Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Sechstes Kapitel

Die Freundinnen

In Thorn ließ sich bei der diesjährigen Ratskehr Tileman vom Wege nicht zum Bürgermeister küren. Er wollte freiere Hand haben, für die Sache des Bundes zu wirken, die durch die letzten Ereignisse arg ins Schwanken gekommen war. Aber er blieb im Rat und war nach wie vor die Seele desselben. Auch konnte er seiner Freunde in den leitenden Ämtern sicher sein.

Mit seinem Sohn hatte er, nachdem der Elbinger Tag beendigt, einen schweren Stand gehabt. »Ich bin Barthel Blume weiter entgegengegangen«, sagte er ihm, »als ich vor mir selbst verantworten kann. Vergeblich habe ich ihn in Elbing erwartet. Er beharrt in seiner Widersetzlichkeit gegen den Bund und hält's mit unsern schlimmsten Feinden, denen von Neustadt Thorn. Wie dürfen wir danach in freundschaftlichen Verkehr mit seinem Hause treten? Er selbst bedenkt mehr des Herrn Hochmeisters Gunst und Gnade, als seines Kindes Glück.«

Jost wollte das nicht gelten lassen. »Gilt er Euch als ein Abtrünniger«, antwortete er, »so meint er selbst doch seine Treue zu beweisen und seine Kindespflicht zu bewahren. So ist er auch seinen Gegnern achtbar. Zöge er jetzt sein Wort zurück, so geschäh's um Gunst und Vorteil, und Ihr selbst müßtet ihn verachten. Warum verlangt Ihr's so Zug um Zug wie im Handel? Laßt ihm Zeit, sich zu Eurer Meinung zu bekehren. Geschieht das nach Jahr und Tag, wenn unsere Familien verschwägert sind, so wird niemand Anstoß daran nehmen.«

»Wer sagt dir aber, daß es überhaupt geschieht?« fragte Tileman, »daß der Spalt nicht noch weiter auseinanderklafft, trotz der Verschwägerung. Willst du in die Mitte gestellt sein zwischen zwei Hammer, die ihre Kraft erproben? Es ist nicht unser Arm, der sie bewegt, und nicht unser Wille, der sie zum Stillstehen bringt.«

»Ihr seht die Dinge allzu schwarz, Vater«, wendete Jost ein. »Ich höre Euch, aber ich höre auch andere. Viele wollen den friedlichen Ausgleich. Wenn Ihr Euch auf die Polen verlaßt – wie es mit der Polen Freundschaft steht, weiß ich am besten. Sie schüren das Feuer, weil sie hoffen, bei dem großen Brande für sich selbst etwas in Sicherheit zu bringen. Helft ihnen den Orden erniedrigen und seht zu, wie Ihr euch ihrer noch erwehrt. Das bedenkt mancher mit Sorge. Gebt ein großherziges Beispiel der Versöhnlichkeit, und beide Teile werden's Euch danken.«

Tileman lächelte mitleidig. »Es gibt Schwächlinge genug«, entgegnete er, »die ihresgleichen einbilden, sie halten tapfer stand, wenn sie nur so weit zurückweichen, als der Gegner sie drängt. Da sie meinen, das Ganze nicht haben zu können, lassen sie sich mit einem Teil abfinden und teilen wieder den Teil und so fort, bis am Ende nichts übrigbleibt. Es sind immer nur wenige, die den Zügel fest in der Hand und den Blick sicher aufs Ziel gerichtet haben. Die sollten sich aber auch durch kein Blendwerk beirren lassen und wär's noch so hold. Man mag wohl eine Wand zwischen uns ausrichten für kurze Zeit, aber was uns entzweit, liegt tiefer als ihre Stützen und wühlt unwiderstehlich von unten her, bis sie einstürzt. Tritt fort davon, daß sie dich nicht erschlägt!«

