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XXVI.
Der neue Weltgeist

Washington, den 12. Dezember

Der Leser wird die Berichte über die bei Gelegenheit der vierten Plenarsitzung gehaltenen Reden gelesen haben und wird bereits wissen, welche in den mehr oder weniger geheimen Sitzungen vorbereiteten Entschließungen uns mitgeteilt wurden.

Es ist hier sehr viel über diese Geheimsitzungen geredet worden, und zwar mit einer gewissen Entrüstung darüber, daß sie geheim gehalten wurden, eine Entrüstung, die ich indessen nicht teile. Es ist eher Sache des Anstandes als der Verheimlichung, wenn man Menschen, die voneinander verschiedene Sprachen sprechen, verwickelte Interessen vertreten und bemüht sind, Mittel und Wege zur gegenseitigen Verständigung zu finden, nicht der peinlichen Beobachtung und Kritik aussetzt, bevor sie sich nicht ganz klar darüber sind, was sie zu sagen haben. Es ist weit besser, daß sie ihre Entschließungen erst für sich in Ruhe ausarbeiten und uns dann eine vereinbarte Entschließung mitteilen.

Dies ist keine Beleidigung der Demokratie, keine Verschwörung gegen die Öffentlichkeit. Die Gefahren der Heimlichkeit liegen in Geheimverträgen und Geheimbündnissen und nicht in geheimgehaltenen Besprechungen. Es gibt keinen stichhaltigen Einwand gegen geheime Verhandlungen in Kommissionen, vorausgesetzt, daß das getroffene Abkommen und alle diesbezüglichen Beratungen dem Publikum am Schluß mitgeteilt werden.

Die mitgeteilten Entschließungen sind an sich wichtig genug, aber für alle, die den Weltfrieden erstreben, sind die Aussichten und Möglichkeiten, die sie eröffnen, weit wichtiger. Gewisse bemerkenswerte Präzedenzfälle sind geschaffen worden. Die vier Root-Resolutionen drücken sehr klar die Gedanken der Räumung und Aufgabe von Gebietsansprüchen aus, welche zu dem allgemeinen leitenden Grundsatz werden müssen zwischen mächtigen Staaten einerseits und politisch unruhigen oder geschwächten Staaten andrerseits, wenn der Weltfriede aufrechterhalten werden soll. Das ist die neue Richtung in der internationalen Politik. Es ist der Anfang des Endes alles asiatischen Imperialismus.

Nachdem sie sich zu dieser Resolution bekannt hatte, schritt die Konferenz zur Abstimmung über gewisse besondere Anwendungen. Die Aufhebung der Exterritorialität, das Recht Chinas, als neutrale Macht dem Schicksal Belgiens zu entgehen, und das Recht Chinas, von den Artikeln jedes auf sein eigenes Land bezüglichen Vertrages in Kenntnis gesetzt zu werden, wurden insoweit anerkannt und festgesetzt, als eine Resolution der Konferenz sie anerkennen und festsetzen konnte.

Dann kam der Senator Lodge, denn die vierte Plenarsitzung war ebensosehr der Tag Lodges, wie die vorhergehenden die Tage Hughes', Balfours und Briands gewesen waren. Vor fünfzehn Jahren, als ich in Washington war, zeigte mir Lodge eine Sammlung prähistorischer Dinge aus Zentralamerika und erklärte sie mir in sehr anregender Weise. Fünfzehn Jahre haben Washington sehr verändert, aber sie haben Lodge nicht verändert. Er schien mir nur etwas schlanker und noch soignierter zu sein als früher, aber das mag auf eine Veränderung in meinen eigenen Anschauungen zurückzuführen sein; und so entsprach es denn ganz jenem früheren Eindruck, den ich von ihm empfangen hatte, daß, als er den Vier-Mächte-Vertrag der Konferenz vorlegte, er diese Gelegenheit wahrnahm, sich und seine Hörer durch eine Vision zu erfreuen von den Wirklichkeiten des Stillen Ozeans, den mannigfachen Merkwürdigkeiten seiner zahllosen Inseln, der unendlichen Vielfältigkeit seiner Rassen, Sitten, Witterungsverhältnisse und atmosphärischen Besonderheiten.

