Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Dreizehntes Kapitel

Die Tochter

Von dieser Zeit war der Hochmeister in sehr unruhiger Stimmung. Seine Umgebung glaubte sie auf die Sorgen schieben zu müssen, die das Gemüt des Herrschers beschwerten, da jeder Tag neue Verdrießlichkeiten brachte. Er hätte sie nach seiner ganzen Art leichteren Sinnes abgewehrt, wenn sein Herz nicht bekümmert gewesen wäre. Bekümmert und doch auch voll freudiger Erregung. Oft klagte er wohl, daß er mit dem Hochmeisteramt eine zu große Last auf seine schwachen Schultern genommen habe, und ließ den Großkomtur schalten und walten, wie er wollte; dann wieder zeigte er sich empfindlich, wenn etwas ohne seine Befragung in die Wege geleitet war, änderte, verwirrte den Geschäftsgang, zog die geringste Sache an sich und meinte sich so als den Herrn zu beweisen, der sein Ansehen im Orden wahre. Was ihn drückte, war doch etwas ganz anderes, und davon erfuhr niemand von seinen Ratgebern das mindeste. Eine Tote war ihm auferstanden und wandelte nun früh und spät vor seinen Augen. Die Frau, die er einst mit dem jugendlichen Ungestüm seines leidenschaftlich erregten Herzens geliebt hatte wie kein anderes Weib, Paula lebte. Mehr noch, viel mehr! Sie hatte ihm eine Tochter geboren – ihm! Ursula war sein Kind. Ein Kind der Sünde, aber sein Kind!

Nun weilten seine Gedanken immer bei dieser Frau und bei diesem Kinde. Wenn er sein Leben überschaute, hatte er doch nur einmal volles Menschenglück genossen – in den Armen dieser Frau. Wie konnte er das vergessen, da nun die Gegenwart ihn so lebendig an das Vergangene mahnte. Er liebte Ursula in ihrer Mutter, und mit einem viel reineren, heiligeren Gefühl. Was auch geschehen war, dieses Kind hatte es nicht zu verantworten. Ihm aber hatte das Geschick die Pflicht einer holden Sorge auferlegt. Was Paula seinetwegen erduldete, konnte er nicht von ihr nehmen. Sie mußte in der Verborgenheit bleiben; alle seine fürstliche Herrlichkeit konnte ihr nichts geben, was ihr Los verbesserte. Er hatte sie wiedergesehen, um nochmals vor ihr für alle Zeit Abschied zu nehmen. Aber ihr Kind–! Was konnte ihn nötigen, sich dieses unschuldige Wesen fernzuhalten, von dem niemand ahnte, wie nahe es ihm stand. Ursula durfte nie erfahren, wer er ihr sei. Gewiß nicht! Nur hinderte diese Pflicht der Verschwiegenheit ihn nicht, ihr als ein Freund alles das Gute zuzuwenden, dessen er mächtig war. Und hätte er für dieses junge, schöne Geschöpf nichts tun können, das so grausam von der Welt ausgeschlossen war, ehe es deren Freuden noch gekostet hatte? Wie traurig der Waldaufenthalt den langen, langen Winter hindurch? Ohne den Umgang mit Menschen, deren Gespräch erfreuen und anregen konnte! Immer allein in der Gesellschaft einer schwergestimmten, allem Lebensgenuß abholden Frau! Sollte die Knospe dort verkümmern, noch ehe sie sich entfaltete? Mußte er's am Ende gar geschehen lassen, daß irgendein Unwürdiger sich zudrängte und in seinen Besitz nahm, was er nicht Kaisern und Königen gönnte? So müßig durfte er sich nicht verhalten.

