Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Drittes Kapitel

Das Waldhaus

Der Vogt hatte einen wegkundigen Diener mitgenommen. Er ritt mit zwei Handpferden voraus, die einiges Gepäck an wollenen Nachtdecken und Furage trugen, denn man konnte nicht wissen, wie bald man abgefertigt würde. Der Vogt hatte sich ein großes mit Edelsteinen besetztes Kreuz aus des Bischofs Tresor an goldener Kette um den Hals gehängt und einen weißen Mantel, wie ihn die Ordensritter zu tragen pflegten, umgebunden; außer dem Schwert trug er keinerlei Rüstung. Marcus hatte das seine am Gurt über den Sattelknopf geworfen. Der Knecht trug hinten am Sattel eine Armbrust. Ganz ohne Waffen wagte man sich nicht leicht weit aus den Häusern hinaus, schon des wilden Getiers wegen, das die Wälder, zumal in später Jahreszeit, unsicher machte.

Der Reitweg bog bald von der Landstraße ab in ein Waldtal, durch welches sich in anmutigen Windungen ein Flüßchen schlängelte. Sie ritten dem Lauf desselben entgegen. Er war jetzt von dem Herbstregen angeschwollen und rauschte an einigen Stellen recht vernehmlich über sein Steinlager hin. Die Waldbäume hatten schon viel gelbes Laub abgeworfen, das nun hinter den Hufen der Pferde rasselnd aufflog. In den Wipfeln der hohen Kiefern weiter aufwärts trieben die Krähen mit lautem Gekrächze ihr Wesen. Von Zeit zu Zeit wurde ein Reh oder ein Wildschwein aufgescheucht, auch ein Hirschgeweih durch das Unterholz sichtbar. »Das Getier nimmt überhand«, bemerkte der Vogt, »da ihm in unseren Wäldern wenig nachgestellt wird. Ginge nicht in den kalten Wintern viel davon zugrunde, so wäre die Plage bald sehr empfindlich. Auch räumen die Wölfe dann mit dem Wild auf und sind selbst nicht sonderlich gefährlich, wenn sie satt zu fressen haben. Nur einem hungrigen Rudel muß man nicht begegnen. Treiben sie's einmal zu arg, so ziehen die Bauern mit Knütteln und Dreschflegeln gegen sie aus.«

Der Pfad wurde so schmal, daß man hintereinander reiten mußte und doch mitunter die dicken Stämme streifte, die schon Jahrhunderte durchlebt haben mochten. An einer etwas lichteren Stelle wies der Vogt mit der Hand nach dem Fluß. Er war hier durch einen Damm von Stämmen, Ästen, Wurzeln und Steinen künstlich aufgestaut. »Das ist der fleißigen Biber Arbeit«, sagte der Vogt. »Dahinter haben sie ihren künstlichen Bau. Halb im Wasser und halb darüber. Im oberen Stockwerk wohnen sie trocken, im unteren sammeln sie ihren Wintervorrat. Aus beiden haben sie ihren Ausgang. Sind gar kluge Tiere, so dumm sie mit ihren kleinen Augen und platten Nasen aussehen. Ich will nicht alles glauben, was die Jäger von ihnen erzählen, aber das ist gewiß, daß sie ganz regelrecht die Stämme, die sie zu ihrem Bau brauchen, rundherum abnagen und nach dem Fluß hin zu Fall bringen: er schwemmt sie ihnen dann hinab, wohin sie's haben wollen. Vordem sollen sie in dieser Gegend noch häufiger gewesen sein; aber man stellt ihnen des Pelzes wegen trotz der schweren Strafen, die darauf gesetzt sind, allzu arg nach. Auch ist das Bibergeil eine gesuchte Ware bei den Apothekern, die es als ein krampfstillendes Arzneimittel brauchen. Fragt einmal bei der Waldfrau an; sie wird gewiß darüber die beste Auskunft geben können.«

Marcus sah eine Weile aus der Ferne dem Hausbau neugierig zu. Sobald die Tiere die Annäherung von Menschen merkten, verschwanden sie unter dem Wasser. Der Knecht hätte gar zu gern auf sie Jagd gemacht, aber sein Herr befahl, sie nicht zu beunruhigen Bald darauf strebte der Pfad am Ufer hinauf und setzte sich auf der Höhe durch den dichten Wald fort, um endlich in einen etwas breiteren Weg einzumünden. Er führte zur Waldkapelle, neben welcher in einem einfachen Blockhause der Kaplan wohnte. Der Vogt ritt ans Fenster und rief ihn hinaus. Es war sein Begehr, daß er mitkäme und der Waldfrau gut zuspräche, wenn sie störrisch sein sollte. »Es war ohnedies meine Absicht, noch nach dem Waldhause zu gehen«, sagte der junge Geistliche. »Ich lese öfters des Abends eine Stunde mit Ursula zu ihrer Übung, und die Mutter hört zu.«

»Die wilde Katze hat lesen gelernt?« fragte der Vogt verwundert.

