber heftiger schütteln.«

»Wir wollen den Vater hier erwarten«, entgegnete Magdalene.

»Aber er bleibt zu lange aus«, meinte die Frau. »Wenn die Beratung geschlossen ist, werden gewiß noch Briefe zu schreiben sein. Dann sitzt er mit dem Ratsschreiber zusammen vielleicht noch bis tief in die Nacht. Du kennst ihn. Er hat nicht Schlaf, bis alle Geschäfte besorgt sind.«

»Ich wüßte doch gern, wie man sich entschlossen hat«, sagte das Mädchen. »Seinetwegen! Es geht ihm sehr nahe!«

»Wir können in der Stube noch eine Weile aufbleiben«, riet die Bürgermeisterin. »Es ist sonst schon niemand mehr unter den Lauben.« Da Magdalene doch nicht Anstalt machte, sich zu erheben, zog sie ihr das Tuch fester um die Schultern. Dabei sah sie seitwärts und stutzte plötzlich. Wenige Schritte entfernt stand ein Kriegsmann und hielt den Hut mit der langen Feder auf der Brust. Das Gesicht ... Sie stieß einen Laut aus, der wie »Jost« klang.

Magdalene verstand ihn so, fuhr zusammen und blickte nun ebenfalls nach der Gestalt. »Jost –!« schrie sie auf. Ihr Kopf sank an der Mutter Brust.

»Ich bin's«, sagte der Junker hinzutretend. »Verzeiht, wenn ich euch erschreckte. Ich weiß wohl, daß ich auf freundlichen Empfang nicht zu rechnen habe. Es war auch nicht meine Absicht, Euch aufzusuchen, werte Frau – nur im Hause nach Marcus zu fragen ... Da ich Euch aber hier die Tür hüten sah, mocht ich nicht feige davonschleichen. Daß ich noch einmal dieses Haus betrete, mag Euch ein Zeichen sowohl meiner Friedfertigkeit als der Dringlichkeit meines Anliegens sein. Seit ich geschieden, hat sich gar viel in und außer uns verändert. Den Ihr hier vor Euch seht, der ist ein anderer, als der Euch damals kränkte. Alle Verblendnis ist von ihm gewichen – nicht durch seines Willens Kraft, der ganz ohnmächtig war, sondern durch des Himmels gewaltsame Lösung. Doch davon laßt mich Euch durch Eures Sohnes Mund berichten. Nicht meinetwegen geh ich Euch mit Bitte an. Die aber, für die ich sprechen will, finden sicher in ihm den besten Fürbitter.«

Frau Christine hatte ihn in würdigster Haltung angehört. Nun meinte sie jede neugierig erscheinende Frage unterdrücken zu müssen, wie nahe sie auch liegen mochte. Sie antwortete daher nur kühl gemessen: »Marcus ist in des Vaters Stübchen mit Arbeit an dessen Büchern beschäftigt, da ihn selbst sein Amt jetzt übermäßig beansprucht. Wollt Ihr zu ihm gehen, Herr Junker, so ist Euch der Weg frei.«

»Ich dank Euch, werte Frau«, sagte Jost und schritt auch sogleich der Haustür zu. Als er an Magdalene vorüberkam, blieb er aber einen Augenblick stehen, griff mit der Hand nach seiner Stirn und drückte sie zurück. Ein schmerzlich seufzender Laut entrang sich seiner Brust. »Magdalene«, rief er, »wenn Ihr alles wissen werdet, werdet Ihr verzeihen können.« Sie schmiegte sich nur noch ängstlicher an ihre Mutter.

In der Geschäftsstube hinten war es schon dunkel geworden. Marcus saß bei einer schmauchenden Öllampe und schrieb. Er hatte sein Gesicht vom Bart umwachsen lassen, wie er eben auf Backe und Kinn kräftiger oder spärlicher sprossen mochte, und ihm mit der Schere nicht die Form gegeben. Auch das Haar hatte volle Freiheit gehabt, sich auf die Schulter zu legen, und war selbst über der Stirn nicht kurz gestutzt, auf der sich noch immer die Narbe zeigte, jetzt wieder, wie ein roter Streifen, da ihm bei seinen Rechnungen das Blut zu Kopf gestiegen. Er sah auf und ließ die Feder fallen: »Jost – –!«

Ob sich dem Eintretenden die von dem Öldampf durchzogene Luft so schwer auf die Brust legte, ob ihm sonst allzu beklommen zumute war, seine Stimme klang wie erstickt, als er dem alten Freunde einen guten Abend bot. Er ging mit unsicheren Schritten auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin. Marcus aber stand auf und trat hinter den Stuhl, ohne sie anzunehmen. »Was willst du hier?« fragte er mit einem zornigen Blick.