Und was hinderte ihn denn, sich selbst zu bereichern? Freilich konnte er Ursula nicht zu sich nehmen, um sich immer ihres Anblicks, des holden Klanges ihrer Stimme zu erlaben. Aber in seine Nähe durfte er sie ziehen, einem Freunde anvertrauen, sie von Zeit zu Zeit bei ihm besuchen. Er konnte ihr schöne Kleider anschaffen und das Gürteltäschchen mit Goldstücken füllen. Er konnte sie in die Kreise der Gesellschaft einführen lassen, in die sie durch ihre Mutter gehörte, sie mochte es wissen oder nicht. Er konnte ihr Gelegenheit geben, sich die Neigung eines vornehmen jungen Mannes zu erwerben, und sie dann für eine Heirat reich ausstatten. Es brauchte nicht einmal Geheimnis zu bleiben, daß er der Wohltäter sei. Oft genug ereignete es sich, daß ein Gebietiger die Sorge für Verwandte übernahm, sie ins Land kommen ließ und in Pflege gab. Ursula war ganz unbekannt. Er hätte sie nach Thorn führen können, und selbst Tileman vom Wege würde nicht geahnt haben, welches Verhältnis sich da neu anknüpfte. Er gefährdete die Sicherheit der Mutter nicht. Sich selbst aber brachte er eine Lebensfreude zu, die ihn für alle die Widerwärtigkeiten des Amtes reich entschädigen, allezeit seinen gesunkenen Mut heben konnte. Er brauchte solche Erquickung.

Mit diesen Erwägungen hin und her füllte der Hochmeister seine freien Stunden und oft genug auch seine Geschäftszeit, so daß er dann denen, die mit ihm verhandelten, zerstreut erschien. Hans von Baisen, der immer noch auf eine Versöhnung des Ordens mit dem Lande hoffte und von den Eidechsenrittern gedrängt wurde, feste Stellung zu nehmen, kam wiederholt von seinem Gute Heselecht nach der Marienburg, um ihn und seine Gebietiger zur Nachgiebigkeit in allen billigen Dingen zu mahnen, da nun, wenn auch kein Friede, so doch gleichsam ein Waffenstillstand geschlossen sei, der von beiden Teilen zum völligen Ausgleich benutzt werden müßte. Er nahm den Eindruck mit, daß Ludwig von Erlichshausen sich des Ernstes der Sache keineswegs ausreichend bewußt sei und einen festen Willen gegenüber den eigentlichen Machthabern in der Brüderschaft nicht einzusetzen habe, sich treiben lasse und kaum auch nur aufmerksam auf seine gutgemeinten Vorstellungen und Ratschläge achte. So höflich man ihn behandelte, so wenig aufrichtiges Vertrauen schenkte man ihm doch. Richtenberg gab sich den Anschein, daß man den Bund gar nicht mehr zu fürchten habe, nachdem sich das Land auf lose Versprechungen hin zur Huldigung verstanden. Der Wolf sei an die Kette gelegt und möge heulen; das schrecke niemand, übers Jahr werde er ganz zahm geworden sein. Zu fürchten habe man nur die unsicheren Wächter, die der gelobten Treue allzu leicht vergäßen. Baisen verstand ihn wohl. Er meinte aber, seiner Pflicht als des Hochmeisters geschworener Rat ledig zu sein, wenn man ihn zur Seite schob.

Die Bemühungen, Mitglieder des Bundes unter der Hand durch Schmeichelei und Drohung zum Austritt zu bestimmen, hatten doch geringen Fortgang. Nur einige Herren aus dem Oberlande verstanden sich dazu; sie hatten auch ohne Bedingung huldigen wollen. Aber die kleinen Städte blieben fest, außer den dreien, die schon vorher abgefallen waren und dieserhalb viel Spott und Verdruß erfuhren. Bartholomäus Blume wurde öfters aufs Schloß gefordert und ausgefragt, wie man nachdrücklicher gegen sie verfahren könne. Er warnte aber dringend vor jeder Gewalttat und mahnte, der Zeit ihr Recht zu lassen. »Es kann dem Orden wenig nützen, gezwungene Freunde zu haben«, sagte er. »Begnügt Euch vorläufig mit denen, die Euch mit treuem Herzen anhängen jeder Fährlichkeit zum Trotz. Mir ahnt, daß bald der Tag kommen wird, an dem auch die Blinden sehen, wohin man sie führen will. Dann nützt es, sie an die Hand zu nehmen. Habt Geduld!«

Bei solchen Gelegenheiten sah ihn wohl auch der Hochmeister. Er kannte ihn schon von der Zeit her, als er Kumpan des Hochmeisters Paul von Rußdorf war, und schätzte ihn hoch wegen seiner persönlichen Ehrenhaftigkeit und treuen Anhänglichkeit an den Orden. Er hatte erfahren, daß durch seine Vermittlung die Waldfrau dem kranken Vetter zugeführt sei, und glaubte ihn deshalb auch jetzt ins Vertrauen ziehen zu können.