»Oh, sie ist eine sehr gelehrige Schülerin«, versicherte der Kaplan, »und weiß oft mehr zu fragen, als ich ihr zu beantworten vermag. Den Grund hatte sie schon bei ihrer Mutter gelegt, die gut unterrichtet ist. Ursula will so klug werden wie sie.«

Das stimmte nun wenig zu der Beschreibung des Vogts und machte Marcus noch begieriger, die seltsamen Frauen kennenzulernen. Unterwegs erkundigte der Kaplan sich viel nach Thorn. Es sei seine Vaterstadt, sagte er; er wäre der Sohn eines Handwerkers, der dort noch lebe. Ob es denn wahr sei, daß die Bürger dem Orden abstrebten und den Bund mit der Landesritterschaft erneuert hätten? Marcus war nicht lange vorher in der großen Weichselstadt gewesen, kaufmännische Geschäfte zu besorgen, und hatte von seinem Freund Jost vom Wege, des Bürgermeisters Sohn, viel über die Zeithändel erfahren. Davon sprach er nun. »Der ganze Handel der Stadt geht nach Polen«, meinte er, »und ihren großen Reichtum hat sie gewonnen durch das Niederlagerecht; danach versteht man's, daß sie im Frieden bleiben und ihre Freiheit wahren möchte – hoffentlich nicht zu des Ordens Schaden.«

»Die Frage ist nur, auf welche Seite die Stadt sich stellt, wenn es doch zum Kriege kommen müßte«, gab der Kaplan zu bedenken. »Ich war dort noch auf der Schule, als der Lärm wegen des Bundes anhub. In der Stadt sind alte adlige Geschlechter, die keine Kränkung des Ordens zulassen möchten. Aber im Rat sind sie in der Minderheit. Die Handwerker waren allezeit von ihm ausgeschlossen und hielten treu zum Orden, der sie vor Bedrückung schützte.«

»Man wird sich auf beiden Seiten still verhalten, solange der Herr Hochmeister lebt«, antwortete Marcus. »Was nach seinem Tode folgt, weiß niemand. Wir in Marienburg können nur wünschen, daß der Orden bei Kräften bleibe und die großen Städte den kleinen nicht allzusehr über den Kopf wachsen lasse.«

Unter solchen Gesprächen hatten sie ihren Weg eine Strecke durch den Wald fortgesetzt. Marcus Blume und der Vogt waren abgestiegen und führten ihre Pferde am Zügel. Nach einer halben Stunde gelangten sie an einen mannshohen Zaun von aufrecht dicht aneinander gestellten und oben gespitzten Pfählen. In einiger Entfernung dahinter wurde das Rindendach eines kleinen Hauses sichtbar. »Wir sind zur Stelle«, sagte der Kaplan.

Der Knecht sprang ab und wollte die Tür öffnen. Sie war aber von innen verriegelt und gab nicht nach. Auf des Vogts Geheiß klopfte er nun an, erst mit der Faust, dann, da man nicht darauf schien achten zu wollen, mit dem Kolben der Armbrust. Innen kläfften ein paar Hunde. Auch ließ sich zwischenein das Geheule eines anderen Tieres vernehmen. »Das ist der Wolf«, sagte der Vogt, »die Bestie muß indessen ausgewachsen sein. Wie kommt Ihr denn hinein?« wandte er sich an den Kaplan.

»Ich gebe ein Zeichen, wenn ich allein bin«, antwortete derselbe. »Jetzt begleite ich Euch aber nur und möchte die Frauen nicht in Irrtum versetzen. Wartet nur geduldig, es wird sich schon jemand melden.«

Nach einer Weile erkundigte sich denn auch eine helle Stimme, wer da sei. »Macht auf«, rief der Vogt, »bringt aber erst die Hunde zur Ruhe. Wir kommen vom Heilsberger Schloß in des Herrn Bischofs Auftrag.«

»Wer seid ihr denn?« wurde weiter gefragt.

»Der Schloßvogt und des Bürgermeisters von Marienburg Sohn, Marcus Blume, den der Herr Bischof geschickt hat.«

»Ich darf nicht öffnen ohne der Mutter Befehl, und sie wird erst erfahren wollen, was Euer Begehr ist.«

»Ich bin mit den Herren, Ursula«, mischte sich nun der Kaplan ein. »Sagt nur Frau Regina, es hätte so seine Richtigkeit. Sie bringen ein Schreiben Sr. Gnaden.«

Auf den Türpfosten war ein Rabe geflogen. Er streckte den Hals aus und schien sich überführen zu wollen, daß für seine Herrin keine Gefahr sei.

Dem Kaplan nickte er vertraulich zu. Als aber der Knecht die Hand nach ihm ausstreckte, sträubte er das Gefieder und hackte mit dem Schnabel dagegen, laut krächzend. Er bewachte dann die Tür, bis seine Herrin zurückkehrte. »Die Mutter vertraut Euch, hochwürdiger Herr«, ließ sich wieder die helle Stimme vernehmen, »will jedoch zuvor mit Euch allein sprechen«. Nun knarrte der schwere Riegel und die Tür ging auf. Ein Mädchenkopf, ganz von goldblondem Haar umwallt, blickte hinter derselben vor. Die großen Augen musterten rasch die Fremden und hafteten eine kurze Weile auf Marcus, der eilig die runde, pelzverbrämte Mütze gezogen hatte. Der Kaplan wurde eingelassen; dann schloß sich wieder das Tor und der Riegel. »Da seht Ihr, wie vorsichtig unsere Waldleute sind«, sagte der Vogt, »sie trauen nicht einmal des Herrn Bischofs Schrift und Siegel.«

Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich von innen wieder Schritte näherten. Aber Marcus wurde sie nicht lang. Es war ihm wie einem, der in die Sonne gesehen hat und nun die glänzende Scheibe immer vor sich hintanzen sieht, wohin er auch blicken mag. Der Kopf mit dem rötlich schillernden Goldhaar und den märchenhaft großen Augen wollte nicht weichen, auch wenn er die Lider schloß. Zu des Vogts Erzählung wollte die Erscheinung doch nur sehr bedingt passen. Auch jener schien mit seiner Erinnerung zu vergleichen. »Da habt Ihr nun gleich den Irrwisch gesehen«, sagte er lachend. »Aber ich bin erstaunt, wie verständig er sich benimmt; die Pferde sind nicht einmal scheu geworden. Auch bei so einem Ding tun in diesem Alter ein paar Jahre viel. Das Haar freilich brennt noch immer wie höllisches Feuer. Habt Ihr wohl bemerkt, wie die Sonne den Kopf streifte?«

Ursula öffnete nun wieder, hielt sich aber hinter der Tür versteckt.