»Dir sagen«, antwortete Jost, »daß ich aus dem Walde hinter Heilsberg zwei Frauen gefangen eingebracht habe. Sie sind im Dorf draußen, im Schulzenhause –«

Marcus wurde schreckbleich. Er faßte die Lehne des Stuhls und gab demselben einen so heftigen Stoß, daß er ins Schwanken kam. »Von wem – sprichst du ...?«

»Von Frau Regina und ihrer Tochter Ursula.«

»Ha –! Die hast du –?« Der Stuhl hob sich vom Boden.

»Sei ganz ruhig«, fiel Jost ein. »Es ist ihnen nichts Kränkendes widerfahren. Ich sage dir's, weil du sie verehrst und – liebst.«

»Und du?«

»Auch ich verehre und liebe sie – aber anders, als du denkst, als du ahnen kannst. Ach, Marcus –! Was sich mir enthüllt hat – heute mit unanfechtbarer Gewißheit ... Die Waldfrau ist meine Mutter.«

Marcus schien an seinem Verstande zu zweifeln, so völlig verblüfft sah er ihn an. »Deine Mutter – Frau Regina –?«

»Sie ist meine leibliche Mutter – wahr und wahrhaftig, sie ist es!«

»Aber deine Mutter – ist längst verstorben ...«

»Mein Vater selbst hat anerkennen müssen, daß diese Frau es ist.«

»Und Ursula –?«

»Ist ihr Kind – es bleibt dabei.«

»Jost –! Deine Schwester –?«

»Meiner Mutter Kind.« Er biß die Zähne aufeinander. »Meine Schwester.«

»Und dein Vater –?«

»Er ist ihr Vater nicht.«

»Wer aber –?«

»Herr Ludwig von Erlichshausen, Hochmeister Deutschen Ordens, jetzt der ärmste und elendeste von allen Brüdern.«

Diese Reden waren mit großer Schnelligkeit gewechselt. Jost wollte sogleich alles heraussagen und Marcus irgendeinen Anhalt gewinnen, der ihm das Unglaubliche glaublicher erscheinen lassen könnte. Der war ihm nun durch die Erwähnung des Hochmeisters gegeben. Da war eine Tatsache genannt, die mit anderen schon bekannten Tatsachen in Beziehung gestellt werden konnte und plötzlich über allerhand rätselhafte Verhältnisse Licht zu verbreiten schien. Erlichshausen Ursulas Vater! Wenn das nun für Jost eine Gewißheit war, warum sollte das andere nicht ... Und Ursula Josts Schwester! Das eine Wort vermochte Berge zu ebnen, die mit eisstarrenden Häuptern zwischen ihnen standen. Marcus konnte alle die Eindrücke, die so überraschend auf ihn einstürmten und seine Phantasie nach allen Richtungen jagten, nicht sofort bewältigen. Er sank auf den Stuhl zurück, stützte den Kopf in beide Hände und brütete vor sich hin. Es war, als ob er Jost selbst ganz vergessen hätte. Der stand unbeweglich, ebenso unfähig, nach diesen hastigen Eröffnungen einen gemäßigteren Ton zu finden. Eine eigene Mischung von Empfindungen ließ ihn nicht zu klarem Nachdenken über das kommen, was weiter zu tun. Wie schwer er selbst litt, Marcus zog den Gewinn davon – sein Freund und doch zugleich sein verhaßter Rival. Ursula war ihm verloren, aber dem andern gönnte er sie jetzt doch noch nicht. Bitter, gallig bitter war der Trank, den er bis zur Neige leeren sollte.

