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XVIII.
Amerika und gefahrbringende Bündnisse

Washington, den 30. November

Die Kraft des amerikanischen Antriebs in der Richtung des Weltfriedens ist nicht zu leugnen. Er hat nacheinander den großen Traum eines Völkerbundes und jetzt den zweiten großen Traum eines sich allmählich entwickelnden Völkerverbandes hervorgebracht, der sich aus einer Reihe ähnlicher Konferenzen wie die gegenwärtige herauslösen sollte. Keine andere Nation hätte solche Hoffnungen wachrufen können, und kein anderes politisches System gibt die Bewegungsfreiheit, welche nötig ist, um diesem Plane den Gehalt und die Würde zu sichern, die der Initiative des staatlichen Oberhauptes angemessen sind.

Wenn dieser Plan sich aber in einer Welt der gegebenen Realitäten verwirklichen soll, wenn, etwa in einem Menschenalter, dieser herrliche Traum von einem Weltfrieden, der – wie es in einer friedlichen Welt heute der Fall sein müßte – von Errungenschaft zu Errungenschaft vorwärtsschritte, wenn dieser Traum verwirklicht werden soll, so müssen gewisse Eigentümlichkeiten des amerikanischen Volkes und der amerikanischen Lage in nicht allzu ferner Zeit ins Auge gefaßt werden. Alle derartigen Konferenzen und Versammlungen wie die gegenwärtige werden von einem sonderbaren, umnebelten Gespenst heimgesucht, welches »Takt« genannt wird; es versucht fortwährend, irgendeine sehr wesentliche und wichtige, aber etwas schwierige und unbequeme konkrete Wirklichkeit zuzudecken, zu verbergen und auszulöschen. »Takt« ist offenbar ein moderner Nachkomme des alten »Tabu«. Zum Beispiel sitzt unter den britischen Delegierten bei der Konferenz ein sehr liebenswürdiger indischer Herr. Der »Takt« fordert, daß niemand jemals ihn oder in seiner Gegenwart fragen sollte: »Was wird Ihrer Ansicht nach die Stellung Indiens in dem großen Weltbündnis nach etwa einem halben Jahrhundert sein? Wird es noch immer ein britisches Anhängsel sein?« Und der »Takt« bekommt Nervenzustände bei dem leisesten Flüstern des Wortes »Senegalesen« oder bei irgendeiner Frage nach der möglichen Verwendung der französischen Unterseeboote. Und eine dritte Frage, welche bisher durch den »Takt« unter den undurchdringlichsten Nebelschleiern verhüllt wurde und die ich jetzt kühnen Mutes selbst zu stellen gedenke, lautet: »Inwieweit ist Amerika wirklich bereit, irgendwelche großen Pläne für die dauernde Regelung der Weltangelegenheiten, welche diese Konferenz oder deren Nachfolgerin ausarbeiten könnte, festzuhalten und dauernd zu unterstützen?«

Neulich machte einer meiner Freunde in Neuyork mir gegenüber eine sehr weise Bemerkung. »Ich habe gefunden,« sagte er, »daß man nichts tun kann, ohne dafür zu zahlen. Ob man Gutes tut oder ob man Böses tut, man muß in gleicher Weise dafür zahlen. Wenn eine Mutter ihr Bestes an ihren Kindern tun will, so muß sie dafür zahlen durch die Aufgabe alles persönlichen Ehrgeizes, aller Träume von Schriftstellerei oder künstlerischer Betätigung während ihrer besten Lebensjahre. Wenn ein Mann sein Bestes in seinem Berufe tun will, muß er alle Träume von Reisen und Abenteuern opfern.« Und was auch immer Amerika in diesen nächsten Jahren aus sich selbst machen wird, es muß darauf vorbereitet sein, dafür zu zahlen.