»Ihr dürft eintreten, Herr Vogt«, sagte sie, »und auch den Fremden mitbringen. Der Knecht mag draußen bei den Pferden bleiben.«

»Wollt Ihr ihnen nicht drinnen etwas trockenes Heu reichen?« fragte er. »Das Waldgras ist schon bitter, und sie haben hier auch keinen Schutz gegen den Wind.«

»Ich denke, Ihr werdet bald wieder abreiten«, antwortete das Mädchen. »Einen Arm voll Heu werde ich dem Knecht über den Zaun werfen.«

»Sind wir sicher, daß uns nicht der Wolf anfällt?«

Ursula lachte hell auf. »Der liegt an der Kette. Er hat in letzter Zeit zu viel Unfug getrieben. Ihr habt nichts zu fürchten.«

»Ich sag's nicht meinetwegen«, bemerkte der Vogt eintretend, »aber mein junger Freund hier könnte über die Bestie erschrecken, wenn sie ihn plötzlich anheult. Ich hab' ihn freilich schon unterrichtet, in was für Gesellschaft die kleine Hexe zu treffen ist.«

»Nennt mich nicht eine Hexe«, rief sie in unwilligem Ton. »Ich habe noch niemand behext und will solcher dummen Reden wegen nicht vor des Herrn Bischofs Gericht kommen.«

Marcus folgte ihm auf dem Fuße. Als er hinter sich den Riegel vorschieben hörte, wandte er rasch den Kopf zurück. Ursula kehrte ihm noch den Rücken zu. Ihr Haar war nicht sonderlich lang, aber dicht und kraus, so daß es rundum von den Schultern abstand. Sie trug ein kurzes Mieder von dunklem Zeuge und einen roten Rock. Man konnte keine schlankere, zierlichere Gestalt sehen. Sie hatte mit beiden Händen die Riegelstange erfaßt, lehnte sich dagegen und drückte sie in die eiserne Haspe. »Darf ich Euch helfen?« fragte Marcus, einen Augenblick stillstehend.

»Dessen bedarf's nicht«, entgegnete sie. »Geht nur ins Haus.«

Er stand wie gebannt. Jetzt wendete sie ihm auch halb das Gesicht zu und errötete sichtlich. Sie blickte scheu um, wie sie sich ihm aufs schnellste entziehen könne, und huschte mit einigen raschen Sprüngen in einen stallartigen Anbau am Zaun, vor dem die Hundehütten aufgestellt waren. »Der Irrwisch ist sie doch immer noch«, bemerkte der Vogt.

Der Zaun hegte einen kleinen Garten vor dem Hause ein. Entlang demselben standen einige Obstbäume, die zum Teil noch mit Früchten belastet waren. Der Raum davor war in Gemüsebeete eingeteilt und schon abgeerntet. Ein Volk Hühner kratzte darauf herum. In einem Tümpel schnatterten Enten. Auf einer Stange, die sich aus einer kleinen Öffnung am Hausgiebel vorstreckte, saßen Tauben. Auf einem Grasfleck waren zwei Ziegen angepflöckt, und in einem Kober unter dem weit vorspringenden Rindendach grunzten Schweine; der Platz davor war durch einen Strauchzaun abgegrenzt, über den sich der Kürbis gerankt hatte. Im Winkel dahinter erhoben sich einige Stauden Sonnenglanz. Das Haus selbst war von rohen Baumstämmen ausgezimmert, deren Fugen sich mit Lehm und Moos verdichtet zeigten. Kleine Einschnitte bedeuteten Fenster, wahrscheinlich von innen durch Laden schließbar. Durch eine Laube von Waldefeu gelangte man zur Tür, die aus zwei Teilen bestand. Blieb der obere offen, so fiel etwas Licht in den Flur, während der untere doch dem Getier auf dem Hof das Haus versperrte. Links nahm der Küchenraum dessen ganze Breite ein. Hier war ein niedriger Herd ausgemauert, über dem ein Kessel hing. Der Rauch mußte durch das Dach abziehen. An den Sparren hingen Fische zum Trocknen, aber auch Kräuterbündel und Säckchen. Rechts hatte man eine Wand mit zwei Türen. Aus der vordersten kam ihnen der Kaplan entgegen und bat einzutreten.

Marcus sah sich in einer kleinen und niedrigen Stube mit Balkendecke, wohnlich eingerichtet. Von einem Lehnstuhl am großen Lehmofen hatte sich eine Frau erhoben, die ein langes schwarzes Gewand trug und ein ebenfalls schwarzes Tuch über den Kopf geworfen hatte, so daß von dem Gesicht wenig mehr als die fast stechend leuchtenden Augen sichtbar blieb. Sie streckte die Hand vor, als ob sie den Eintretenden schon nahe der Tür Halt gebieten wollte, und sagte: »Ich habe erfahren, weshalb Ihr kommt, Herr Marcus Blume, und hätt' Euch schon draußen am Tor meine Antwort sagen lassen können. Aus schuldiger Ehrfurcht vor dem hochwürdigsten Herrn Bischof, der Euch schickt, rief ich Euch hinein, damit Ihr unter meinem Dach ausruhen möget, wie ein willkommener Gast. Daß Ihr es aber sogleich wisset: Eure Reise war umsonst, denn meine Waldhütte verlasse ich nicht, außer zum Gang nach der Kapelle, mag auch Seine Gnade mich abberufen.«