Nach einigen dumpfen Minuten legte Jost ihm die Hand schwer auf die Schulter und rüttelte ihn ein wenig. Marcus richtete sich erschreckt auf. »Ja, der Hochmeister – der Hochmeister«, sagte er, »ganz recht, der Hochmeister.«

»Komm zum nächsten«, mahnte Jost. »Was soll mit den Frauen geschehen? Sie dürfen unter dem Kriegsvolk nicht bleiben, und wir wissen sie jetzt auch in ihrem Walde nicht sicher.«

»Deine Mutter – und Schwester ...«

»Ja! Und das Mädchen, das du liebst – das dich liebt. Marcus – Marcus! Es hat mich toll gemacht. Und noch jetzt krampft sich mir das Herz ... Nein! Ursula ist meine Schwester, und du – kannst wieder mein Freund sein. Du mußt –! Ursulas wegen mußt du wieder mein Freund sein!«

Marcus sprang auf und fiel ihm um den Hals. »Sie steht nicht mehr zwischen uns! Aber erkläre mir – sage mir alles. In meinem Kopf dreht sich's ...«

Jost drückte ihn auf den Sessel nieder. Er selbst lehnte sich abgewandt gegen den Tisch, kreuzte die Arme über der Brust und erzählte, was sich begeben hatte, ohne seinen Vater und sich zu schonen. »Und nun handle du«, schloß er. »Ich weiß nicht, was mein Vater im Sinne hat. Es wird nichts Gutes sein. Frau Regina und Ursula müssen in Sicherheit gebracht werden. Ich weiß ihnen keinen besseren Freund als dich. In deines Vaters Hause –«

»Ja, ja!« rief Marcus. »Mein Vater muß sie aufnehmen, meine gute Mutter ... Aber darf ich denn ihnen das Geheimnis ...«

»Du darfst und sollst. Es muß volle Klarheit zwischen uns sein. Magdalene ... Du begreifst, daß ich mich deiner Mutter und ihr nicht eröffnen konnte wie eben dir. Aber du kannst frei sprechen; durch dich wollt' ich's an sie bringen. Dir zuliebe werden sie tun, was sie mir vielleicht verweigerten. Ich weiß wohl, daß ich mir selbst die Tür zu meiner Mutter und Schwester verriegele, indem ich ihnen ein Obdach hier erbitte. Aber sei's drum. Nur ihren Vorteil will ich bedenken, und dazu, Freund, sollst du mir helfen.«

»Vertraue ganz auf mich«, sagte Marcus, bewegt seine Hand schüttelnd. »Nicht eher will ich Ursula wiedersehen, bis ich sie in unser Haus rufen kann. Noch heut spreche ich ... Willst du hier warten, wie sich's entscheidet?«

»Dessen bedarf's nicht«, erwiderte Jost. »Warum soll man den Verhaßten länger, als durchaus nötig, dulden? Dein Vater wird bald zurückkehren. Ich mag ihm so nicht unter die Augen treten. Vielleicht später, wenn all dieses Irrsal ... Leb wohl!«

Marcus hielt ihn zurück. »Aber erklärt's sich nicht schon jetzt zu deinen Gunsten? Wenn Ursula deine Schwester war ... Du wußtest es nicht, aber ein geheimer Zwang des Herzens, eine wundersame Regung des Blutes bei ihrem Anblick, ein Zauber der Natur, so überwältigend –«

»Hab' ich Magdalene deshalb weniger weh getan?« fiel Jost ein. »Ach –! Ich bin mir selbst so widerwärtig. Wenn ein brüderliches Gefühl darin verirren konnte –! Nein, es war kein brüderliches. Und auch jetzt macht das Wissen mich nur um so unglücklicher. Mit der Zeit vielleicht ... ja, ja, mit der Zeit! Wir vergessen unsere geliebten Toten; warum nicht ...? Wenn ich mir's stündlich vorspreche: Ursula ist meine Schwester, und meine Schwester liebt Marcus Blume, und ich bin sein Freund ...« Er riß ihn an sich. »Nimm sie, nimm sie aus meinen Händen! Ich kann's überwinden. Und wenn sie dein ist und kein Neid mehr in meinem Herzen und keine Klage mehr auf meinen Lippen – dann werd' ich vor die Deinen treten können und bitten: Verzeiht! Jetzt – leb wohl!«

Er schob ihn mit beiden ausgestreckten Armen zurück, kehrte sich ab und eilte fort.

Marcus schloß die Bücher und löschte die Lampe. Eine Weile blieb er noch im Halbdunkel des letzten spärlichen Tageslichts. Dann, als er beruhigt war, ging er hinauf nach der Frauenstube.


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