Jost mußte schweigen, aber er tat's mit verbittertem Gemüt und mit dem stillen Vorbehalt, nicht nachzulassen, bis er sein Stück durchgesetzt hätte. Mit Gründen war dem Alten freilich nicht beizukommen, und mit Schmeicheln und Bitten ließ sich ihm nichts abringen. Die Besorgnis mußte einwirken, daß er bei zähem Beharren auf seiner Weigerung den Sohn verlieren möchte – den einzigen Sohn, vielleicht den einzigen Menschen, an dem sein Herz hing. Deshalb scheute Jost sich nicht, ein bedenkliches Spiel zu wagen: er hielt sich mehr und mehr von seinem Vater fern, trat in Verkehr mit dessen stadtbekannten Gegnern von den alten Geschlechtern und trank im Bürgergarten mit den Handwerkern auf des Herrn Hochmeisters Wohl. Mit den jungen polnischen Edelleuten, die nach Thorn kamen, um sich zu vergnügen, fing er Händel an, die mit Raufereien endeten. Zechte mit den lockersten Gesellen und liederlichen Frauenzimmern die Nächte hindurch, so daß er anderntages zur Arbeit in der Geschäftsstube untauglich war, und ließ auf der Straße die angesehensten Ratstöchter, deren Väter das sehr übelnahmen, ungegrüßt. Der Jost vom Wege ist ganz toll geworden, hieß es allgemein, an dem erzieht sein Vater auch etwas Rechtes! Der Alte sah wohl, in wie verzweifelter Stimmung Jost war und daß er's auf ein Widerspiel abgesehen hätte. Er meinte abwarten zu sollen, bis sich von selbst die Vernunft wieder zurückfände; es mußte ja doch bald zutage kommen, wie begründet seine Bedenken gewesen seien.

Und darin hatte er jedenfalls recht. Nur wenige Monate brauchten zu vergehen, bis sich des Legaten wahre Gesinnung offenbarte. Auf seiner Reise durchs Reich hatte er überall an den Fürstenhöfen großes Geschrei erhoben, wie übel ihm in Preußen mitgespielt worden, so daß er des Papstes Auftrag sehr zum Schaden aller Obrigkeit und der heiligen Kirche nicht habe ausführen können. Es herrsche da in dem Ordenslande ein böser, sehr verderblicher Geist, der bald ansteckend auf die andern Länder wirken müßte, so daß kein weltlicher oder geistlicher Fürst seines Regiments mehr sicher sei. Sollte es gelitten werden, daß die Untertanen irgendwo einen Bund machten gegen ihren Herrn, so habe auch bald Kaiser und Reich nichts mehr zu bedeuten. Mit dem Deutschmeister, der nur auf die Gelegenheit zur Einmischung lauerte, verabredete er weitere Schritte beim römischen König. So kamen denn im Frühjahr Briefe von vielen deutschen Fürsten, weltlich und geistlich, ins Land, voll ernster Mahnungen, von dem Widerstand gegen die Obrigkeit abzulassen und den gebotenen Frieden anzunehmen. So schrieb der Markgraf Hans von Brandenburg, so der Kurfürst Friedrich von Brandenburg, so der Erzbischof von Köln, ebenfalls Kurfürst des Reichs. Er bot sich selbst zum Vermittler an, wenn sie »Zwang und Gedrang leiden« sollten, riet ihnen aber ernstlich, ihre Sache nicht selbst zu führen, sondern sie vor den Papst oder den römischen König und die Kurfürsten zu bringen.

Endlich gar gelangte nach Thorn die heimliche Nachricht, daß der Orden Söldner werbe. Es stünden schon dreihundert Glevenien zu Schlochau und vierhundert würden aus der Mark erwartet. Des Hochmeisters feierlichste Versicherung, daß er von nichts wüßte, hatte keinen Erfolg: man glaubte, was man glauben wollte. Das Mißtrauen gegen ihn war auch schon deshalb von neuem wachgerufen, weil er zwar den versprochenen Richttag angesetzt, aber nicht Richter bestellt hatte, wie sie Länder und Städte zur Sicherung gerechter Sprüche begehrten. So wuchs täglich die Verwirrung, und die Danziger gingen gar so weit, ihre Mauern besser zu befestigen und Proviant in die Stadt zu schaffen, als ob der Feind schon im Anrücken wäre.