Die Stimme hatte einen wundersam tiefen Klang; dabei setzte jedes Wort deutlich ab, als ob es ein für allemal verstanden sein wollte. Marcus hatte sich unter der Waldfrau ein altes Mütterchen von bäuerlichem Wesen vorgestellt und war nun nicht wenig überrascht von der vornehm aufrechten Gestalt und gewählten Redeweise. Er verbeugte sich unwillkürlich tief und antwortete nicht ohne Schüchternheit: »Wollet gleichwohl des Herrn Bischofs Brief lesen, verehrte Frau, der mir für Euch anvertraut ist. Kann er Euch nicht auf andere Gedanken bringen, wie ich hoffe, so werde ich mich seiner doch nach Befehl entledigt haben. Es ist Eure Pflicht, ihn zu lesen und Euch danach erst zu entscheiden. Wahrlich, eine wichtige Ursache muß es haben, wenn der Herr Bischof aus der Marienburg eine solche Botschaft an Euch richtet.«

»Gebt denn«, sagte sie nach einigem Bedenken. »Es soll keine schuldige Form versäumt werden.«

Marcus zog den Brief aus der Gürteltasche, trat einige Schritte auf sie zu und überreichte ihr denselben. »Möge dieses Schreiben Kraft haben, Euer Herz milde zu stimmen«, fügte er hinzu, »damit unser gütiger Herr Hochmeister Hoffnung gewinne, von seiner schweren Krankheit erlöst zu werden. Das walte Gott!« Er blickte dabei zu ihr auf und sah nun unter dem Tuche ein edelgeformtes, hageres und bleiches Gesicht. Das im langen Scheitel herabhängende graue Haar ließ nur einen kleinen Teil der Stirn frei. Die Augen musterten ihn ernst. Sie nahm den Brief, wobei ihm die schmale Hand auffallen mußte, und trat damit dicht an die Fensteröffnung. »Setzt Euch, bis ich gelesen habe«, sagte sie in fast gebieterischem Ton, indem sie nach der Eckbank deutete. »Ursula!« rief sie hinaus, »bringe für die Gäste eine Kanne Met herein. Sie werden nach dem Ritt durstig sein.«

Sie las das Schreiben stehend, offenbar mit großer Aufmerksamkeit. Indessen trat Ursula von der Kammer her ein, unter deren erhöhtem Fußboden sich wohl der Keller befand. Sie trug auf dem Arm die Kanne von glasiertem, mit einfachen Ornamenten verziertem Ton und in der Hand ein paar Becher von Zinn. »Trinkt«, sagte sie, indem sie mit zierlicher Bewegung einschenkte.

»Trinkt's uns vor«, antwortete Marcus schnell, »so schmeckt's uns um so besser, Jüngferlein.« Er war ob seiner Kühnheit selbst so erschrocken, daß er die Augen niederschlug und bis zur Stirn hinauf errötete. Sie aber setzte ohne alle Ziererei den Becher, der vor ihm stand, an die Lippen und netzte dieselben ein wenig. »Die Mutter hat mich gelehrt, das sei Gastrecht«, sagte sie, »und dem will ich nichts vergeben.«

Sie reichte ihm den Becher zu. Seine Hand streifte ihren kleinen Finger; es war ihm, als ob Feuer davon ausging. »Auf des Herrn Hochmeisters baldige Genesung«, rief er und stieß mit dem Vogt an, der kräftig Bescheid tat, aber doch bemerkte: »Mir habt Ihr nicht zugetrunken, Jungfer. Für den Graubart ist das nichts, meint Ihr. Ja, als ich auch noch so ein jung Bürschlein war, dem kaum der Flaum auf der Lippe keimt...«

»Ich glaubte, Ihr hättet Furcht vor mir«, entgegnete sie spöttisch. »Wißt Ihr noch damals, als Ihr mich unversehens im Walde trafet« – sie lachte hell auf –, »da bliebt Ihr absichtlich immer zehn Schritt hinter mir zurück und schlugt das Kreuz öfters in einer halben Stunde als sonst wahrscheinlich in einer halben Woche.«

»Ei, ei! Besinnt Ihr Euch dessen noch?« schmunzelte der Vogt. »Es ist lange her. Seitdem seid Ihr hübsch ausgewachsen, tragt das Haar nicht mehr so wirr und schaut auch aus den Augen nicht ganz so koboldmäßig wild. Wer Euch jetzt im Walde begegnet, mag nicht mehr erschrecken; möcht' ihm aber doch raten, sich vor Euch in acht zu nehmen. Denn ein ganz klein Teufelchen steckt sicher in Euch – ich weiß schon, von welcher Art.«

»Meint Ihr das auch?« fragte sie Marcus und sah ihn dabei mit den großen dunkelblauen Augen recht unschuldig an, daß es ihm bis ins Herz fuhr. »Mit Euren Stadtdamen mag ich mich wohl nicht vergleichen, die in seiner Sitte erzogen sind, aber der geistliche Herr, hoff' ich, wird mir das Zeugnis geben, daß ich's an Frömmigkeit nicht fehlen lasse, und so darf Euch der Herr Vogt auch im Scherz nicht beunruhigen.«

Der Kaplan nickte freundlich. Marcus nahm ihre Hand und sagte: »Hättet Ihr Flügel, so würde ich Euch aus einem von den Bildern herausgestiegen wähnen, die unser Meister in Marienburg so schön malt. Seine Engel haben auch so sonniges, flatterndes Haar und so übermenschliche Augen ... Ihr solltet sie einmal sehen.«

Nun lachte sie wieder und zog rasch ihre Hand fort, indem sie sich abwendete. »Ihr scherzt noch schlimmer als der Vogt«, schmollte sie. Draußen an der Tür krächzte der Rabe. Sie öffnete ihm und nahm ihn auf die Schulter. Dann setzte sie sich in den Winkel auf die Ofenbank und trieb allerhand Spiel mit ihm. Marcus wurde dadurch ganz zerstreut.