Eines Tages nach Erledigung der Geschäfte nahm er ihn in sein Gemach, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Lieber Getreuer, es liegt mir etwas schwer auf dem Herzen, das wohl mit Eurer Hilfe abgewälzt werden könnte. Es geht nicht den Orden und nicht das Land an, sondern mich allein. Wollet freundlich zusehen, ob Ihr mir einen Dienst leisten möget, den nur Gott lohnen kann. Eurer Verschwiegenheit glaub' ich auf alle Fälle sicher zu sein.«

»Das seid Ihr, gnädigster Herr«, antwortete der Bürgermeister, die Hand auf die Brust legend. »Sprecht ohne Scheu und seid auch dessen gewiß, daß ich helfe, wie ich vermag.«

Herr Ludwig bot ihm einen Sessel und setzte sich ihm gegenüber auf das Wandpolster. »Wisset denn«, begann er, »daß bei den Ärzten des verstorbenen Hochmeisters viel Unzufriedenheit daraus entstanden war, daß man eine Waldfrau zu ihm gelassen hatte, zu deren Heilkunst man sich großen Trostes versah. Sie nannten sie eine Hexe und brachten es durch ihre Klagen bei den Gebietigern dahin, daß ich eine Untersuchung zusagte, ob sie dem Kranken durch einen Trank von merklich scharfem Geruch Schaden zugefügt nicht nur am Leibe, sondern auch an der Seele, da er die letzte Ölung in bewußtlosem Zustand empfing.«

Blume wurde unruhig. »Was da geschehen, gnädigster Herr«, sagte er, »ist auf keines geringeren Geheiß geschehen als des hochwürdigsten Herrn Bischofs Franziskus von Ermland, und hoffe ich wohl entschuldigt zu sein, wenn ich dessen Wort traute, daß es nichts Unrechtes sei. Ich leugne nicht, daß ich auf seine Bitte meinen Sohn nach der Waldfrau abgeschickt habe.«

»Es war gewißlich nichts Unrechtes«, versicherte der Hochmeister. »Aber Euch ist bekannt, daß sich jetzt überall in deutschen Landen ein großes Geschrei gegen die Hexen anzuheben beginnt, die man des Bündnisses mit dem Teufel bezichtigt. Mag mir Gott verzeihen, wenn ich solches Bündnis für Aberglauben erachte; auch unterwerfe ich mich der Kirche Meinung. Daran ist aber kein Zweifel, daß in diesem Falle der ungerechteste Verdacht ausgesprochen worden. Ich weiß nicht, wie traurig es trotzdem der armen Frau ergangen wäre, wenn ich nicht dem Verhör selbst beigewohnt und die Gefahr abgewendet hätte. Erfahret denn, was bisher niemand erfahren hat und niemand außer Euch erfahren soll: Die Waldfrau ist mir von alter Zeit her wohlbekannt. Damals führte sie ein gar vornehmes Hauswesen und war hoch angesehen im Kreise der Angesehensten. Dann traf sie ein widriges Geschick, daß sie mit der Welt verfiel und sich in die Einsamkeit der Wildnis zurückzog, den Menschen für tot geltend. Auch mir, der ich sie hoch verehrt hatte! Ermesset nun meine Verwunderung, da ich sie unvermutet so wiederfand.«

»Marcus hat sich also nicht getäuscht«, sagte der Bürgermeister, erfreut über diese Wendung. »Wie er die Frau schildert, erklärt sich ihre Hoheit aus solcher Vergangenheit. Ich selbst sah sie nicht. Nur ihre Tochter –«