Es war die merkwürdigste und anziehendste Phase einer durchweg interessanten Konferenz, als dieser grauhäuptige, kultivierte Herr all den abstrakten Jargon der Diplomatie und des Militarismus, alles Gerede über Mächte, Aktionsradien, Befestigungen, Einflußsphären usw. beiseite schob, um die physische Schönheit und die intellektuellen Reize dieses riesigen Gebietes der Weltoberfläche vor unseren Augen entstehen zu lassen, dieses Gebietes, das der Vier-Mächte-Vertrag vielleicht für jetzt und immerdar erretten kann aus der Angst vor den Schrecken des Krieges.

Dieser geplante Vier-Mächte-Vertrag, der nun seine unsichere, aber hoffnungsvolle Weltreise zur Ratifikation durch Senate, gesetzgebende Körperschaften und Regierungen antritt, ist seinem innersten Wesen nach eine Abkehr von der im 19. Jahrhundert traditionellen Art, Verträge zu schließen.

Er macht zum erstenmal den Versuch – wie soll ich sagen –, die amerikanische Methode oder die neue Methode auf die internationalen Angelegenheiten anzuwenden. Sein unterscheidendes Merkmal ist die Beteiligung zweier möglicherweise feindlichen Mächte: Amerikas und Japans. Anstatt einen Krieg zu führen, schließen sie einen Vertrag und berufen England und Frankreich zur Anteilnahme. Es ist ein Vertrag zum Frieden und nicht gegen einen Feind.

Ich meine, der Unterschied zwischen Verträgen für und Verträgen gegen ist einer, der unterstrichen werden muß. Der englisch-japanische Vertrag war ein Vertrag gegen – ein Vertrag erstens gegen Rußland, dann gegen Deutschland und dann gegen irgendeinen unbestimmten Angreifer. Es ist schon eine große Sache, daß Japan und England jetzt in herzlicher Übereinstimmung diesen Vertrag vernichten, damit der Vier-Mächte-Vertrag des neuen Geistes geboren werden kann.

Auf Lodge folgte Viviani mit einer sehr schönen, wenn auch vorsichtigen Rede. Viviani ist ein großer Redner, aber er ist nicht bloß beredt, und ich finde, daß die Menschen hier wenig von seiner wunderbaren Stimme oder deren hohen und tiefen Tönen oder seinem romantischen Zauber sprechen, aber sehr viel zu sagen haben über die klugen und feinen Dinge, die er geäußert hat. In einer Versammlung, in welcher die Aufmerksamkeit aufs äußerste gespannt ist, neigt man dazu, seine eigenen Gedanken und Erwartungen auf die Gesamtheit zu übertragen; aber es kommt mir vor, daß, als Viviani sich erhob, wir alle dachten: »Und bis wieweit und bis in welche Regionen der Welt bist du bereit, den Geist und die Methode dieses Stillen-Ozean-Bündnisses zu tragen? Es gibt noch einen etwas fadenscheinigen Vertrag ›gegen‹ oder der das ›gegen‹ wenigstens voraussetzt und als die englisch-französische Entente bekannt ist. Ist die Zeit schon gekommen, auch diesen in einem anderen und größeren Friedensbündnis aufgehen zu lassen?«

Ich weiß nicht, inwieweit die Frage, die mir im Kopf herumging, auch die Versammlung beschäftigte; ich finde jedenfalls, daß Viviani sehr deutlich gesagt hat, daß sie im Hintergrund seiner Betrachtungen lag. Es war der Zweck seiner Rede, die Einfachheit und Leichtigkeit des Stillen-Ozean-Problems in einen scharfen Kontrast zu der zerquälten Verworrenheit des atlantischen, des afrikanisch-europäischen zu bringen. Er sprach davon, daß die Gebiete des Stillen Ozeans frei wären von uralten Traditionen des Hasses. Er erinnerte uns an die zwanzig Jahrhunderte kriegsverwüsteter Grenzen, an Gewalttat über Gewalttat, von welchen Europa und Nordafrika noch die schlecht vernarbten und eiternden Wunden trügen.