Indessen hatte Frau Regina des Bischofs krause Schrift entziffert, »Des Herrn Hochmeisters schweres Leid geht mir sehr zu Gemüte«, sagte sie; »aber ich kann ihm doch nicht helfen.«

»Ihr könnt nicht?« fuhr der Vogt auf. »Sagt dann lieber, Ihr wollt nicht.«

Sie lächelte mitleidig. »So sprecht Ihr, wie Ihr's versteht«, antwortete sie. »Der Herr Hochmeister ist schwer krank. Kann ich ihn heilen durch Handauflegen, oder Anblasen, oder durch den Blick und einen alten Spruch? So glaubt Ihr's freilich, denn Ihr haltet mich für eine Zauberin. Und Euer Herr Bischof, ob er schon in diesem Schreiben solche Meinung streng abweist und mir des Himmels Segen verspricht, steht's doch kaum klüger an. Ich kenne des Herrn Hochmeisters Krankheit nicht aus der Entfernung. Würd' ich sie vielleicht aber auch erkennen, wenn ich ihn sehe, und ein Mittel dagegen wissen, so hätt' ich's doch nicht bei der Hand und müßt' es erst herbeiholen. Darüber verliefe viel Zeit, und er hat allzu wenig einzusetzen, wenn seine Ärzte gut unterrichtet sind.«

»So nehmt Euren ganzen Kram mit«, riet der Vogt. »Außer dem Gaul für Euch hab' ich noch ein Handpferd mitgebracht, das ihn gewiß mit Leichtigkeit trägt. Geht, geht! Ihr macht Ausflüchte.«

»Ich bitt' Euch recht von Herzen, liebe Frau«, nahm Marcus das Wort. »Bedenket nicht Eure Unbequemlichkeit und den weiten Weg, sondern des Herrn Meisters und des ganzen Landes Not. Auf Euch allein noch steht sein Vertrauen; laßt es nicht zuschanden werden. Ist er nach Gottes Rat dem Leben nicht zu erhalten, so müssen wir uns darein fügen; aber seine letzten Tage werden wenigstens von Hoffnung belebt und zu guten Werken gestärkt sein. Eines Fürsten Stunden sind wertvoller als eines anderen Mannes Jahre. Und es ist doch noch so sicher, daß Ihr ihm nicht von seiner Krankheit helfen könnt. So vielen habt Ihr mit Eurer Kunst geholfen. Warum soll's Euch bei diesem nicht gelingen können, für den man doch in allen Kreisen betet? Nein, nein! ich darf nicht nach Marienburg zurückkehren, ohne Euch mitzubringen. Der Herr Bischof würde nicht glauben, daß ich meine Botschaft nach Gebühr ausgerichtet habe.«

»Und doch kann's nicht sein«, entgegnete die Frau mit finsterer Miene. »Ich habe mich aus der Welt zurückgezogen und mir ein Gelübde getan, dieses Waldhaus und seinen nächsten Kreis nicht zu verlassen. Fragt nicht, weshalb – ich könnt Euch darauf keine Antwort geben. Aber es ist so, und ich muß mein Gelübde halten.«

»Ihr müßt nicht«, mischte sich der Kaplan ein, der den Brief vom Tisch aufgenommen und gelesen hatte. »Der Herr Bischof dispensiert Euch und will seinen Dispens selbst vor dem Heiligen Vater vertreten, wenn das erforderlich sein sollte.«

»Aber ich fürchte Gottes Zorn –«

»Hat nicht die Kirche von ihm Macht erhalten, zu binden und zu lösen? Und ist Bischof Franziskus nicht ihr vollmächtiger Diener? Wie dürft Ihr in Sorge sein, Euch zu versündigen, Frau, wenn Ihr seinem Befehl gehorsamt?«

»Ich darf aber vor meinem Gewissen keinen Dispens annehmen, hochwürdiger Herr – – das wollet mir glauben.«

Der Kaplan schüttelte den Kopf. »Der Kirche Gewissen ist unser Gewissen.«

»Euer sträflicher Eigensinn aber«, fuhr der Vogt fort, »wird den weltlichen Arm gegen Euch aufbringen. Wähnet nicht, hoher Obrigkeit trotzen zu wollen. Sie führt nicht umsonst das Schwert. Folgt Ihr nicht gutwillig, so wird es noch Mittel geben, Euch zu zwingen.«

Sie strafte ihn mit einem zornigen Blick. »Wozu wollt Ihr mich zwingen? Ihr mögt mich wider meinen Willen nach Marienburg schleppen können; aber kein Mächtiger ist mächtig genug, mich zu nötigen, ein Heilmittel anzugeben. Wollt Ihr mich aber von hier austreiben, so bedenkt, daß es Euer eigener Schade ist.«