»Ja, ihre Tochter«, fiel Herr Ludwig erregt ein. »Sie hat eine Tochter – und dieses Kindes wegen ist es eben geschehen, daß sie die Einsamkeit suchte. Was sie geheimhält, darf ich vor Euch nicht ans Licht ziehen. Mag es Euch genügen zu wissen, daß mir dieses Kind – der Mutter wegen – sehr am Herzen liegt. Es dauert mich, daß ein so junges Ding, dem die Natur leibliche und geistige Gaben in Fülle verliehen, die besten Jahre des Lebens in einer einsamen Waldhütte verbringen soll, von niemand gesehen, als von den Kohlenbrennern und Beutnern des Reviers oder von den Kranken, die der Waldfrau Beistand in ihren Nöten anrufen. Gern wollte ich mich des lieben Kindes annehmen und ihm eine Erziehung geben, wie sie sich für solcher Mutter Tochter schickt, gern ein ansehnliches Jahrgeld aussetzen zu Pflege und Kleidung und zu Ersparnissen für die Zukunft. Aber mehr als dem gemeinsten Mann sind mir die Hände gebunden, daß ich nur heimlich solche Wohltat üben und mich derselben erfreuen kann. Finde ich keinen vertrauten Freund, der mir hilfreiche Hand leiht, so ist all meine Sorge umsonst. Ich kenne aber nur einen, an den ich mich mit solcher Bitte wenden möchte – und der seid Ihr.«

Blume merkte nun wohl, worauf des Hochmeisters Werbung zielte. Er war sehr bedenklich geworden, ließ sich rasch durch den Kopf gehen, was etwa von ihm gefordert werden und was er leisten könne, saß mit gekniffenen Lippen da und sagte endlich, da der hohe Herr schon Zeichen von Ungeduld gab: »Ich bin Eurer Gnade gar sehr dankbar, daß Ihr mich solchen Vertrauens würdigt, und tat Euch auch gern vieles zuliebe, das ich einem andern weigerte. Ob ich Euch aber in diesem Fall nach Wunsch raten und taten kann ... Lasset hören, gnädigster Herr, was Euer Begehr ist, und zürnet mir nicht, wenn ich Euch darauf eine Antwort gebe, wie ich sie nach den Umständen zu geben vermag.«

Der Hochmeister faßte seine Hand und sah ihm mit einem brennenden Blick in die gutmütigen blauen Augen. »Es gibt nur eins, was hier helfen kann«, entgegnete er, »darüber bleibt mir kein Zweifel. Weigert Ihr mir das, so wüßte ich Eures Rates kaum zu gebrauchen, wie sehr ich ihn zu anderer Zeit schätze. Gebt Ihr aber in diesem einen freundlich nach, so will ich daraus erkennen, daß Ihr mir wahrhaft ein Freund seid, und Euch zeitlebens dankbar bleiben. Nehmt Ursula in Euer Haus!«

Die Hand Blumes zuckte unter der seinigen. Es war ausgesprochen, was er erwarten mußte und doch nicht ohne Beklemmung hören konnte. Er suchte einen Abweg. »Gnädigster Herr«, sagte er, »bedenket wohl, was Ihr tut, daß es Euch nicht hintennach gereue. Ist es wirklich eine Wohltat, die Ihr dem Kinde erweist, wenn Ihr's der Mutter entfremdet, der es am Herzen hängt? Ihr selbst seid der Meinung, daß die Frau durch ihr widriges Geschick genötigt ist, in ihrer Waldhütte zu bleiben und sich vor der Welt verborgen zu halten. Dieses Kind ist ihre einzige Freude. Wollet Ihr sie um die bringen? Wie möget Ihr erwarten, daß sie einwilligt, sich von ihrem Kinde zu trennen, damit es bei fremden Leuten untergebracht werde. Und wenn sie nachgibt – wird nicht Ursula sich weigern, die Mutter zu verlassen, oder immerdar mit sehnsüchtigen Gedanken zu ihr zurück verlangen. Was könnte ihr mein Haus bieten, daß sie vergäße, wo ihre Heimat ist?«