Tileman benutzte alle diese sehr verfänglichen Tatsachen, um seinem Sohn vorzustellen, wie unabwendbar ein Kampf scheine, in dem jeder werde Partei nehmen müssen. »Wir sind nicht die Friedensstörer«, sagte er. »Scheinheilig hat der Legat uns gute Worte gegeben, so lange er im Lande war; nun fällt er uns aus dem Hinterhalt an mit unehrlichen Waffen und möchte am liebsten die ganze Christenheit gegen uns in Harnisch bringen. Die Fürsten und Pfaffen wissen auch, daß sie uns nicht bei unserm Recht lassen dürfen, wenn sie selbst ihr Unrecht behaupten wollen. Stehen wir hier im Norden fest, wie die Schweizer im Süden, so wird bald überall die Freiheit mächtiger sein als die Knechtschaft. Aber groß ist die Gefahr! Deshalb müssen wir die Widerstrebenden niederwerfen, daß sie uns nicht in den Rücken fallen, wenn wir uns schon kaum der Angreifer von vorn erwehren. Ihr Haupt aber ist Bartholomäus Blume. Du wirst einsehen, daß wir nie in Freundschaft zu ihm stehen können, er unterwerfe sich denn dem Bunde, dem er die Fehde angesagt hat.«

Er fürchtete schon selbst, auf die Dauer nicht standhaft bleiben zu können, da Jost in seinem Trutz verharrte, und fing an, bei den Parteigenossen vorzubauen, daß man ihn hinterher nicht des falschen Spiels bezichtige. Er müsse den Sohn nach seinem Wunsch verheiraten, wenn er ihm nicht ganz liederlich werden solle. Er deutete an, daß er mit dessen Wahl nicht einverstanden sei, ohne vorläufig einen Namen zu nennen. Jost hätte eher über sich als unter sich sehen sollen, doch lasse sich darüber mit ihm nicht rechten. »Was will man tun? Ehen werden im Himmel geschlossen.« Dann wieder warf er die Frage ins Gespräch, ob die Bündischen die Pflicht hätten, sich des Verkehrs mit den Gegnern gänzlich zu enthalten, oder ob's nicht in besonderen Fällen nützlicher sei, alte Freundschaften zu bewahren und Familienbande anzuknüpfen. »Es kommt darauf an, wer der stärkere Teil ist«, meinte er, »der zieht den andern zu sich herüber, wenn's heißt: hier oder dort. Ich, wie ich einmal beschaffen bin, hätte keine Furcht, mich mit dem Teufel selbst zu verschwägern. Er sollte eher ein Stück von meinem Herzen abreißen, als mich vom Bunde abbringen. Ob ich ihn zwänge, mir zu dienen, weiß ich nicht; aber es könnte wohl geschehen, daß er vorsichtig um mich herumginge und mich gewähren ließe, da er mich sonst mit Haut und Haar zu verschlingen trachtete.« Dazu lachte er und fuhr fort: »Es ist nur ein Exempel. Man spricht wohl von des Teufels Großmutter, aber daß er eine Schwester oder Tochter hätte, hat noch niemand behaupten mögen. Will auch nicht den Pfaffen nachsprechen, die da predigen, in allen schönen Weibsen stecke der Teufel, also daß man sich vor ihrer Verführung in acht zu nehmen habe. Viel Unheil mögen sie wohl in der Welt anstiften können, und die mit den frömmsten Gesichtern sind manchmal die unheiligsten.« Nun seufzte er schwer und zog die Stirn in Falten, als käme ihm etwas sehr Verdrießliches in die Gedanken. Zum erstenmal zeigte er sich unsicher und unschlüssig. Das hatte den Grund, weil Kopf und Herz nicht zusammengehen wollten wie sonst. Er liebte seinen Sohn und hätte ihm gern etwas zuliebe getan, wenn's auch nur halbwegs mit seiner Pflicht zu vereinen gewesen wäre.