Wenn es sich entscheidet für Isolierung, moralische Überspannung, Verantwortungslosigkeit und Selbstzufriedenheit: »Amerika den Amerikanern, ganz gleich, welches die Konsequenzen sein können«, so muß es darauf vorbereitet sein, den Niedergang und das Ende der weißen Kultur in Europa und die Vorherrschaft eines ihm seinem innersten Wesen nach feindseligen Systems jenseits des Stillen Ozeans zu erleben. Wenn es andererseits jetzt, wozu es sehr zu neigen scheint, als Führer und Helfer der weißen Kultur die Aufgabe in Angriff nimmt, den dauernden Frieden der Welt auf der Grundlage des Kultursystems, dem es selbst angehört, zu organisieren, so wird auch für dieses stolzere Amt ein Preis gezahlt werden müssen. Amerika darf nicht nur die Würde der Führerrolle annehmen, es muß auch die Verantwortung dieser Führerrolle auf »sich nehmen. Es darf nicht nur edlen Empfindungen Ausdruck verleihen, sondern es muß auch die Schwierigkeiten und die konkreten Fragen des Problems anpacken, das vor ihm liegt; es darf nicht bloß kritisieren, es muß auch überlegen, teilnehmen, helfen, es muß Entscheidungen treffen und an diesen festhalten.

Wenn Amerika erst einmal wirklich einen Entschluß gefaßt hat, so hält es daran fest – und zwar kräftig. Die Monroe-Doktrin war ein derartiger Entschluß. Er hat Südamerika den Südamerikanern gerettet, er hat Europa vor einer verhängnisvollen Rauferei um die spanische Erbschaft bewahrt, er war die erste große Tat der Amerikaner auf dem Gebiete der Weltpolitik. Ich weiß wohl, daß die Verteidiger des »Taktes« empört sein werden, wenn ich daran erinnere, daß während langer Zeit die stillschweigende Zustimmung der Briten und das Vorhandensein der britischen Flotte der Monroe-Doktrin Schutz und Schirm gewährten, und wenn ich weiter daran erinnere, daß der einzige ernsthafte Angriff, der auf sie gerichtet wurde, von Napoleon III. ausging, während des amerikanischen Bürgerkrieges, zu welcher Zeit, wie ich allerdings zugeben muß, die Haltung Großbritanniens gegenüber den uneinigen Staaten auch keineswegs unanfechtbar war. Aber ob sie nun unterstützt oder angegriffen wurde, die Monroe-Doktrin bewährte sich.

Die Washingtoner Konferenz ist in bezug auf die Stille-Ozean-Frage in eine Lage geraten, die einen amerikanischen Entschluß von gleicher Energie fordert. Es ist klar wie der Tag, daß die liberalen Tendenzen in Japan unterstützt werden können und daß der aggressive Ehrgeiz des japanischen Imperialismus gehemmt werden kann, daß China für die Chinesen gerettet werden und Ostsibirien vor fremder Eroberung beschützt werden kann, vorausgesetzt, daß sich Amerika unzweideutig mit Großbritannien und Frankreich verbündet, um ein bestimmtes System von Garantien und Verboten in Ostasien einzuführen und durchzusetzen. Das englisch-japanische Abkommen könnte zugunsten eines solchen neuen Friedenspaktes aufgehoben werden und es könnte ein Riesenschritt vorwärts getan werden zum Weltfrieden. Es würde ein Markstein sein in der Weltstaatskunst.

Aber dies bedeutet ein Abkommen mit der bindenden Kraft eines Vertrages. Eine bloße präsidentielle Erklärung, die irgendein späterer Präsident beiseite schieben könnte oder irgendein neugewählter Senat ablehnen dürfte, genügt nicht. Wenn der Leser sich die Lage Australiens und der britischen Niederlassungen in Ostasien überlegt, so wird er begreifen, warum dies nicht genügt. Großbritannien ist nicht mächtig genug, um Gefahr zu laufen, daß es allein bleibe als ritterlicher Beschützer eines schwachen, wenn auch neu aufblühenden Chinas. Es muß seine eigenen Volksangehörigen in Australien berücksichtigen. Außerdem England allein – als Schutzherr von China – nach allem, was früher geschehen ist ...? Britannien braucht eine moralische so gut wie eine praktische Unterstützung, um die neue Eintracht aufrechtzuerhalten.

Es gibt ganz einfach in der Stillen-Ozean-Frage nur drei Wege, die der Welt offen stehen – entweder die unbeanstandete Herrschaft der Japaner in Ostasien von jetzt ab oder ein baldiger Krieg, um sie zu verhindern, oder ein Bündnis Amerikas, Großbritanniens und Japans mit derjenigen Regierung, welche China bis dahin eingesetzt haben wird, und mit den anderen beteiligten, wenn auch vielleicht weniger unmittelbar beteiligten Mächten – ein Bündnis aller dieser zu gegenseitiger Hemmung und zum gegenseitigen Schutz. Es ist eine ebenso klare Tatsache, wenngleich der »Takt« sofort »Sst« macht, daß die hundertjährige Tradition Amerikas, die noch in der Weigerung, sich an dem Völkerbunde zu beteiligen, aufrechterhalten wurde, einem solchen Bündnis widerstrebt.