Ludwig von Erlichshausen schüttelte den Kopf. »Ihr mißversteht mich«, antwortete er. »Es ist wahrlich meine Absicht nicht, Mutter und Tochter voneinander zu reißen und für immer zu trennen. Wie könnt' ich beiden das antun, da ich doch auf ihr Wohl denke? Nein, lieber Getreuer! Es ist nur mein Wunsch, daß Ursula vorerst einen Winter hier in der Stadt Marienburg, in meinem Schutz und gleichsam unter meinen Augen, als Gast eines befreundeten Hauses zubringe, dann aber wieder zur Mutter zurückkehre. Ich habe guten Grund zu glauben, daß Frau Regina einsichtig handeln, meinen Rat annehmen und zum Besten des geliebten Kindes solche kurze Unterbrechung des Beisammenseins bewilligen wird. Ursula aber ist jung und lebenslustig. Es wird ihr gar lockend erscheinen, einmal die Stadt mit dem Walde zu tauschen, der ihr ja doch bleibt, wenn er am schönsten ist. Sie war schon bei Euch, wenn auch nur einen Tag, kommt ja nicht zu Fremden. Und wenn Ihr sie meinetwegen haltet wie ein Hauskind, wird ihr auch wohl bei Euch werden. Eure Tochter ist in ihrem Alter. Ihre Gespielinnen werden sie gern in die Mitte nehmen. Euer Sohn führt ihnen muntere Gesellen zu, mit denen sie sich an den langen Abenden bei Spiel und Tanz vergnügen. Kommt fahrendes Volk aufs Schloß, so gibt's auch für die Städter etwas zu schauen. Die Jahrmärkte bringen buntes Leben; da regen sich die Wünsche, dies und das zu besitzen, was an schönen Kleiderstoffen, Goldstickerei und Schmuck in den Buden ausgelegt ist. Zu den Tagfahrten bringt mancher vom Landadel seine jungen Söhne und Töchter mit, sie hier zu vergnügen, und auf dem Rathause gibt's dann ein Fest. Für einen Lehrer in literis et musicis will ich selbst sorgen. Unter den Priesterbrüdern im Schloß ist einer, der in Italien war, viel Wissenswertes in sich aufgenommen hat und auch die freien Künste der Musik und des Gesanges meisterlich betreibt. Den sende ich dem jungen Fräulein wöchentlich zwei- oder dreimal. Da müßt's wunderlich zugehen, wenn Eurem Gast die Langeweile beschleichen oder die Sehnsucht nach dem eingeschneiten Walde grämlich stimmen sollte. Nein, nein! Mein Vorschlag ist nicht so unüberlegt. Steht mir nur bei, daß er ausgeführt werden kann!«

Er hatte mit steigender Wärme und zuletzt in ganz heiterem Ton gesprochen, als ob ihn selbst die Weltlust anwandelte. Die oft so müden Augen öffneten sich weit und glänzten lebhaft; die Falten auf der Stirn waren wie ausgelöscht. Er hielt Blume die Hand hin und rief fröhlich: »Schlagt ein, Lieber, und gestattet dann auch, daß ich mich von Zeit zu Zeit einmal bei Euch einlade, mein Mündel zu besuchen. Es wird meine Trübsal sänftigen und meinen Lebensmut erfrischen.«

Der Bürgermeister legte zwar die Fingerspitzen auf die dargebotene Hand, zog sie aber gleich wieder zurück. »Eure Gnade darf mich nicht übereilen«, erwiderte er bedächtig, aber doch nicht unfreundlich und bald sogar mit einem schalkhaften Lächeln. »Ihr sprecht, was ja auch Eure Ritterschaft mit sich bringt, wie ein Mann, der nicht weiß und beachtet, was im Hause die Frau zu bedeuten hat. In die Amtsgeschäfte darf mir die meine nicht hineinreden und ist auch klug genug, von selbst zu wissen, was ihr ziemt. Aber ob ich mir ein fremdes Fräulein ins Haus nehme und als Pflegekind halte ... ja, gnädigster Herr, da hat sie doch ein Wort mitzusprechen. Und nicht nur ein Wort mitzusprechen, sondern recht eigentlich allein die Bestimmung zu treffen. Denn seht, so klug bin ich andererseits auch, daß ich um solcher Dinge willen keinen Zank anfange, die doch nur bei friedlichem Einverständnis gedeihen können. Darum erlaubt, daß ich vorerst mit der Bürgermeisterin spreche. So still sie im Hause waltet, sie hat da doch das Regiment.«

Herr Ludwig zog die Lippe zwischen die Zähne, aber mehr um sich das Lachen zu verbeißen, als aus Ärger über diesen Widerspruch. »Dagegen kann ich nichts einwenden«, sagte er. »Befragt die Bürgermeisterin und empfehlt mich ihrer Geneigtheit. Ich zweifle nicht, daß die gute Frau zustimmt, wenn Ihr meine Sache willig und gut bei ihr führt. Versprecht Ihr mir das?«

»Das versprech ich ohne Hinterhalt«, antwortete Blume, sich erhebend. »Ich will mir's überlegen, wie ich ihr's am geschicktesten beibringe, daß sie nicht gleich zu Anfang scheu wird. Denn bei den Weibern kommt's meisthin auf den ersten Eindruck an. Ist der ungünstig, so mögen hinterher leicht die besten Gründe verschwendet sein. Zum Glück hab ich diesmal gute Bundesgenossen: den Kindern kann ich nicht größere Freude bereiten als durch diesen Gast.«

Der Hochmeister dankte und entließ ihn, sehr erleichtert durch diesen Ausgang des Gesprächs, von dessen Nachwirkung er sich guten Erfolg versprach.