So war nun das Jahr in den Mai gekommen, und er brachte so warme Tage und laue Nächte, daß wie durch Zauber alles Grau sich in hellstes Grün verwandelte und nie der Welt Herrlichkeit so herzerfreulich schien offenbart zu sein. Wo ein Lindenbaum am Hause stand, da öffneten sich die Fensterladen, und die Stadtkinder guckten neugierig hinaus, ob sie die Blättchen könnten wachsen sehen und den Singvögeln, die ihre alten Nester suchten, das Geheimnis ablauschen, wie sie den Frühling ins Land gebracht hätten. Auf den Äckern sproßte die Wintersaat, das junge Gras der Wiesen schoß üppig auf, die Landstraßen entlang schimmerten die Birken und Pappeln grün, die Steinblöcke auf den Heiden überzogen sich mit einem Samtteppich von Moos, und von der Föhrenwälder dunkler Wand in der Ferne zeichneten sich überall in scharfer Umgrenzung die eingestreuten Laubhölzer ab. Vor wenigen Wochen noch hatte Schnee auf der Schattenseite der Raine, Eis in den tiefen Gräben gelegen, ein kalter Nordostwind von der See her die Felder bestrichen und die kahlen Äste der Bäume durchschauert. Später, viel später als am Rhein oder selbst an der Elbe und Oder zog der Frühling an der Weichsel hinab, aber um so eiliger hatte er's auch hier, die Erde zu schmücken und die Menschen zu erfreuen. Er liebte es nicht, sich lange vorher anmelden und dann wie ein vornehmer Herr auf sich warten zu lassen. Da bin ich endlich, aber da bin ich auch mit ganzer Macht. Ich muß mich sputen, daß ich fertig werde, denn wenn hoch im Norden das Eis zum Schmelzen kommt und die Luft weithin erkältet, treibt mich doch der Sturm noch einmal zum Lande hinaus. Blatt und Halm müssen kräftig ins Wachstum schießen, damit sie dem tückischen Nachtfrost Widerstand leisten.

Nirgends in Preußen war's um diese Zeit schöner als um das alte Schloß und die Stadt Marienburg herum. Garten reihte sich hier an Garten weit in die fruchtbare Niederung des kleinen Werders hinein. Vom hohen Nogatufer schweifte der Blick südwestlich an dem sich weit ausbuchtenden jenseitigen Damm entlang über das weite Flußtal hin und drüben in die grüne Ebene bis zu den Dirschauer Höhen an der Weichsel. Vor einem Monat noch hatte Ursula, wenn sie mit Erlaubnis des Bürgermeisters den Rathausturm bestieg und durch eine Luke ausschaute, ein ganz anderes Bild vor Augen gehabt, so fremdartig, wie sie sich nie eins geträumt. Da setzten sich, durch das anschwellende Wasser gedrängt, die Eismassen der Nogat in Bewegung, barsten mit schrecklichem Krachen, schoben sich in mächtigen Schollen übereinander, jagten auf dem zeitweise offenen Strom vorüber oder warfen sich drüben gegen den Damm, das Schutzwerk menschlicher Hände zu zerstören und den Fluten einen Durchbruch zu erzwingen. Das Eis im Frischen Haff lag anfangs noch fest; dort verstopfte sich der Fluß bald gänzlich, und nun schwoll das Wasser von Stunde zu Stunde an. Plötzlich aber rückten die Massen vor, erst langsam und stoßweise, dann in gleichmäßiger Eile. Der Wasserspiegel senkte sich wieder, die Schollen legten sich schräg auf die Böschung des Dammes, bröckelten ab, wurden fortgeschoben. Schon tauchten die Weidenkampe auf. Nur noch selten einmal rannte ein Eisberg sich auf dem Grunde fest, drehte sich schwerfällig um sich selbst, neigte sich zur Seite, wenn er von der Strömung unterspült war, und polterte endlich in sich zusammen. Schon wagten sich auch Boote hinaus, bemannt mit Marienburger Fischern, die ihre Häuschen am Ufer schützen wollten. Mit langen Stangen schoben sie die Eisblöcke und Schollen weiter, manchmal eine Strecke mit fortgerissen, so daß es ängstlich anzusehen war. Ursula konnte sich gar nicht von ihrem Auslug trennen, mochte ihr auch der scharfe Wind da oben das unter der Pelzkappe vorquellende Haar zerzausen und die Tränen in die Augen treiben. Nie im Leben war ihr ein solches Schauspiel geboten worden.