Er beschwor keine Gespenster herauf. Er sagte nichts von dem Phantom der sieben Millionen Deutschen, die bereit wären, ihre versteckten Gewehre aus sieben Millionen Matratzen und Heuböden herauszuholen, um sich auf Frankreich zu stürzen, aber er gemahnte die Konferenz sehr ernst und klug an die relative Kompliziertheit des europäischen Problems, an die neuen und unerprobten Völker, die befreit worden sind, und an das ungeheure Erbe an Überlieferungen und Mißtrauen. Er wendete sich nicht nur an die Konferenz, sondern an die ungeduldigen liberalen Bestrebungen der ganzen Welt. »Ich bitte um Nachsicht,« sagte er, und er wiederholte noch einmal »ich bitte um Nachsicht.«

Das war wirklich eine große Rede, und Viviani ist ganz offenbar ein Franzose, mit dem wir in dem neuen Geist verhandeln können. Nachsicht könnte jetzt mit Fug und Recht als die Parole Europas gelten, und ich wünschte, Balfour hätte sich bewogen gefühlt, dem, was Viviani gesagt hat, mehr Anerkennung zu zollen. Balfour hat sich bei verschiedenen Gelegenheiten während dieser Konferenz so hervorragend bewährt, daß ich die Empfindung eines gewissen Unrechts ihm gegenüber habe, wenn ich jetzt sage, was gesagt werden muß: daß er mir zweimal an diesem Tag der vierten Plenarsitzung – einmal in der Konferenz und dann wieder am Abend, als er im Gridiron-Klub für die Alliierten antwortete – die Gelegenheit zu versäumen schien, dem liberalen Frankreich die Freundeshand zu bieten.

Mit dem reaktionären Frankreich, mit dem Frankreich der Unterseeboote und der Senegalesen und des geschwollenen Heeresbudgets kann weder Großbritannien noch Amerika etwas anfangen, und je öfter wir dies sagen und je deutlicher es gesagt wird, desto besser ist es für alle. Aber dem Frankreich, das Nachsicht predigen kann und bereit ist, sich an großen Bündnissen für die allgemeine Wohlfahrt zu beteiligen, dem sollten wir beide Hände entgegenstrecken.

Viel von der Bitterkeit, die Frankreich in letzter Zeit hervorrief, ist nicht die Bitterkeit irgendeines natürlichen Hasses. Es ist die Bitterkeit der tiefen Enttäuschung, daß Frankreich, der großherzige Vorkämpfer der Freiheit auf den amerikanischen und europäischen Festländern, nicht mehr der Vorkämpfer ist und sich um Freiheit und Gerechtigkeit nicht mehr zu kümmern scheint. Zweimal habe ich nun zusehen müssen, wie die Gelegenheit zur versöhnenden Tat vorüberging.

Früher oder später werden Frankreich und England zueinander sagen müssen: »Wir sind reizbar, krank, ermattet, mißtrauisch, engherzig gewesen. Wir wollen von diesem amerikanischen Vorhaben lernen und uns an die Beratung eines atlantischen Vertrags begeben, eines afrikanisch-europäischen Vertrags, der es wert ist, an die Seite dieses Stillen-Ozean-Vertrags gestellt zu werden.« Einmal muß es gesagt werden: Es war schade, daß Balfour nicht auf den Ton Vivianis einging und daß er nicht bei der vierten Plenarsitzung der Washingtoner Konferenz begann.


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