Nicht ebenso befriedigt fühlte sich Bartholomäus Blume. Was er soeben erfahren hatte, reichte nicht aus, ihm vollständige Einsicht in die Sachlage zu geben. Offenbar hielt der Hochmeister mit seiner Eröffnung so weit als irgend möglich zurück. Wie sich ihm der Fall darstellte, mußte ihm dessen Verhältnis zu der geheimnisvollen Waldfrau durchaus rätselhaft erscheinen. Sie selbst wurde ihm noch unverständlicher. In welcher Beziehung hätte der Deutschordensritter zu ihr stehen können? Wo waren diese Beziehungen angeknüpft worden? Was war geschehen, daß eine Frau vornehmen Standes sich in die Wildnis flüchtete? Dazu mit einem jungen Kinde! Gewisse Vermutungen ließen sich kaum abweisen. Sie durften nur nicht ausgesprochen werden. Und sie konnten auch irrig sein. Was wär's ihn sonst angegangen? Aber daß nun sein Haus... Wer konnte wissen, was die Zeit enthüllte, wenn doch einmal am Schleier des Geheimnisses gezupft wurde? Und daß Frau Christine daran zupfen werde, war ihm gewiß. Nicht aus Neugierde – sicher nicht. Aber sie hatte die Dinge, mit denen sie zu tun haben sollte, allemal gern hübsch durchsichtig und machte sich, wenn die Reime nicht stimmen wollten, einen Vers auf eigene Hand: So ist's, und davon bringt mich niemand ab. Wie würde sie sich hier die Tatsachen zurechtlegen, um zu einem Urteil zu gelangen? Er glaubte es im voraus zu wissen und meinte ihr nicht einmal Unrecht geben zu können.

Langsam schritt er durch die Marktstraße seinem Hause zu, den Kopf etwas vorgebeugt und gesenkt, so daß ihm das lange Haar einen Teil des Gesichts verschattete und von seitwärts gesehen nur die starke Nase achtunggebietend vortrat. Die wenigen Bürger, die sich auf der Straße oder unter den Lauben zeigten, grüßten respektvoll das Haupt der Stadt, ohne darauf zu rechnen, bemerkt zu werden. Die Stadt war um diese Zeit fast menschenleer. Es ging gegen den Herbst, und jeder, der draußen ein Stück Acker eigentümlich besah oder vom Gemeindelande zugeteilt erhalten hatte, sorgte rechtzeitig für die Feldbestellung. Auch die Handwerker waren jetzt nicht bei ihrer gewöhnlichen Arbeit. Jeder Hausbesitzer hatte seine Scheuer vor dem Tor und war mit dem Einbringen der Heu- und Gemüseernte oder mit dem Ausdrusch des Getreides beschäftigt. Erst spät, wenn der Stadthirte das Vieh einbrachte, wurde Feierabend gemacht.

Bartholomäus Blume wußte, daß er auch seine Frau und Kinder nicht zu Hause treffen würde. Ihm gehörte ein Gütchen in der Nähe der Stadt, seinem Vorfahr verliehen, der einst ihr Mitbegründer gewesen war. Es befand sich darauf ein einfaches Landhaus mit Brettergiebel und Vordach, aber von alten, schattigen Linden überragt, die weithin sichtbar waren. Dort wohnte er mit seiner Familie im Sommer, so freilich, daß er selbst sich meist den halben Tag in der Stadt aufhielt, um seinen kaufmännischen und Amtsgeschäften obzuliegen, öfters auch bei starkem Schiffsverkehr auf der Nogat eine Woche ausblieb und sich mit den Diensten einer alten Magd begnügte. War das Wetter gut, so ging er zu Fuß hinaus, am liebsten entlang dem hohen Ufer des Flusses, von dem er eine weite Überschau auf Wasser und Land hatte.


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