Jetzt aber war's Frühling und der Strom spiegelglatt. Sobald die ländlichen Arbeiten beginnen konnten, siedelte Marcus Blume, dessen Wunde längst geheilt war, nach dem Gutshof über, und als nun das Wetter schön und beständig wurde, fühlten sich auch die Mädchen beklommen in der engen Stadt und drangen in Frau Christine, mit ihnen hinauszuziehen. Sie warnte vor den kalten Tagen, die nicht ausbleiben würden, aber der Zug ins Freie überwand ihre Vorsorglichkeit. Man könne ja jederzeit wieder zurück an den warmen Ofen, meinte auch Marcus; er konnte den Aufenthalt draußen gar nicht verlockend genug schildern, denn er wünschte möglichst wenig von Ursula getrennt zu sein und rechnete im stillen darauf, in Feld und Garten leichter Gelegenheit zu finden, sie für sich allein zu haben, als in dem Stadthause.

Die beiden Mädchen hatten die innigste Freundschaft geschlossen. Es war Ursula nicht leicht geworden, sich in die streng bürgerliche Hausordnung zu finden. So lange sich alle Aufmerksamkeit dem Kranken zuwandte, hatte Frau Christine, die mit gerührtem Herzen ihre Sorge erkannte, sie tun und treiben lassen, was sie wollte. Allmählich aber konnte der geregelte Gang der häuslichen Geschäfte zurückkehren, und sie war ganz die Frau, sich darin wohlzufühlen und jedem in ihrer Umgebung seine bestimmte Tätigkeit anzuweisen. Ursula übernahm jede Arbeit gern und betrieb sie zuerst auch mit Eifer; doch mußte sie womöglich gleich beim ersten Angriff beendet werden können; blieb sie liegen, so war sie ihr leicht überhaupt verleidet. Am liebsten ließ sie sich mit häuslichen Verrichtungen beschäftigen, die Bewegung erforderten; stundenlang stillzusitzen, war ihr eine Qual. Magdalene war für sie doppelt fleißig, damit nur die Mutter keinen Grund zum Tadel hätte. Das bemerkte Ursula hinterher wohl und vergalt es ihr mit Zärtlichkeiten. Erstaunliche Geduld und Ausdauer bewies sie aber im Umgang mit Tieren. Da lernte der Hund, der im Hause als dumm verschrien war, die possierlichsten Kunststücke. Die Katze folgte ihr auf Schritt und Tritt und gewöhnte sich alle Tücken ab; mit dem Hunde mußte sie sich wie mit dem besten Freunde vertragen. Der Fink im Bauer hüpfte ihr, wenn sie ihm das Türchen öffnete, auf die Hand, pickte ihr die Brotkrumen von den Lippen fort und stellte sich auf ihren Befehl tot. Er verlor auch alle Furcht vor der Katze, flog auf den Rand ihres Milchschälchens und hüpfte auf dem Rücken des Hundes herum. Für Marcus konnte es keine reizendere Beschäftigung geben, als ihrem Spiel zuzuschauen. »Kommt nur erst auf den Hof hinaus, Ursula«, sagte er, »da sollt Ihr an allerhand Lebendigem Eure Freude haben, gerade wie zu Hause.«

Und so war's nun auch. Da gackelten die Hühner, da watschelten die Enten, da gurrten die Tauben. Ursula konnte sich bald nicht mehr im Freien zeigen, ohne von allen Seiten umflattert zu werden. Aber auch die Ziege mit ihren zwei Zicklein, einem munteren Füllen und den jungen Lämmern wendete sie ihre Gunst zu. Im Garten kannte sie jedes Vogelnest auf den Bäumen und in den Hecken. Ihr fehlte nur der Wald, und nach ihm freilich war jetzt im Frühling ihre Sehnsucht manchmal groß. Und dann gedachte sie auch ihrer Mutter und konnte ein Weilchen ganz schwermütig darüber werden, daß sie ihr so fern.