»Droht nicht, Herr Vogt«, fiel Marcus ein. »Frau Regina hat recht, daß hier mit Gewalt nichts auszurichten ist. Es war auch nicht des Herrn Bischofs Meinung, daß ich solche Unterstützung von Euch fordern oder annehmen sollte. Sondern der hochwürdige Herr hieß mich seinem Schreiben eine sanfte Bitte zufügen, um das Herz der Waldfrau zu bewegen. Erfüllt Ihr sie nicht, so werdet Ihr unbehelligt bleiben, wie der Herr Bischof bisher Eure guten Werke nicht gestört hat. Aber ich hoffe, Euer Sinn ist nicht so hart. Bedenket, wem diesmal Eure Kunst zu Dienst sein soll. Der Hochmeister des Deutschen Ordens, der Fürst des Landes Preußen, ruft Euch. An seinem Leben und Sterben hängt viel – vielleicht mehr als an irgendeines seiner Vorgänger Leben und Sterben. Denn es ist jetzt viel Unruhe in der Welt, und die Unzufriedenen in den Städten und unter der Landesritterschaft warten nur darauf, daß sich für immer das Auge des teuren Mannes schließe, der uns so lange den Frieden bewahrt hat. Kann ihm des Leibes Gesundheit wiedergegeben werden, so freuen sich viele Tausende des Wohlseins. Darum könnt Ihr kein gottgefälligeres Werk tun, als die Reise unternehmen, der Ihr gewiß aus wichtigen Gründen widerstrebt. Je mehr Ihr Euren Widerwillen überwindet, um so mehr Dank werdet Ihr von Euch selbst gewinnen. Und darum laßt Euch bewegen, werte Frau, und folgt mir, wohin ich Euch rufe.«

Diese warme Rede hatte augenscheinlich ihren Eindruck nicht verfehlt. Frau Regina sah ernst vor sich hin und faltete die Hände, als wollte sie sich durch ein Gebet zum Entschluß stärken. Sie antwortete nicht sogleich.

Das nahm Marcus für ein gutes Zeichen. Er meinte noch eifriger auf sie einwirken zu sollen und wendete sich deshalb nun an Ursula, die von ihrem Winkel aus, das rechte Knie hochgezogen und mit beiden Händen umfaßt, gespannt zuhörte. »Helft mir bitten, Jungfrau«, sagte er, »Euer Fürwort gilt gewiß bei der Mutter viel. Wenn Ihr je schon würdig in Eurem Herzen Gott gedankt habt für eine glückliche Kur, die sie an irgendeinem Ärmsten vollbracht, so versagt mir Euren Beistand nicht, wo vielleicht aus ihrer Kunst dem ganzen Volke Heil erwachsen kann.«

»Tu's Mutter«, bat das Mädchen, bis zur Stirn erglühend. »Wenn der Herr Hochmeister Deine Hilfe fordert, so darfst du ihm nicht absagen.«

Frau Regina lächelte bitter. »Ist das so gewiß? Es muß wohl guten Grund gehabt haben, daß ich mich in diese Waldeinsamkeit verbannte. Er gilt noch immer und wird gelten, so lang ich lebe. Wenn ich mir einmal nicht Wort halte, wer bürgt mir, daß ich ein andermal widerstehe? Ihr bringt mich in schwere Gewissensnot, Aber ich weiß wohl, daß ich dem Herrn Bischof großen Dank schuldig bin; denn ohne seinen gnädigen Schutz wäre ich gewiß längst von abergläubischen Menschen ausgetrieben und vielleicht gar des Lebens beraubt. Deshalb laßt mich eine Weile allein, daß ich mit mir berate, ob ich in diesem Falle nachzugeben vermag.«

So war die Bitte denn doch nicht ganz abgeschlagen. Marcus sah ein, daß weiteres Zureden nichts nützen könne, legte daher nur die rechte Hand aufs Herz, indem er sich verneigte, und gab den anderen einen Wink, sich mit ihm zu entfernen.

Sie traten in das Gärtchen hinaus. Der Vogt öffnete das Hoftor und sah nach den Pferden. Der Kaplan ging mit Marcus. »Es lastet irgend etwas Schweres auf ihr«, sagte er, »wovon niemand wissen soll. Selbst in der Beichte hat sie sich nicht eröffnet. Sie behalte sich's für die Sterbestunde vor und hoffe, daß Gott ihr auch so ein gnädiger Richter sein werde, wenn sie bis dahin ihr Leben nach seinem Gefallen einrichte. Das zumeist ist wohl der Grund ihrer Weigerung, den bischöflichen Dispens anzunehmen.«

Als Marcus sich umschaute, sah er Ursula im Hausflur stehen. Er eilte zu ihr und bat sie, ihr Gesellschaft leisten zu dürfen. »Ich bin hier die Wirtin«, antwortete sie jetzt, alle Scheu vergessend, »und hätte wohl eher selbst die Pflicht, Euch die Zeit zu kürzen. Wüßt' ich nur etwas, womit ich Euch unterhalten könnte! Hier im Walde ist fast genau ein Tag wie der andere.«

»Erlaubt nur, daß ich an Eurer Seite bleiben darf«, sagte er, »so wird mir's an Kurzweil nicht fehlen.«

»Ich will Euch die Tiere zeigen«, rief sie. »Mit denen beschäftige ich mich die längste Zeit. Sie sind alle so zahm und nehmen mir das Futter aus der Hand.« Sie rief den Raben herbei, setzte ihn auf die Schulter unter das Dach des goldigen Haares und gab ihm allerhand Koseworte.

»Er ist sehr klug«, versicherte sie, »und versteht unsere Sprache. Er muß aber auch sehr alt sein, denn er gehörte schon zu diesem Hause, als meine Mutter hier ein Obdach fand, und die ältesten Beutner rundum behaupten, sie hätten ihn schon in ihrer Kinderzeit gesehen.«

»Ist es wahr, daß er Euch etwas in's Ohr sagt, wenn er sich so zu Euch neigt?« fragte Marcus schüchtern. Er glaubte nur schwach daran.