George Washingtons Rat an seine Landsleute, »dauernde Bündnisse« zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Mächte und zu ähnlichen Zwecken zu vermeiden, und Jeffersons wiederholte Mahnung an seine Landsleute, »gefahrbringende Bündnisse« zu vermeiden, sind zu lange als Weisungen gedeutet worden, jede Art von Bündnissen zu vermeiden, ob es nun ein gefahrbringendes oder ein förderndes Bündnis ist. Die Gewohnheit, eine Beteiligung an »Plänen zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts« zu vermeiden, hat sich erweitert zu einer allgemeinen Gewohnheit der Nichtbeteiligung. Aber Bündnisse, die nicht gegen einen gemeinsamen Feind, sondern zu einem gemeinsamen Zwecke geschlossen werden, waren doch wohl nicht in George Washingtons Warnung einbegriffen.

Wie dem auch sei, ich sehe nicht ein, wie die Abrüstungsanträge des Staatssekretärs Hughes überhaupt angenommen werden können, ohne daß ein endgültiges Abkommen in der Stillen-Ozean-Frage getroffen worden ist, noch wie dieses Abkommen aufrechterhalten werden soll, außer durch irgendeine Art von Bündnis, dessen Teilnehmer sich periodisch zu Konferenzen versammeln, um die Anwendung oder Anpassung des getroffenen Abkommens auf besondere, sich ergebende Fragen zu vereinbaren. Wenn Amerika nicht bereit ist, soweit zu gehen, dann verstehe ich die Begeisterung Amerikas für die Washingtoner Konferenz nicht. Ich verstehe die Geistesrichtung nicht, die eine Weltabrüstung ins Auge fassen kann, ohne auch nur diese Vorkehrungen zur Verhinderung künftiger Konflikte zu treffen.

Ebenso sehe ich nicht ein, wie irgendeine wirksame Abrüstung in Europa oder irgendeine Behandlung der dortigen wirtschaftlichen und finanziellen Lage möglich sein soll, wenn Amerika nicht bereit ist, sich an einem Bündnis zu gegenseitigem Schutz und gegenseitiger Hilfeleistung, wenigstens mit Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien, zu beteiligen. Zu dessen Aufrechterhaltung wäre dann eine gleiche Reihe von Konferenzen und Einrichtungen nötig.

Hinter der französischen Weigerung, abzurüsten, verbirgt sich die unausgesprochene Forderung eines Schutzbündnisses. Das ist eine durchaus vernünftige Forderung. Die Gestalt des Bündnisses, welches die Franzosen bisher gefordert haben, ist ein gefahrbringendes Bündnis, ein Bündnis Amerikas und Englands und Frankreichs mindestens gegen Deutschland und Rußland. Das notwendige Bündnis, dem Frankreich und England demnächst beistimmen werden und in dem Amerika auch einmal den einzigen Weg zu seinen Friedenszielen erkennen wird, wird sich gegen niemand richten, es ist ein Bündnis von durchaus wohltätigem Charakter, ein Bündnis, das nicht Gefahr bringt, sondern befreit.

Die Neigung der europäischen Delegationen und der britischen und auswärtigen Journalisten in Washington, den Gedanken, daß Amerika sich an Bündnisverträgen beteiligen könne, als außerhalb der Grenzen des Möglichen liegend zu behandeln, als einen Gedanken, der »Tabu« ist, scheint mir ein sehr verhängnisvoller Fehler zu sein. Es ist »Takt« in seiner extremsten Form. Ich habe von dem »ungeheuren Beharrungsvermögen« politischer Dogmen reden hören, die sich hundert Jahre lang gehalten hätten. Anstatt »ungeheures Beharrungsvermögen« möchte ich lieber schreiben »erlahmende Triebkraft«. Die Politik der Nichteinmischung in Dinge, die außerhalb Amerikas liegen, war zweifellos eine vortreffliche für eine junge Republik im Zustande der Selbstverteidigung; sie ist eine Politik, die einer Republik, die sich zum herrschenden Staat der Welt aufgeschwungen hat, durchaus unwürdig ist.


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