Magdalene hatte kein Geheimnis vor ihr. Ursula wußte auch von ihren Herzensangelegenheiten und brachte gern das Gespräch auf dieselben, kurz vor dem Schlafengehen, wenn die Mädchen in ihrer Kammer allein waren und schon das Licht ausgelöscht hatten, jetzt auch abends in der Dämmerstunde, wenn sie Arm in Arm und Hand in Hand durch den Garten gingen oder sich am Ufer abwärts unter den wilden Rosen ein verstecktes Plätzchen suchten. So wenig Hoffnung Magdalene zu hegen versicherte, so war ihr doch allemal ein recht erquicklicher Trost, wenn Ursula sie wegen ihrer Verzagtheit auslachte und zu mutigem Ausharren ermunterte. »Glaube nur«, sagte sie, »wenn er dich von Herzen liebt, so ist ihm keine Mauer zu hoch und kein Graben zu tief – er setzt darüber hinweg und findet sich zu dir. So einen Mann könnt ich mir gar nicht vorstellen, der nicht sein Leben daran wagte, mich zu gewinnen, wenn er wüßte, ich sei ihm gut. Und mir selbst sollt auch kein Hindernis zu groß sein, ihm die Hand zu reichen, wenn er mich zu sich ziehen wollte. Warte nur ab! Noch ist das Jahr nicht um. Müßt aber auch noch ein zweites und drittes vergehen, deshalb wollt ich doch den Mut nicht sinken lassen. Denen, die ausharren, lohnt's Gott mit seiner Hilfe.«

Magdalene umarmte sie und küßte sie stürmisch. »Ich werde ihn ja nie vergessen«, antwortete sie, »noch in meinem Herzen von mir lassen. Aber gegen der Eltern Willen könnte ich ihm doch nicht gehören. Das weiß er, und deshalb versucht er mich nicht. Wolltest du dem Liebsten zu gefallen etwas tun gegen deiner Mutter Rat?«

Ursula glänzten die Augen. »Danach frage mich nicht«, bat sie. Ich bin von anderer Art als du und würde mir in solchen Dingen schwerlich bei ihr Rats erholen, was ich zu tun und zu lassen hätte, sondern allein nach meines Herzens Befehl handeln. Es ist aber keine Gefahr, daß ich ihr ungehorsam werde. Denn um der Waldfrau Kind wird niemand freien. Ich weiß jetzt, wie es in der Welt zugeht.«

Das wollte Magdalene nicht gelten lassen. »Ich weiß einen«, sagte sie, »der in den Himmel springt, wenn du ihn nur freundlich anlachst.«

»Den kenn ich auch«, antwortete Ursula neckisch, »und er ist des Herrn Bürgermeisters von Marienburg einziger Sohn. Da ich aber nicht eines Ratsverwandten Tochter bin und überhaupt nicht einmal meinen Vater nennen kann ...«

»So ist Marcus wohl auch!« schmollte Magdalena

»So ist er nicht – nein!« bestätigte Ursula eifrig. »Aber so soll er doch sein nach seiner Eltern Wunsch und aller verständigen Leute Meinung, und wenn er so ist, wird es ihm wohlgehen auf Erden. Meinst du, ich hätt's nicht längst bemerkt, wie deine Mutter ihm aufpaßt? Sie ist eine so liebe und gute Frau, und ich wollte nicht, daß sie ihres Sohnes wegen einen Kummer hätte.«

Magdalene schwieg darauf; sie konnte nicht bei der Wahrheit bleiben, wenn sie widersprach. Sicher war's so, daß ihre Mutter in steter Furcht lebte, Marcus könne aus seiner Verliebtheit Ernst machen wollen. Sie hob daher nur ein wenig das Kinn und blickte in die Ferne hinaus.

Unter dem großen Stein, auf dem sie saßen, schlüpfte eine kleine Eidechse vor und züngelte behende durch das Gras. Ursula bückte sich rasch, griff zu und fing sie in der Hand. Magdalene rückte fort. »Wie magst du nur solches Getier anfassen?« rief sie.

»Und wie magst du dich nur davor fürchten?« entgegnete die Freundin. »Es ist ein so unschuldiges Geschöpfchen. Sieh nur, wie kluge Äuglein es hat.« Sie hielt ihr die geschlossene Hand hin, aus der nur der kleine Kopf vorschaute, und lachte, als Magdalene das Gesicht abwendete. »Du bist ein Hasenfuß«, schalt sie und ließ das Tierchen laufen.


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