»Jawohl«, antwortete sie neckisch, »in seiner Vogelsprache.«

»Versteht Ihr die?«

»Ein wenig. Ich weiß immer gleich, was er will, wenn ich gut aufmerke. Die Sprache ist aber sehr schwer und läßt sich gar nicht lehren.« Sie trat heraus. Der Wolf riß an seiner Kette und heulte kläglich. »Wir sind auch gute Freunde«, sagte sie, indem sie zu ihm ging und ihm den Kopf streichelte. »Ich hab' ihn von jung aufgezogen; die Bauern hatten seine Mutter totgeschlagen und fanden ihn in ihrem Lager. Er wurde zahm wie ein Hund und dachte nicht ans Fortlaufen. Später aber ist er doch störrisch und unfolgsam geworden, hat auch allerhand Schaden angerichtet, so daß er gekettet werden mußte. Mir aber hat er gleichwohl gute Freundschaft bewahrt.« Sie sperrte ihm mit den kleinen Händen den Rachen auf und zeigte das Gebiß. »Den Hühnern und Enten ist nicht zu raten, in seine Nähe zu kommen, und selbst unsere alte Magd muß vorsichtig sein, wenn sie ihm sein Fressen bringt. Von mir läßt er sich schlagen.«

»Ihr solltet doch nicht zu trausam sein«, meinte Marcus, den es ängstigte, wie sie ihre seinen Fingerchen zwischen seine Zähne brachte, »die Tücke lacht ihm aus den Augen.«

»Oh, ich habe Gewalt über ihn«, versicherte sie, »tretet zu mir, und Ihr sollt sehen, daß er sich auch von Euch anfassen läßt, obschon Ihr ihm ein ganz Fremder seid. Gut Freund, Pluto!«

Sie reichte Marcus die Hand und zog ihn heran. Er wollte nicht feige scheinen und trat in den Bereich der Kette. Der Wolf wurde sehr unruhig, wagte aber doch nicht gegen ihn aufzuspringen. Er litt, daß sie die Hand des Gastes auf seinen Kopf legte, und gab nur seinen Unwillen durch grollende Heullaute zu erkennen. Marcus empfand nur die Nähe ihrer Hand und hätte die seine willig auch in einen Löwenrachen gesteckt, wenn sie so geführt wurde.

Dann stellte sich Ursula mitten auf den Hof und klatschte in die Hände. Auf dieses Zeichen liefen die Hühner herbei, watschelten die Enten heran, flogen die Tauben von ihrer Stange und umkreisten sie gurrend. Sie holte eine Schale mit Futter herbei und streute es ihnen aus. Jedem von den Tieren hatte sie einen Namen gegeben, meist nach irgendeiner äußerlichen, in die Augen fallenden Eigenschaft. Da war unter den Enten ein Krummfuß, ein Schiefbein, ein Schleppflügel, ein Breitschnabel, unter den Hennen eine Frau Gackel, eine Frau Neidhart, eine böse und eine fleißige, während die Tauben meist nach ihrer Farbe, aber auch nach dem Federschmuck auf dem Kopf und an den Füßen benannt waren. Sie sprach fortwährend zu ihnen, lobte sie, schalt sie, ermunterte sie zum Zugreifen oder wehrte den Angriff der unverschämt Zudringlichen ab. Die Liebkosung eines Täubchens machte den Raben eifersüchtig; er wurde unartig und mußte fortgeschickt werden. Nun flogen ihr die weißen und die blauen, die Spitz- und Rundhauben auf die Schultern und Arme. Marcus hatte seine helle Freude daran, diesem anmutigen Spiel zuzuschauen.

Darauf wollte sie die Pferde sehen, die vor der Umzäunung weideten. Sie hatte nicht vergessen, ihnen Heu überzuwerfen. Das eine von den Handpferden, ein Grauschimmel, gefiel ihr besonders gut. Sie ließ sich von Marcus auf die Decke heben und den Zügel reichen. Dann umritt sie mehrmals einen Kreis, erst in bedächtigem Schritt, bald in munterem Galopp. Sie jauchzte vor Vergnügen und rief, als sie wieder abgesprungen war: »Den ganzen Tag möcht ich zu Pferde sitzen und in die weite Welt hinausreiten! Ich weiß von ihr noch nichts, als was mir erzählt worden. Einmal bin ich ganz heimlich bis Heilsberg gelaufen, hab' mich aber nicht hineingewagt. Die hohen Mauern mit den vielen Türmen rings um das Schloß und die Stadt ängstigten mich. Würde das Tor hinter mir verriegelt, meint' ich, so käme ich nie wieder frei. Ich möcht auch da nicht wohnen, aber sehen möcht ich einmal gern, wie es drinnen hergeht. Und nun gar die Marienburg! Etwas so Herrliches soll in der ganzen Christenheit nicht zu schauen sein. Das habt Ihr nun alle Tage vor Augen.«

»Bewegt nur Eure Mutter, daß sie sich des kranken Herrn Hochmeisters gütigst annimmt«, drängte Marcus, »dann erhört sie vielleicht auch Eure Bitte, sie begleiten zu dürfen.«

»Ach – ohne mich reist sie gewiß nicht«, sagte Ursula sehr zuversichtlich. »Noch nie hat sie sich eine Nacht von mir getrennt. Aber ich fürchte, die gibt nicht nach.«

»Geht zu ihr und sprecht mit ihr«, bat er. »Die Gelegenheit, des Ordens Oberhaupt zu sehen, kehrt nicht so bald wieder.«

Sie überlegte eine kleine Weile, das runde Kinn in die Hand gestützt. Dann eilte sie, ohne weiter ein Wort zu sprechen, ins Haus.

Nach einer Viertelstunde trat Frau Regina aus demselben. Hinter ihr erschien Ursula in der Tür mit freudestrahlendem Gesicht und gab Marcus Zeichen, die nicht mißzuverstehen waren. »Ich sehe wohl ein«, sagte die Waldfrau, »daß ich mir und meinem Kinde schweres Ungemach zuziehe, wenn ich des Herrn Bischofs dringendes Schreiben unbeachtet lasse. Obschon nur geringe Hoffnung ist, daß ich dem Kranken durch meine schwache Kunst helfen kann, da so viele hochgelehrte Ärzte an aller Rettung verzweifeln, so hab' ich mich doch entschlossen, die Reise anzutreten, um in meiner Pflicht nicht lässig zu scheinen. Lasset uns also den Knecht mit zwei Pferden hier und erwartet uns in Heilsberg zur Weiterreise. Wir brechen mit dem frühesten auf.«

»Das ist eine gute, freundliche Antwort«, bemerkte der Vogt. »Möchte nur zu bedenken geben, ob es nicht gescheiter wäre, heut noch bis Heilsberg zu reiten. Wir könnten das Schloß wohl vor völliger Dunkelheit erreichen, und Ihr hättet dort ein bequemes Nachtquartier, kämet auch morgen ein Stück weiter.«

Davon wollte jedoch Frau Regina nichts wissen. Es sei heut schon zu spät geworden, und sie habe auch noch der alten Magd die Wirtschaft zu übergeben, für den nötigen Mundvorrat zu sorgen und die Medikamente auszuwählen, die mitzunehmen seien. Auf den Apotheker in Marienburg dürfe sie sich nicht verlassen. Nun erkundigte Marcus sich beim Kaplan, ob er ihn und den Vogt zur Nacht beherbergen könne. Das wäre zur Not gegangen, wenn sie auf einer Streu vorliebnehmen und sich mit dem Mantel bedecken wollten. Den Pferden konnte kein Obdach geboten werden. So entschlossen sich die beiden denn doch, abzureiten, nachdem der Kaplan versprochen hatte, den Frauen in, der Frühe beim Aufbruch behilflich zu sein. Der Vogt fragte Frau Regina, ob sie einen Wagen für die Reise vorziehe; doch wäre zu befürchten, daß er in den schlechten Wegen steckenbleibe. Sie dankte ihm und bat nur, einen zweiten Damensattel für Ursula bereitzuhalten, die sie durchaus nicht allein ziehen lassen wolle. »Ich reite den Grauschimmel«, rief diese, »er hat einen so leichten Tritt und wird mich auch von der Decke nicht hinunterwerfen, wenn sie fest gegurtet ist.«

»In unsrer Kammer fehlt's nicht an Sattelzeug zum Gebrauch für Damen«, versicherte der Vogt. »In der bischöflichen Residenz muß man auf Besuch aller Art gerüstet sein. Auch reitet mancher der geistlichen Herren selbst lieber die Quere. Ihr sollt in allem gut versorgt werden.«

Als Marcus beim Abschied Ursula die Hand reichte, sah er ihr recht tief in die großen Augen und fagte: »Am liebsten ging ich gar nicht mehr von Eurer Seite. Wer weiß, ob Eure Mutter sich nicht bis morgen anders besinnt.«

»Das befürchtet nicht«, antwortete sie. »Es ist ihr schwer genug angekommen, ihr Versprechen zu geben. Da sie's gegeben hat, hält sie's auch. Und vergeßt auch nicht«, setzte sie mit schalkhaftem Lächeln hinzu, »daß ich jetzt ein Wort mitzureden habe. Ich weine mir die Augen aus dem Kopf, wenn ein Hindernis eintritt. Lebt wohl bis morgen, lebt wohl!«

»Wollt Ihr mich bis dahin in freundlichem Andenken behalten?« fragte er in so ernstem Ton, als handelte es sich um eine Trennung für lange Zeit.

Sie sah ihn aber gar nicht verwundert an, sondern nickte errötend, zog rasch ihre Hand fort und huschte hinter den Torflügel.

Marcus verhielt sich auf dem langen Rückwege sehr schweigsam oder gab verwirrte Antworten. »Hört, hört!« drohte der Vogt, »die kleine Hexe hat es Euch angetan. Was soll das werden, wenn Ihr ein paar Tage neben ihr reitet?«

»Habt auf den Weg acht, damit wir nicht verirren«, riet sein Begleiter.

Die Nacht brachte ihm wenig Schlaf. Vor Sonnenaufgang schon kletterte er auf den hohen Turm und spähte auf die Landstraße hinaus mit aufmerksameren Blicken als vielleicht je ein Wächter auf diesem Posten. Wirklich war's noch kaum eine Stunde Tag geworden, als schon die Frauen am Tor anlangten. Frau Regina war in einen Pelz gehüllt und dicht verschleiert.

Ursula ritt wie ein Junge. Den Mantel hatte sie von der Schulter fallen lassen und um die Hüften zusammen genommen, so daß er die Füße bedeckte. Sie trug eine Kappe von blauem Zeug mit Pelzbesatz und Adlerfedern auf dem wallenden Goldhaar. Auf der Hand hielt sie wie einen Falken ihren treuen Raben. »Ich hab' ihn einsperren wollen«, erzählte sie, »aber er hat längst gewußt, was wir vorhatten, und ist fortgeflogen, eh' ich ihn haschen konnte. Kein Rufen, Schmeicheln und Schelten hat ihn zurückgebracht. Erst im Walde hat er sich zu uns gesellt.«

Er folgte auch nicht ins Burgtor hinein, sondern flog auf die Zinne und wartete dort auf die Rückkehr seiner Herrin. »Er ist so klug«, sagte sie. »Ich bin nur begierig, wie Pluto es ohne mich aushält. Nun – die Kette zerreißt er nicht!«


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